Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

3–22

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Pfleiderer, Georg

Titel/Untertitel:

Theologie im Fachmenschenzeitalter. Eine Erinnerung an Emil Schürer*

1. ,Ein Lexikon’?

Der theologischen Welt ist Emil Schürer1 als erster und langjähriger Herausgeber der Theologischen Literaturzeitung2 bekannt sowie als Verfasser der dreibändigen "Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi"3. In beiden Funktionen hat Schürer eine weit über seine eigene Generation hinausreichende Nachwirkung, die bis heute anhält. "Wer sich mit dem Neuen Testamente beschäftigt, der weiß, daß er eine ganze Disziplin in dieser Wissenschaft begründet und in seinem Werke, das in Aller Händen ist, ein Lehrbuch geschaffen hat, das noch Jahrzehnte hindurch unentbehrlich und unersetzlich sein wird."4 Das im Nachruf auf den 1910 verstorbenen Emil Schürer zu findende Testat aus der berufenen Feder Adolf v. Harnacks, der ein langjähriger Freund Emil Schürers und Mitherausgeber der Theologischen Literaturzeitung war, ist durch die Wirkungsgeschichte des Werkes eindrucksvoll bestätigt worden. Diese ist durch die vor einigen Jahren erfolgte englische Neubearbeitung 5 nicht beendet, sondern in gewisser Weise für "ein zweites Jahrhundert seiner Wirkungsgeschichte"6 fortgeschrieben worden. Ähnliches ließe sich mutatis mutandis auch für das andere Lebenswerk Emil Schürers, die Theologische Literaturzeitung, sagen. Beides ist Grund genug, im Übergangsjahr in das neue Jahrhundert, in dem zugleich die Zeitschrift ihr 125-jähriges Jubiläum feiert, an den Urheber der beiden wissenschaftlichen Großleistungen zu erinnern.

Das gilt umso mehr, als Emil Schürer, wiewohl er als Fachgelehrter und Herausgeber zu den wirkmächtigsten Theologen seiner Generation gehört, als theologischer Autor heute "fast vergessen"7 ist. Diese Vergessenheit, die Schürer als Theologen widerfährt, könnte allerdings einen plausiblen Grund haben, nämlich den einer doch eher mäßigen theologischen Originalität.8 Neuere Forschungen insbesondere zu Schürers Hauptwerk zeigen, dass dieses zwar in seiner historischen Sammel- und Ordnungsleistung bahnbrechend gewirkt hat und noch heute kartographisch wirkt. Das methodische Innovationspotential und die Deutungsleistungen des Werks und Schürers theologischer Lebensarbeit insgesamt werden aber im allgemeinen eher zurückhaltend eingestuft. In seinen systematischen Grundentscheidungen vertritt Schürer, von R. Rothe und F. Schleiermacher her kommend, einen mäßig elaborierten Ritschlianismus, der sich um die Jahrhundertwende an W. Herrmann anlehnt.9 Kategoriale Grundbegriffe auf dem für sein theologisches Programm zentralen Gebiet der Pharisäer- und Sadduzäerforschung hat Schürer von Abraham Geiger und Julius Wellhausen übernommen.10 Dass er gerade, was das Pharisäerbild in der christlichen und auch in der jüdischen Forschung der Jahrzehnte nach ihm angeht, stark gewirkt hat, hängt mit dem kanonischen Ansehen, das seinem Werk als Ganzem zuteil geworden ist, zusammen11 und wohl auch damit, dass Schürer etwa im Hinblick auf das Verhältnis von Pharisäern und Judentum insgesamt eher vereinfachende und darin griffige Schablonisierungen produziert hat.12

Sodann ist die wirkungsgeschichtliche Potenz von Schürers Forschungsleistung, zumindest was das Neue Testament und sein Verhältnis zur nachalttestamentlichen jüdischen Religionsgeschichte betrifft, durch den Innovationsschub, der sich mit dem Auftreten der Religionsgeschichtlichen Schule ereignet, besonders stark betroffen. Es sind die bahnbrechenden Arbeiten von Wilhelm Bousset, Hermann Gunkel, Johannes Weiß oder auch William Wrede, welche das Methodenbewusstsein der älteren Generation auf diesem Gebiet als geradezu vormodern erscheinen lassen können. Folgt man etwa M. Murrmann-Kahl, dann geschieht mit dem Auftreten der Religionsgeschichtler ein fundamentaler Wechsel des wissenschaftstheoretischen, historischen Paradigmas in der theologischen Exegese.13 Erstmals hier werde mit der modernen methodologischen Perspektiventrennung von Genesis und Geltung, wie sie exemplarisch und prinzipiell von Max Weber in seinem berühmten Objektivitätsaufsatz von 1904 ausgearbeitet worden sei,14 exegetisch Ernst gemacht. Die Religionsgeschichtler hätten erkannt, dass sich aus prinzipiellen Gründen auf dem Weg historischer Forschung theologische Geltungsinteressen nicht mehr einholen ließen. Das ist bei Schürer in der Tat noch anders. Für ihn ist das Messiasbewusstsein des historischen Jesus noch keine Black-Box, sondern dessen Inhalt und seine religions- und weltgeschichtliche Absolutstellung sind wissenschaftlich eruierbar, wenn auch gerade nicht erklärbar.15 Zwar wird man, was die Arbeiten der Religionsgeschichtler im Einzelnen angeht, über den Grad der Reflektiertheit ihres Methodenbewusstseins und ihrer Konstruktionsinteressen geteilter Meinung sein können.16 Unverkennbar ist jedoch, dass die historische Arbeit der älteren Generation von den Religionsgeschichtlern als Datenspeicher benutzt wird, den sie mit ihren Mitteln neu kodieren.17 Das ließe sich etwa deutlich machen am Verhältnis von Wilhelm Boussets Werk "Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter" zu Schürers "Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi". Ausdrücklich erklärt Bousset: "Ich brauche kaum hervorzuheben, wie viel der vorliegende Versuch diesem Werk verdankt, und wie sehr er in allem mit dem von Schürer mit bewundernswerter Umsicht zusammengetragenen Material weiterbaut."18 - Kurzum: Man könnte fragen, ob die wirkungsgeschichtliche Bedeutung Emil Schürers sich nicht mit dem auf Adolf v. Harnack bezogenen bösen Wort des Proto-Religionsgeschichtlers Franz Overbeck zusammenfassen ließe: ,Emil Schürer - ein Lexikon’?19

Im Folgenden soll dem nicht unbedingt widersprochen werden. Aber es soll dafür plädiert werden, die eigentümliche Modernisierungsleistung wahrzunehmen, die sich hinter dem solchermaßen spitz Beschriebenen verbirgt. Beide Gelehrtengenerationen, die Religionsgeschichtler so gut wie die Generation Harnacks, Schürers und Wellhausens, waren Kinder ihrer Zeit. Die sozialen Zerklüftungserfahrungen der Kaiserreichsgesellschaft um die Jahrhundertwende bilden den Hintergrund für die soziologische Sensibilität der Religionsgeschichtler. Die politischen und ökonomischen Erfahrungen des aufstrebenden Kaiserreichs, insbesondere der Gründerzeit, stehen hinter den Innovationsleistungen der Generation Emil Schürers.

Orientiert man sich an E. Schürer, dann könnte man die historische Leistung seiner Gelehrtengeneration darin sehen, dass sie es war, die erstmals die Prinzipien des modernen theologischen, fachgelehrten Wissenschaftsbetriebs und des davon bestimmten Gesellschaftsverständnisses formuliert, zur Darstellung gebracht und vor allem institutionalisiert hat.20 Nicht zuletzt in seiner relativen Unoriginalität wäre Emil Schürer ein geradezu idealtypisches und darin besonders originelles Beispiel für den modernisierungsgeschichtlichen Ort und Stellenwert seiner theologischen Gelehrtengeneration. Die wirkungsgeschichtliche Anonymisierung Schürers zum ,Schürer’ (und zur
ThLZ) hätte, so gesehen, ein hohes sachliches Recht; und sie läge in der Intention ihres Autors: Sie wäre sein wissenschaftstheoretisches und zugleich religiös-theologisches Programm.

2. Unternehmergeist

"Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz"21 - die apokalyptische Befürchtung Max Webers, die Tresortür des kruppstahlharten Gehäuses der modernen kapitalistisch-bürokratischen Großmaschine könnte ins Schloss schnappen und die individuellen Persönlichkeiten bei lebendigem Leib einsargen,22 scheint bei Emil Schürer und seiner in den vierziger und frühen fünfziger Jahren geborenen Generation noch nicht präsent zu sein.23 Im Folgenden möchte ich am Beispiel E. Schürers zeigen, dass dieser Schein in gewisser Weise trügt. Zwar ist anders als bei M. Weber ein mögliches Scheitern des Projekts der Moderne bei Schürer in der Tat noch nicht ausdrücklich in Sicht; aber die Problemstellung als solche wird von ihm durchaus ähnlich gesehen wie bei jenem. Sie wird jedoch - verhältnismäßig unbekümmert - als lösbare Aufgabe begriffen und in Angriff genommen. Für E. Schürer gilt es, Theologie und Religion dadurch zu modernisieren, dass sie mit den Mitteln einer wissenschaftlich-technischen, näherhin einer empirisch-historischen Vernunft neu organisiert und begründet werden. Und diese Arbeit zielt darauf, das Christentum im Zentrum, im Arkanum der modernen technisch-historischen Rationalität und ihrer Institutionalisierung im bürokratisch organisierten Nationalstaat, zu verorten, nämlich als deren individuelle Personalität generierenden Geltungskern.24 Dazu ist es aber nötig, das Christentum auf dem Boden der historischen Vernunft als die an dieselbe optimal angepasste Religion, mithin als die absolute positive Religion zu erweisen, die in sich das Prinzip innovativ-geschichtlichen Fortschritts birgt.25

In dieser apologetischen Perspektive hat Schürer seine fachgelehrte Arbeit insbesondere an der Geschichte des Judentums betrieben. Im Zusammenspiel von empirisch-wissenschaftlichem Geltungsnachweis und faktischer individueller Geltungsanerkennung soll sich diejenige Grundgewissheit einstellen, die ihrerseits die Bedingung der Möglichkeit eines sittlichen, kulturaufgeschlossenen Lebens ist, das in der permanenten Entäußerung des Individuums an die ausdifferenzierte, wissenschaftlich-rationale Fachmenschen-Arbeitswelt des bürokratischen Nationalstaates nicht Selbstverlust, sondern Selbstgewinn zu sehen vermag. In dieser ritschlianisch-technischen Modifizierung hat Schürer das idealistische Erbe seines Lehrers Richard Rothe umzusetzen versucht.



Um dies zu zeigen, sollen im Folgenden die wesentlichen Aspekte von Schürers ,Fachmenschenarbeit’ und das damit verbundene theologische Interesse rekonstruiert werden. Um deren Signatur sichtbar zu machen, soll mit deren gleichsam technischen Aspekten begonnen und dann zu den inhaltlichen übergegangen werden.

3. Gründerzeit

In seiner systematisch-theologischen Frühschrift, der philosophischen Dissertation über "Schleiermachers Religionsbegriff und die philosophischen Voraussetzungen desselben"26 hat Schürer die postidealistischen Koordinaten seines theologischen Denkens allererst angedeutet. Hier belässt er es im Wesentlichen bei einer Nachzeichnung von Schleiermachers idealistischem Vernunft- und Religionsbegriff, wie dieser sie insbesondere in der Dialektik entwickelt. Die Kritik, die Schürer Schleiermacher angedeihen lässt, bezieht sich nicht auf die idealistischen Voraussetzungen von dessen Denken, sondern auf dessen insbesondere in der Glaubenslehre unternommenen Versuch, mit seinen vernunfttheoretischen Mitteln zur Begründung der Universalgeltung des Christentums zu gelangen. Diese Begründung sei jedoch, so argumentiert Schürer, unter den idealistischen Theoriebedingungen Schleiermachers nicht zu erreichen; sie verdanke sich vielmehr tatsächlich der religiösen Überzeugung des Autors.27 Schürers Kritik an Schleiermacher trägt, wie man sieht, selbst schon die Züge einer empirisch-pragmatischen Vernunft, welche sich auf Letztbegründungsfragen gar nicht mehr einlässt, sondern Systementwürfe an ihren praktischen Folgen misst.28

Es entspricht dem methodisch-technischen Charakter von Schürers Wissenschaftsverständnis, dass die Gründung einer neuen theologischen Zeitschrift, und näherhin eines kritischen Rezensionsorgans, am programmatischen Anfang seiner akademischen Karriere steht; schon rund fünf Jahre nach der Erledigung seiner akademischen Qualifikationsarbeiten nimmt er sie in Angriff. Die Institutionalisierung eines solchen Organs soll ein Instrument sein, um die stets perspektivische Positionalität von theologischen Systementwürfen hinter sich zu lassen.

Dieser wissenschaftsstrategische Zweck erhellt aus dem "Vorläufige[n] Prospect", den Schürer im Sommer 1875 verschiedenen Schreiben an Fachgelehrte mit der Bitte um Mitarbeit beilegt:29 "Die Theologische Literaturzeitung soll so viel als möglich allen Kreisen der protestantischen Theologie Deutschlands dienen. Keine Richtung wird principiell von der Mitarbeit ausgeschlossen sein. Die Beurtheilung der literarischen Neuerscheinungen soll möglichst sachlich gehalten sein, nur die wissenschaftliche Tüchtigkeit, nicht den Parteistandpunkt ins Auge fassend. Indem aber so die Redaction sich bestreben wird, Allen gerecht zu werden, hofft sie doch zugleich dem Blatte eine einheitliche, charaktervolle Haltung wahren zu können ... Die Besprechungen sollen sich über sämmtliche Erzeugnisse der wissenschaftlichen Theologie Deutschlands erstrecken. Die Erbauungsliteratur soll wenigstens in einer Auswahl berücksichtigt werden; ebenso in Auswahl auch die Grenzgebiete der Theologie. Ein besonderes Augenmerk wird die Redaction darauf richten, auch über die wichtigere theologische Literatur des Auslandes möglichst vollständig Bericht erstatten zu können."

Getragen und zusammengehalten wird das Projekt vom normativen Begriff der Theologie als einer empirisch-historischen Wissenschaft, die auf philosophische oder theologisch-dogmatische Letztbegründungen, damit auch auf alle (positiv begründete) konfessionell-kirchliche Anbindung verzichtend rein methodenrational strukturiert sein soll und darin einen überpositionellen Objektivitätsanspruch erhebt, der auf der Kontrollierbarkeit seiner Ergebnisse beruht. Dieses Objektivitätsideal erzeugt einen hohen Homogenitätsdruck, dem Schürer auf eine eigentümlich technische Weise, nämlich über permanente Trennschärfenbestimmungen, zu entsprechen sucht.

Geltungskriterium von Produkten, die auf solchem methodenrationalen Weg gewonnen sind, ist ausschließlich ihr wissenschaftlicher Innovationswert. Das Wissenschaftsethos ist diesem zweckrationalen Prinzip, wie sich etwa am Umgang mit Plagiaten zeigt, eingeordnet.30 Es basiert mithin auf einer Kosten-Nutzen-Kalkulation, die den getriebenen Aufwand ins Verhältnis zum erreichten Ergebnis setzt.31 Diese Effizienzkontrolle kann auch den direkt ökonomischen Sinn des Verbraucherschutzes bekommen, wenn der Rezensent auf ,Mogelpackungen’ hinweist, etwa auf angebliche Neubearbeitungen älterer Auflagen.32 Zum ökonomischen Moment der Effizienzkontrolle gehören ferner Hinweise auf die drucktechnische Ausstattung der Bände und das Preis-Leistungs-Verhältnis. Und die Rezension erstreckt sich auch auf die stilistische und sprachliche Gestaltung der wissenschaftlichen Werke.33

Einen zentralen Aspekt im Projekt-Prospekt bildet der Gesichtspunkt der umfassenden Erfassung aller Neuerscheinungen oder "sämmtliche[r] Erzeugnisse der wissenschaftlichen Theologie Deutschlands", wie der nicht umsonst ökonomisch konnotierte Ausdruck lautet. Mit dem regionalen Ausscheidungskriterium wird seinerseits Kosten-Nutzen-reflektiert umgegangen; über Randgebiete der Theologie und von den wichtigsten Erscheinungen des Auslands soll in Auswahl berichtet werden. Das hat Schürer auch getan und tun lassen. Er selbst rezensiert immer wieder Werke aus England, Frankreich, Holland, Schweden oder auch beispielsweise Griechenland.34 Insbesondere über den englischsprachigen theologischen Buchmarkt hält er seine Leser auf dem Laufenden.35 Kurzum: Das Programm der Theologischen Literaturzeitung, dem seine Durchführung über Jahre zuverlässig und exakt entspricht, ist das Programm eines Organs - besser gesagt: eines Apparats - der umfassenden wissenschaftlichen Qualitätskontrolle und damit zugleich der Produktionsnormierung. So gesehen ist die Gründung der Theologischen Literaturzeitung nichts anderes als ein auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Theologie platziertes funktionsäquivalentes Seitenstück zur Einführung der Deutschen Industrie Normen-"DIN".36

Das Gütesiegel, das die ThLZ vergibt, ist ein qualifiziertes "Made in Germany". Auf dem Gebiet der Theologie ist Deutschland Weltmarktführer; und die ThLZ soll mit dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Darum prüft der deutsche Prüfungsingenieur bei seinen Rezensionen ausländischer Werke sorgfältig, inwieweit sie den Qualitätsanforderungen deutscher theologischer Wertarbeit zu entsprechen vermögen, sprich: sich auf dem aktuellen Stand des deutschen Fachdiskurses bewegen.37 Dass das deutsche Prüfungsverfahren selbst zum Exportschlager werden kann, zeigt sich etwa 1891 bei der Gründung von "The Critical Review of Theological and Philosophical Literature" in England, die sich, wie es in ihrem von Schürer gerne notierten Vorwort heißt, orientiert an "the value of such organs as Harnack’s and Schürer’s Theologische Literaturzeitung, Lipsius’s Theologischer Jahresbericht, and others of kindred order"38

Die intendierte Methodenrationalität des Wissenschaftsbegriffs, von dem sich der Herausgeber und Chefrezensent der ThLZ leiten lässt, geht, wie sich hier abzeichnet, mit einer hohen Erwartung an dessen innere Homogenität und äußere Trennschärfe einher. Diesem Doppelpostulat muss in der praktischen Rezensionsarbeit permanent Plausibilität verschafft werden. Die Späne, die bei dieser Präzisionsschleifarbeit fallen, werden mit den Verdikten "kirchlicher", "konservativer", "erbaulicher" oder allzu "phantasievoller" Theologie versehen. Gerade in den Anfangsjahren führt Schürer heftige Auseinandersetzungen mit ,konservativen’ Autoren, die er aber auf rein methodenrationalem Weg auszutragen sucht.38 Schürers meist sehr sachlich geführte Auseinandersetzungen mit Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule sind ebenfalls von seinem Interesse an durchsichtiger Methodenrationalität bestimmt.40 Aber natürlich betreibt er dabei auch Theologiepolitik, die schon mit der Auswahl der rezensierten Werke und der Rezensenten beginnt.41

Schürers Interesse an einer Trennschärfe zwischen wissenschaftlicher und "populärer" Theologie zeigt sich daran, dass die Kennzeichnung eines Werks als "eigenthümliche[n] Zwitterding[s] zwischen populärer und wissenschaftlicher Behandlung"42 nachgerade zu den Standardformeln des theologischen Prüfungsingenieurs gehört.43

Damit verbindet sich jedoch umgekehrt auch eine besondere Aufmerksamkeit auf die Aufgabe der Popularisierung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Sie spricht bereits aus dem programmatischen Prospekt. Darum kann Schürer die Intensität, mit der das Genre populärer wissenschaftlicher Theologie gerade von der Religionsgeschichtlichen Schule und ihrem Hausverleger Georg Siebeck entwickelt und gepflegt worden ist, mit großer Zustimmung zur Kenntnis nehmen.44 Auf diese Weise werde eine alte Forderung liberaler Theologie, näherhin Richard Rothes, endlich eingelöst.45

Das Problem der Differenz zwischen ihrem wissenschaftlichen Objektivitäts- und darin Universalitätsanspruch und ihrer faktischen Positionalität als Vertreterin wissenschaftlich-liberaler - im Unterschied zu konservativ-konfessioneller und/oder kirchlich-erbaulicher - Theologie ist der ThLZ, wie schon der zitierte Programmprospekt zeigt, von Anfang an eingestiftet.46 Das ändert jedoch nichts daran, dass Schürer vor und - so weit man sehen kann - auch hinter den Kulissen47 das Seine getan hat, um die ThLZ als ein Forum wissenschaftlicher Diskursrationalität zu profilieren und zu inszenieren.48 Die leitende Intention dieses Programms und seiner Durchführung ist erkennbar diejenige, die theologische Wissenschaft in Deutschland mit den Bedingungen des nach der Reichsgründung im rapiden Aufstreben begriffenen ,Industriestandorts Deutschland’ kompatibel zu machen und damit dem Eindruck eines möglichen Atavismus der Theologie gegenzusteuern.49 Die gleichsam technisch-kasuistische Umsetzung des Homogenitätsideals, welche Schürers Wissenschaftsbegriff kennzeichnet, lässt sich nun auch als Verfahrensprinzip seiner fachwissenschaftlichen Arbeit als neutestamentlicher Theologe erkennen.

4. Fachmenschenarbeit

Schürer bestimmt Theologie einmal en passant als "Vereinigung der auf das Christentum Bezug habenden Wissenschaften"50. Zu welchen Präzisionsleistungen an Fachgelehrsamkeit die Aufgabe der trennscharfen Bestimmung des Theologiebegriffs den Gelehrteningenieur herausfordert, zeigt exemplarisch ein im Gründungsjahr der ThLZ veröffentlichter Aufsatz Schürers über "Die Alabarchen in Aegypten".51 Die fast dreißigseitige gelehrte Detailstudie dient dem Zweck des Nachweises, dass jene antiken Verwaltungsbeamte, "die Alabarchen [,] mit der Theologie nichts zu thun"52 hätten, weil der Alabarch eben nicht qua Amt "der Vorsteher der alexandrinischen Judenschaft gewesen sei".53 Um diese "noch immer in theologischen Büchern wie eine ewige Krankheit [sich forterbende] Behauptung" auszumerzen, schreibt Schürer seinen Aufsatz und veröffentlicht ihn in einer theologischen Zeitschrift.

Die kleine Stichprobe ist von einigem Aussagewert für Schürers Theologieverständnis. In ihr deutet sich nämlich mit geradezu exemplarischer Prägnanz an, wie das Interesse an formal-technischer Trennschärfenbestimmung eines in sich homogenen fachwissenschaftlichen Spezialgebiets - eben der Theologie - nun auch die innere Systematik des Fachgebiets, also den Theologiebegriff selbst, bestimmt.

Schürer stellt nämlich in seiner minutiösen Studie fest, dass unter den Alabarchen, bei denen es sich um in der Regel begüterte regionale Finanz-Beamte, nämlich "grosse ... Zoll-Einnehmer"54, gehandelt habe, mitunter durchaus auch Juden gewesen seien. Aber das Amt als solches habe mit dem Amt des Leiters der jüdischen Gemeinde in Alexandria nichts zu tun; der Alabarch sei also nicht von Amts wegen "jüdischer Beamter"55 gewesen. Das Differenzkriterium für die ,Theologizität’ der Fragestellung ist für Schürer also offensichtlich die institutionelle im Unterschied zu einer bloß kontingent personellen Zugehörigkeit des Amtes zur jüdischen und damit, wie er hier stillschweigend voraussetzt, indirekt zur christlichen Geschichte. Diese ist für ihn, wie es scheint, als solche, nämlich als Geschichte der politisch-religiösen Institutionen des Judentums, zumindest aus bzw. bis zum Entstehungskontext des Christentums insgesamt ein Bestandteil des Fachgebiets der Theologie.

Das Alabarchenbeispiel erhellt schlaglichtartig die eigentümlich disproportionale Spannungseinheit, die bei Schürer im Hinblick auf sein normatives theologisches Interesse an einem homogenen und gleichsam geschichtlich-objektivierten Theologie- (und Christentums-)begriff auf der einen Seite und der Indirektheit von dessen materialer Ausarbeitung an der antik-jüdischen ,Real’-Geschichte56 - das heißt vor allem: an der politisch-institutionellen Geschichte des antiken Judentums - auf der anderen Seite zu walten scheint. Diese Beobachtung lässt sich schon durch einen Blick auf die quantitativen Verhältnisse von Schürers publiziertem fachwissenschaftlichem uvre erhärten.

Das Corpus dieses uvres bildet die zweimal überarbeitete, am Ende drei- bzw. vierbändige "Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi". Diesem thematisch an die Seite zu stellen ist eine Anzahl kleinerer historischer Studien, wie jener über die "Alabarchen", die sich mit einzelnen historischen Detailproblemen beschäftigen, die entweder außerhalb der Thematik des Hauptwerks liegen oder dessen Stoffverteilung ins Ungleichgewicht gebracht hätten. Auf dem Gebiet des Neuen Testaments selbst hat Schürer nur ganz wenige kurze Arbeiten verfasst bzw. in den Druck gebracht. Und diese widmen sich nahezu ausschließlich dem gleichsam innersten Kreis der Entstehungsgeschichte des Christentums. Die meisten von ihnen, nämlich drei Aufsätze, die jeweils aus öffentlichen Vorträgen vor nichtfachwissenschaftlichen Auditorien hervorgegangen sind, haben ein unmittelbar christologisches Thema. Es sind dies die Arbeiten: "Die Predigt Jesu Christi in ihrem Verhältnis zum Alten Testament und zum Judenthum"57 (1882), sodann "Das Wesen der christlichen Offenbarung nach dem Neuen Testament"58 (1899), und schließlich: "Das messianische Selbstbewusstsein Jesu Christi"59 (1903). Nicht mehr veröffentlichen konnte Schürer das Manuskript einer aus dem Lehrbetrieb erwachsenen Theologie des Neuen Testaments. Es hat bei seinem Tod offenbar in einer annähernd druckfertigen Fassung existiert.60

Schon von seinem Erscheinungsbild her zeigt das fachwissenschaftliche uvre Emil Schürers eine eigentümliche Disproportionalität. Die unmittelbar neutestamentlichen Arbeiten sind gegenüber denjenigen, welche Randgebiete - und zwar ganz bestimmte ,real’-geschichtliche Randgebiete durchmessen, erstens bei weitem untergewichtet. Zweitens sind die genuin neutestamentlichen Arbeiten in nachgerade diametralem Gegensatz zu den Judaica nicht auf die politische und literarische ,Real’-Geschichte, sondern auf die Theologie des Neuen Testaments und näherhin in hohem Maße auf die Lehre Jesu zentriert.61 Und drittens handelt es sich, zumindest was die publizierten Arbeiten angeht, bei diesen ,unmittelbar’ theologisch-normativen Texten zu allermeist um Gelegenheitschriften, die aus Vorträgen vor einem nichtfachgelehrtem Publikum hervorgegangen sind. Sie stellen in formaler Hinsicht "eigenthümliche Zwitterding[e] zwischen populärer und wissenschaftlicher Behandlung"62 dar. Die wissenschaftliche Explikation der hinter der historischen Alltagsarbeit stehenden normativ-theologischen Interessen geschieht bei Schürer also überwiegend in der Form von außerfachwissenschaftlichen Festvorträgen, gewissermaßen am ,Sonntag’ des Berufsmenschen.63

Diese disproportionale Spannungseinheit von ,realgeschichtlicher’ Peripherthematik und ,normativ-theologischer’ Zentralthematik lässt sich nun auch innerhalb von Schürers Hauptwerk beobachten. Ferner ist hier nun eine der Logizität von Trennschärfenbestimmung und Homogenitätsinteresse korrelierte Semantik von ,Innen’ und ,Außen’ explizit präsent, welche sich schon bei einer phänomenologischen Annäherung an Schürers Wissenschafts- und Theologieverständnis gleichsam von selbst aufdrängt. Systematisch leitend für Schürers Darstellung des antiken Judentums (und für Schürers Theologie insgesamt) ist die räumliche, aber eigentlich korporale Semantik einer Dualität von ,Äußerem’,64 nämlich der politisch-institutionellen ,Real’-Geschichte, und ,Innerem’, womit die ,Kultur’ gemeint ist und als deren zentrales Herzstück die Religion. Die äußeren, politischen Zustände des antiken Judentums sind Thema des im ersten Band enthaltenen ersten Teils des Hauptwerks; die "inneren Zustände" bilden das Thema des zweiten Teils (Bd. 2). In dem im dritten Band enthaltenen Teil III geht es um "Das Judentum in der Zerstreuung und die jüdische Literatur" und damit wiederum um das Trennschärfenproblem dieser korporativ-homogenen und zugleich in sich dual-spannungsvollen Einheitskonstruktion. Kennzeichnend ist auch wiederum, dass die quantitativen Darstellungsverhältnisse in hohem Maße asymmetrisch sind. Die für die Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum eigentlich relevanten Passagen, nämlich die gewissermaßen dem religiösen ,Innersten’ des kulturellen ,Inneren’, also der Religionsgeschichte des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, gewidmeten Abschnitte, nehmen nur einen Bruchteil des Volumens der drei Bände ein, nämlich nur stark 160 von ingesamt beinahe 2200 Seiten.65

Schürers fachwissenschaftliche theologische Arbeit weist, wie sich zeigt, schon phänomenologisch die Kennzeichen einer eigentümlichen, aber offensichtlich programmatischen Selbstdistanzierung auf: Das normative Interesse an ,christlicher’ Zentrierung und Homogenität wird im Medium einer nachgerade kasuistischen Hingabe an das ,Äußere’ der ,Real’-Geschichte, aber eines ganz bestimmten Anderen, nämlich des antiken Judentums, ausgearbeitet. Die für das Berufsethos des technokratischen ,Fachmenschentums’66 und seiner Trennschärfenrationalität kennzeichnende Hingabe an das ,objektive Äußere’ des ,subjektiven Inneren’, scheint in Schürers Hauptwerk gewissermaßen Buch geworden zu sein. Der ,Schürer’ ist geradezu die exemplarische Ausarbeitung dieses Prinzips. Aus dessen Koordinaten lassen sich nun auch die systematischen Grundentscheidungen von Schürers Interpretation des antiken Judentums sowie die Motive für die Konzentration auf dieses überhaupt verstehen.

5. Theo-Bürokratie

Hinter Schürers fachgelehrter Konzentration auf die Geschichte des antiken Judentums und den damit in seinem Hauptwerk einhergehenden Verzicht auf die "Berücksichtigung des Heidenthums im Zeitalter Christi"67 steht die historische These, dass "nur die ,Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi’ ... zunächst und im eigentlichen Sinne die Voraussetzung für die älteste Geschichte des Christenthums [bilde]."68 Dass diese These ihrerseits auf einer normativen theologischen Entscheidung basiert, zeigt sich schon daran, dass Schürer einen historischen Beweis für diese These eigentlich nie zu führen versucht hat.

Das antike Judentum wird von Schürer als derjenige zugleich homogene und in bestimmter Weise in sich heterogene Sozialkörper konstruiert, der gleichsam an sich selbst auf einen externen Zentralisationskern (Jesus v. Nazareth) verweist. Um dies zu plausibilisieren, spiegelt Schürer in das antike Judentum seine kategoriale Leitdifferenz von Politisch-Äußerem und Religiös-Innerem hinein, indem er sie - in einer noch einmal symmetrischen inneren Überkreuzung - als den Gegensatz von Pharisäern und Sadduzäern identifiziert.

Dass das Schema einer in sich selbst nicht vermittelten Gegensatzeinheit von politischem ,Äußeren’ und religiösem ,Inneren’ für Schürers Wesensbegriff des antiken Judentums leitend ist, zeigt sich schon daran, dass er die zeitlichen Außengrenzen seiner Beobachtungsepoche in einer eigentümlich nichtvermittelten, parallelen Weise, was "die innere Entwickelung"69 angeht, durch "die Herrschaft des Pharisäismus"70 und äußerlich durch das Erlangen bzw. den Verlust politischer Selbständigkeit gekennzeichnet sieht.71

Das antike Judentum ist für Schürer der gesellschaftliche Kollektivzustand einer verlorenen theokratischen, also politisch-religiösen Einheit, die auf eine - diesem Verlust entsprechend - doppelte Weise surrogathaft, nämlich durch die beiden "Parteien" von Pharisäern und Sadduzäern, besetzt wird. Zwar übernimmt Schürer, wie gesagt, in dem für das Gesamtwerk grundlegenden Paragraphen 26 "Pharisäer und Sadducäer"72 - was das Schema als solches und auch, was einige wichtige Einzelbestimmungen, insbesondere die Bezeichnung der beiden Gruppen als "Parteien"73 angeht - Vorgaben von Abraham Geiger und Julius Wellhausen. Seine eigene Leistung jedoch ist die gewissermaßen kategoriale Vergrundsätzlichung dieses Schemas, durch welche dieses als Antwort auf die normativ-theologische Frage nach der adäquaten Repräsentation theokratischer Einheit unter den Bedingungen irreduzibler gesellschaftlicher Differenzen anwendbar wird.

Von Wellhausen übernimmt Schürer auch die These, dass es sich bei der Differenz der beiden Gruppierungen gar nicht um einen "begrifflichen Gegensatz"74 handle. Denn die Sadduzäer seien nur indirekt durch ihr (kultur-)politisches Programm, tatsächlich aber durch die gesellschaftliche Stellung ihrer Vertreter als Angehörige der priesterlichen, näherhin religiös-politischen Aristokratie zu definieren.75 Die Sadduzäer sind also die gleichsam genetischen Repräsentanten der ehemals theokratischen Einheitsherrschaft. Sie treten unter den Bedingungen des Verlusts dieser Einheit aber auf als Repräsentaten der machtpolitischen ,Außen’-Funktion politischer Herrschaft und darin als Vertreter des ,eigentlich’ Politischen. Ihr ,Partei’-Status resultiert schlicht aus dem Verlust der theokratischen Verbindung von innerer, d. h. letztlich: religiöser, und äußerer machtpolitischer Einheit.

Umgekehrt gelte auch für die Pharisäer, dass es sich bei diesen im zweifachen Sinne um eine ,uneigentliche’ ,Partei’ handle. Erstens: "Eine politische Partei sind die Pharisäer überhaupt nicht; wenigstens nicht direkt. Ihre Ziele sind keine politischen, sondern religiöse: die strenge Durchführung des Gesetzes."76 Zweitens seien die Pharisäer auch als religiöse Gruppierung nicht eigentlich Partei; bei ihnen handle es sich vielmehr um "die klassischen Repräsentanten derjenigen Richtung ..., welche die innere Entwickelung Israels in der nachexilischen Zeit überhaupt eingeschlagen hat".77 Sogar die "Absonderung", welche den Pharisäern den Namen gegeben hat, will Schürer, sich hierin wiederum an Wellhausen anschließend,78 als Ausdruck ihrer Repräsentanzfunktion für das ,echt Jüdische’79 insgesamt verstan-
den wissen: "Dieser Absonderung hat sich damals ganz Israel unterzogen."80

Schon an der Aufnahme und zugleich faktischen Negation des Parteibegriffs zeigt sich somit die latente Orientierung der Systematik des Historikers an einer normativen theokratischen Einheitskonzeption. Beide ,Parteien’ stellen für ihn in unterschiedlicher - und näherhin symmetrisch-gegensätzlicher - Weise Kompensationsversuche dieser politisch-religiösen Ursprungseinheit dar. An der Eintragung und zugleich Negation des Parteibegriffs zeigt sich aber zugleich die grundsätzlich moderne Betrachtungsperspektive. Nicht die Rekonstruktion theokratischer Ursprungseinheit ist das normative Interesse des Theologen Schürer, sondern die Frage nach der Repräsentation jener Ursprungseinheit unter den Bedingungen einer prinzipiell funktional ausdifferenzierten, eben der modernen Gesellschaft, der Fachmenschengesellschaft.

Die falsche Zuordnung von ,Innen’ und ,Außen’, welche in Schürers Schema die ,Sadduzäer’ repräsentieren, ist die abstrakte Wahrnehmung des (Macht-)Politisch-Äußeren und zugleich die Indifferenzierung von ,Innen’ und ,Außen’.81 Die theologische Position der Sadduzäer deutet Schürer teils als religiös-politischen Traditionalismus82, teils als rein politisch motivierte Opposition zur Gegenpartei der Pharisäer.83 Die Sadduzäer bleiben in Schürers Darstellung fast ohne kritisches theologisches Interesse. Die Kritik an einer teils traditionalistischen, teils opportunistisch-machtpolitischen Besetzung des Gesellschaftlich-Allgemeinen ist für ihn offensichtlich nicht das entscheidende Thema; konkret: Nicht dem Machtstaat Bismarcks und auch nicht der Fachmenschengesellschaft funktionsrationaler Zwecksetzungen als solcher gilt die Kritik. Sie gilt vielmehr allein der bestimmten ,Verkehrung’ von ,Innen’ und ,Außen’, für die in Schürers Schema die Pharisäer stehen.

,Innen’ und ,Außen’ werden im Pharisäerbild Schürers präzise identifiziert als die Sphären von Religion und Sittlichkeit auf der einen Seite, Recht auf der anderen Seite. Dass Schürer die Pharisäer dieser strikt formalisierten, normativ-konstruktiven und näherhin modernen Kategorialität unterwirft, wird schon rein sprachlich deutlich. Die dem Pharisäismus zugeschriebene "unglaubliche Veräußerlichung des religiösen und sittlichen Lebens"84 sei als "Resultat unvermeidlich, sobald einmal die Religion zum Gesetz gemacht wird, und zwar in dem Sinne, daß das gesamte religiöse Verhalten in nichts anderem bestehen soll, als in der strikten Befolgung eines das bürgerliche und soziale ebensogut wie das individuelle Leben in allen seinen Beziehungen regelnden Gesetzes."85 Die Kompensationsleistung, die hier erbracht werde, mache sich darin bemerkbar, dass hier nun "das sittliche und religiöse Leben vom juristischen Gesichtspunkte aus aufgefaßt und geregelt"86 werde; "Ethik und Theologie löst sich auf in Jurisprudenz".87 Diese Kategorienverkehrung will Schürer als die Position des Pharisäismus deutlich machen, die aber damit ihrerseits das ,Wesen’ des Judentums zur Zeit Christi ingesamt auf den Begriff bringe.

Die latente Allgemeinheit des pharisäischen Programms sucht Schürer zum einen in dem berühmt-berüchtigten 28 seines Opus magnum nachzuweisen, überschrieben "Das Leben unter dem Gesetz".88 Zum andern versucht Schürer bei allen sonstigen religiösen Strömungen im Judentum seines Betrachtungszeitraums, also insbesondere für die apokalyptische Literatur und hier wiederum namentlich für die in ihr aufbewahrte "messianische Hoffnung"89 sowie für die Essener, plausibel zu machen, dass diese sich im Wesentlichen aus der immanenten Logik der pharisäischen Gesetzesfrömmigkeit verstehen ließen. So sei die messianische Hoffnung in allen Einzelzügen - auch etwa der mit ihr einhergehende supranaturalistische Individualismus ihrer Auferstehungshoffung90 - als Versuch, das Problem der im irdischen Leben nicht eingelösten Hoffnung auf eine Belohnung der frommen Gesetzesobservanz zu lösen, zu verstehen.91 Die Essener deutet Schürer, hierin A. Ritschl folgend, geradezu als einen "Pharisäismus im Superlativ"92. Allerdings räumt er für diese und nur für diese eng umgrenzte Gruppierung ("Mönchsorden"93) die Wahrscheinlichkeit von außerjüdischen Fremdeinflüssen ein.94 Da er aber auch die theologische Charakteristik der Sadduzäer im Wesentlichen aus ihrer politisch motivierten Negation der pharisäischen Gesetzesfrömmigkeit herleitet,95 hat er tatsächlich die pharisäische Parteiposition als repräsentative Funktion des ,echt Jüdischen’ insgesamt zu erklären versucht.

Der Nagel, an dem Schürers Bild des antiken Judentums hängt, ist unverkennbar die moderne, an Kant angelehnte Unterscheidung von Sittlichkeit und Recht als differenter Sphären der "bürgerliche[n] Gesellschaft".96 Der Zweck dieser Exposition ist, wie aus Schürers oben erwähnten neutestamentlich-theologischen ,Sonntagsschriften’ deutlich wird, natürlich ein apologetischer: Die religiös-theologische Grundabsicht Jesu soll als die genaue und bewusste Umkehrung der ,echt jüdischen’ Fehlfunktionalisierung von Sittlichkeit/Religion und Recht zu verstehen gegeben werden. Indem Jesus "ein neues Ideal der Sittlichkeit und ein neues Ideal der Frömmigkeit"97 repräsentiere, nämlich eine auf ihr Eigentliches, die bedingungslose Annahme des Individuums konzentrierte Vaterliebe Gottes und eine ihr entsprechende und durch sie ermöglichte individuelle Sittlichkeit98, stellt der historische Jesus gewissermaßen die Grundordnung der bürgerlichen Gesellschaft her. Denn Jesus entgrenzt aus Schürers Sicht den politisch-nationalen Horizont des Judentums ins Universale.99 Zugleich bildet die durch ihn ermöglichte, ,authentische’ Selbsterfassung des Individuums in seinem transzendenten Grund den Nukleus sittlichen Kulturlebens und damit der staatlichen ,Gemeinschaft’. So gegründet soll das Individuum sich in sich befestigt wissen und dadurch befähigt werden zum produktiven Umgang mit der ,äußeren’, gewissermaßen sadduzäischen Welt der bürgerlich-bürokratischen Macht- und Fachmenschengesellschaft. In Jesu Botschaft vom herbeigekommenen Gottesreich soll die moderne, das Individuum zur alltäglichen Selbstalterierung zwingende Bürokratie der Fachmenschengesellschaft als sublime Form von Theokratie erfahrbar werden. Es ist dies freilich eine Einheit, die lediglich im Innern des Individuums ihren Ort hat; in der äußeren ,sadduzäischen’ Wirklichkeit hat sie keine Entsprechung.100

6. Versöhnte Fachmenschenangst

Die Rekonstruktion der leitenden historiographischen Kategorien Schürers zeigt, dass diese in der Tat den klassischen Schemata liberaler Theologie im Umkreis der Ritschl-Schule verpflichtet sind. Dass dabei, insbesondere was die Rekonstruktion des "historischen Jesus", seines messianischen Bewusstseins und seiner Botschaft angeht, mit recht schlichten kategorialen Unterscheidungen von ewigem Wahrheitskern und zeitgemäßen Einkleidungen gearbeitet wird, dürfte zumindest implizit deutlich geworden sein.101 Die Spannung zwischen der modernen Abkunft der historiographischen Leitbegriffe und den vormodernen Verhältnissen, die sie zu ordnen suchen, tritt nicht ins Bewusstsein des theologischen Historikers.

Schürers historiographische Zentralunterscheidung von Religion und Sittlichkeit auf der einen Seite und Recht auf der anderen Seite ist ein Seitenstück zu der klassisch von Rudolf Sohm für das Urchristentum behaupteten Opposition von Geist und Recht und zu Harnacks Unterscheidung zwischen dem ursprünglichen religiös-sittlichen Evangelium Jesu und seiner Verkehrung in griechische Metaphysik. Emil Schürers neutestamentliche jüdische Zeitgeschichte ist damit zugleich als ein spezifischer Beitrag zu der um die Jahrhundertwende intensiv auflebenden Debatte um das Wesen des Christentums zu sehen.102 Wie alle entsprechenden Versuche ist auch in Schürers Wesensbestimmung nicht nur ein apologetisches, sondern, wie schon angedeutet, auch ein bestimmtes zeitkritisches Potential eingelagert.

Erkennt man die Grundsätzlichkeit des Interesses, die hinter Schürers historiographischer Konstruktion steht, dann ist klar, dass der zeitdiagnostisch-kritische Finger hinter dem Begriff des inkriminierten ,pharisäischen’ Judentums nicht eigentlich, nämlich höchstens indirekt, auf eine partikulare zeitgenössische Gruppierung verweisen kann, also konkret weder auf die Juden des Wilhelminischen Kaiserreichs noch auf die Katholiken.

Emil Schürer war, so weit man sehen kann, kein Antisemit.103 Zwar gehört die Abmahnung sprachlicher, stilistischer und technischer Mängel bei jüdischen Autoren geradezu zum Standardrepertoire des Rezensenten Schürer;104 aber dies wird man eher als Ausdruck eines durchschnittlichen wilhelminischen Kulturchauvinismus werten, denn als ideologischen Antisemitismus. Der stupende Kenner des antiken Judentums war, was das zeitgenössische Judentum insbesondere im osteuropäischen Raum und dessen kulturelle Lebensformen angeht, von einer geradezu entwaffnenden Uninformiertheit. "Es wird Manchem neu sein, zu sehen, ..." so heißt es anlässlich der Besprechung eines Buches über ,Die jüdisch-deutsche Literatur in Deutschland, Polen und America’, "... daß das jüdisch-deutsche Jargon - eine seltsame Mischung von Deutsch und Hebräisch, mit starker dialektischer Färbung des Deutschen - nicht nur in weiten Kreisen gesprochen wird, sondern auch eine umfangreiche Literatur erzeugt hat."105 Es ist anscheinend im Wesentlichen auch dem Rezensenten neu. Das ändert jedoch nichts daran, dass Schürer durch seine sorgfältige kontinuierliche Rezensionsarbeit fachgelehrter und allgemeinwissenschaftlicher jüdischer Forschung aus dem deutschen und angelsächsischen Sprachraum wichtige Brückendienste geleistet hat.106

Eine Analogie zwischen dem pharisäischen Judentum und dem Römischen Katholizismus stellt Schürer selbst her, indem er die pharisäische Kasuistik mit der jesuitischen vergleicht.107 Es gibt hier die Akzentsetzung einer gegen den Römischen Katholizismus gewendeten kontroverstheologischen Polemik. Die Bemerkung findet sich schon in der Erstauflage der ,Geschichte’ von 1876.108 Im Kontext des Kulturkampfes ist das strategisch plausibel. Aber die Analogie wird nicht ausgebaut.

Der kritisch-zeitdiagnostische Finger hinter der ,pharisäischen’ = ,jüdischen’ Verkehrung von sittlich-religiöser Innerlichkeit in kasuistische Verrechtlichung zeigt nicht auf eine partikulare Gruppe, aber er zeigt auch nicht ins Leere. Er zeigt auf die Gefahr der Selbstverkehrung der modernen bürgerlichen, ausdifferenzierten Gesellschaft in eine ihres christlich-religiösen Personkerns entfremdete Herrschaft der Bürokratie. Will man dies psychologisch wenden, dann spräche sich hier die Befürchtung aus, dass die - ihrerseits ja hochkasuistische, historische - Fachgelehrsamkeit, in welcher Emil Schürer seine sittliche Berufsarbeit praktiziert hat, doch nicht als die Lebensform individueller Kreativität, als ,Jesus-Nachfolge’, erkennbar sein könnte. Dann stünde die Begriffssignatur des ,pharisäischen Judentum’ gewissermaßen für die Angst des Autors Schürer, im ,Schürer’ doch zu einem negativen Anderen seiner selbst geworden zu sein. Schürer hat - anders als etwa Max Weber nach ihm- diese Angst noch nicht als die Signatur der kapitalistischen Moderne selbst begriffen und bearbeitet und damit theoretisch internalisiert; sie ist gewissermaßen noch das andere seiner selbst.

Vielleicht ehrt es den Autor Schürer aber, dass er diese Angst auch nicht durch die Stilisierung genialischer Forschungsinnovation oder durch die Erzeugung von theologischer Avantgarden zu bekämpfen versucht hat, wie es nach ihm die aus der ,Kleinen Göttinger Fakultät’109 ausgebrochenen jungen Wilden oder später die noch jüngeren Wilden aus den Randzonen der wissenschaftlichen Kulturlandschaft, aus Schweizer Dorfpfarrämtern, versucht haben. Vielleicht ist es ein - über Jahrhundertwenden hinaus - wirkungsberechtigter Ausdruck theologischer Weisheit, das Originalitätsprinzip der Theologie christologisch zu reservieren und die theologische Fachgelehrsamkeit nüchtern im Wissenschaftsbetrieb zu platzieren, wo sie- trotz und in aller bürokratischen Verkehrung - sich doch auch schon vom Vorschein der ,messianischen Hoffnung’ erhellt wissen darf.

Summary

The article tries to elaborate and to analyze the systematic concept of science and theology of Emil Schuerer. Schuerer is known as first editor of the Theologische Literaturzeitung and as the author of the famous work "The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ". In his genuin scientific domain, the Study of the New Testament, he has published only very few articles, most of them concentrated on central theological issues, expecially on the teaching of Jesus Christ. Analyzing the scientific principles of Schuerer’s work as editor, of his reviews and of his historical and theological scholar-work it is argued that there is a strong tension between the ideal of scientific ’objectivism’, empirical historicism, and specialism on the one hand and intense apologetic (theological and dogmatic) interests on the other hand. These interests are focussed on Jesus Christ as the original representative and revelator of free and individual personality. This antagonistic concept stands in the back of Schuerer’s image of Jewish religion, expecially of his- very influential - image of Phariseism. The concept itself reflects the typical intellectual situation of Schuerer’s generation in the Wilhelmian empire. In this dualistic concept religion- i.e. protestant Christian religion - is used and recommended to heal the self-estrangement of the subject caused by its total dedication to its professional work in highly specialized, ’industrialized’ societies.

Fussnoten:

*) Gewidmet sei der Aufsatz der Theologischen Fakultät der Universität Basel von ihrem neuen Mitglied.

1) Emil Schürer wurde am 2.5.1844 in Augsburg als ältester Sohn eines Fabrikanten geboren. Er studierte 1862-1866 Theologie in Erlangen, Berlin und Heidelberg, wurde 1868 zum Dr. phil und 1869 zum Lic. theol. in Leipzig promoviert. Im selben Jahr hat er sich dort für Neues Testament habilitiert. Nach einer außerordentlichen Professur in Leipzig (seit 1873) versah er ab 1878 eine ordentliche Professur in Gießen. 1890 folgte er einem Ruf nach Kiel, 1895 nach Göttingen. Hier lehrte er bis zu seinem Tod am 30.4.1910. Über Leben und Werk E. Schürers informiert der auch mit einer guten Literaturliste ausgestattete Artikel von Christian Dahm im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon (begr. u. hrsg. v. Friedrich Wilhelm Bautz, fortgef. v. Traugott Bautz, Bd. 9, Herzberg 1995, 1050-1053). Biographisch informativ ist auch der Artikel von Martin Hengel "Der alte und der neue ,Schürer’" (In: Ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II, unter Mitarbeit von Jörg Frey und Dorothea Betz und mit Beiträgen von Hanswulf Bloedhorn und Max Küchler. Tübingen 1998, 157-199).- Einen Nachlass von E. Schürer scheint es nicht mehr zu geben. Die Zentralkartei der Autographen an der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, weist insgesamt 22 Posten von Schürer-Autographen aus, die in verschiedenen Bibliotheken an den Wirkungsorten Schürers sowie u. a. in Berlin, Marburg, Basel und Halle aufbewahrt sind.

2) Schürer hat die ThLZ 1876 gegründet und bis zu seinem Tod 1910 herausgegeben. Seit 1881 ist Adolf v. Harnack Mitherausgeber.

3) Erster Band: Einleitung und politische Geschichte, 3./4. Aufl. Leipzig 1901; zweiter Band: Die inneren Zustände, 4. Aufl. Leipzig 1907; dritter Band: Das Judentum in der Zerstreuung und die jüdische Literatur, 4. Aufl. Leipzig 1909. Ein vierter das Register enthaltender Band ist Leipzig 1911 (Nachdr. Hildesheim 1964) veröffentlicht worden. Die erste Auflage war 1874 noch unter dem Titel "Lehrbuch der neutestamentlichen Zeitgeschichte" erschienen.

4) Harnack, Adolf: [Nachruf auf] Professor D. Emil Schürer. In:ThLZ 35, 1910, 291 f., hier: 292.

5) The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.-A.D. 135) by Emil Schürer. A new English Version revised and edited by Geza Vermes and Fergus Millar. Literary Editor Pamela Vermes. Organizing Editor Matthew Black, FBA Vol. I Edinburgh 1973; Vol. II 1970; Vol. III. 1 u. 2 1986 u. 1987. Martin Goodman ist in Vol. III Mitherausgeber.

6) Hengel, Martin: Der alte und der neue "Schürer", 157.

7) Ebd.

8) Auch in dieser Hinsicht hat der Nachruf Adolf v. Harnacks auf den toten Freund der Wirkungsgeschichte den Weg gewiesen: "Schürer gehörte zu den Unveränderlichen; den Standpunkt, den er, etwa 27 Jahre alt, als Theologe und Historiker gewonnen hat, hat er niemals verlassen oder auch nur erheblich modifiziert. Er hat ihn durch den hingebendsten, niemals unterbrochenen Fleiß Jahr um Jahr außerordentlich erweitert und vertieft." Harnack, Adolf: [Nachruf auf] Professor D. Emil Schürer, 291.

9) Schürers für seine systematisch-theologische Position wichtiger Aufsatz "Das Wesen der christlichen Offenbarung nach dem Neuen Testament" (Vortrag, gehalten im wissenschaftlichen Predigerverein zu Hannover am 3. Mai 1899, in: ZThK 10, 1900, 1-39) endet mit einer Homage an W. Herrmann, vgl. a. a. O., 39. In einem Brief an W. Herrmann vom 6.6.1892 bedankt sich Schürer für die Zusendung der Neuauflage von Herrmanns "Der Verkehr des Christen mit Gott" mit dem Kommentar: "Ich freue mich sehr, daß ... dieses Buch ... Verbreitung gefunden hat, da es mir ganz besonders geeignet erscheint, den profilierten Gehalt ... der von Ritschl begründeten Theologie zur Geltung und Anerkennung zu bringen." (Nachlass W. Herrmann, Universitätsbibliothek Marburg, Sign.: MS 691/460). Die Wertschätzung Herrmanns hat Schürer allerdings nicht daran gehindert, 1878 für die Besetzung des Dogmatiklehrstuhls in Gießen nicht diesen, sondern seinen Freund J. Kaftan zu empfehlen: "Herrmann ist vielleicht beeindruckender, aber Kaftan jedenfalls ... noch besser ... (er hat in Basel ganz ungewöhnliche Lehrerfolge)." E. Schürer an Bernhard Wilhelm Stade, 20. 5. 1878, UB Gießen, HsNF 138-39 a (1).

10) Vgl. Waubke, Hans Günther: Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1999, 13; 232 ff. Ihm schließt sich die andere neue Studie zur Geschichte der Pharisäerforschung in Grundzügen an, die aus der Feder von R. Deines stammt (Deines, Roland: Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz [Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 101], Tübingen 1997, 74, Anm. 82, vgl. 81). Martin Hengel beurteilt das Verhältnis Wellhausen-Schürer insgesamt allerdings etwas anders: "In Wirklichkeit haben beide, Wellhausen und Schürer, voneinander gelernt." Hengel, Martin: Der alte und der neue "Schürer", 163.

11) Vgl. Deines, Roland: Die Pharisäer, 68 f.

12) Eine gute und wirkmächtige Tendenzkritik von Schürers Bild des Judentums findet sich schon bei Moore, George Foot: Christian Writers on Judaism. In: HThR 14 , 1921, 197-254, hier: bes. 238 ff.

13) Murrmann-Kahl, Michael: Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880-1920, Gütersloh 1992, 205 ff., 295 ff. Zu Murrmann-Kahls Studie vgl. meine Rezension in: ZNThG/ JHMTh 1, 1994, 318-323.

14) Weber, Max: Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904). In: Ders: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl. Tübingen 1988, 146-214; vgl. Murrmann-Kahl, Michael: Die entzauberte Heilsgeschichte, 205 ff.

15) Vgl. Schürer, Emil: Das messianische Selbstbewusstsein Jesu Christi. Festrede im Namen der Georg-August-Universität zur Akademischen Preisverteilung am 10. Juni 1903, Göttingen 1903, 4 u. ö.

16) Wie schwierig es tatsächlich ist, von einem allen Religionsgeschichtlern gemeinsamen neuen forschungstheoretischen Paradigma zu sprechen, hat etwa in einer immer noch im Wesentlichen gültigen Weise Gerhard Wolfgang Ittel herausgearbeitet in seinem Aufsatz: Die Hauptgedanken der "Religionsgeschichtlichen Schule" (in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 10, 1958] 61-78). Ittel fasst hier die Ergebnisse seiner Dissertation zusammen: Urchristentum und Fremdreligionen im Urteil der religionsgeschichtlichen Schule. Erlangen 1956; vgl. als neuere Behandlung des Problems: Lüdemann, Gerd: Das Wissenschaftsverständnis der Religionsgeschichtlichen Schule im Rahmen des Kulturprotestantismus (in: Müller, Hans Martin [Hrsg.]: Kulturprotestantismus, Gütersloh 1992, 78-107); vgl. auch Köpf, Ulrich: Kirchengeschichte oder Religionsgeschichte des Christentums? Gedanken über Gegenstand und Aufgabe der Kirchengeschichte um 1900 (in: Graf, Friedrich Wilhelm; Müller, Hans Martin [Hrsg.]: Der deutsche Protestantismus um 1900 [Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie; Bd. 9], Gütersloh 1996, 42-66). Zutreffend dürfte gleichwohl sein, dass mit der Religionsgeschichtlichen Schule erstmals eine historisch- und näherhin soziologisch-funktionale Perspektive ins exegetische Spiel kommt, die es erlaubt, historische Religion insgesamt funktional, nämlich in ihrem jeweiligen gesellschaftlich-funktionalen Sinn zu analysieren. Schürer hat demgegenüber noch, wie zu zeigen sein wird, mit fixen Kategorien gearbeitet.

17) Ernst Troeltsch hat im Rückblick auf sein eigenes historiographisches Hauptwerk, die "Soziallehren der christlichen Sekten und Gruppen" geurteilt, das Verdienst dieses Buches liege "überhaupt nicht in selbständiger Quellenforschung, sondern in selbständigem Durchdenken der aus der jeweiligen Lage und Konstellation der Interessen erfolgenden Vereinheitlichung des Ganzen zu einer Theorie der Stellung des Religiösen zum Politisch-Sozialen." Troeltsch, Ernst: Meine Bücher (1922). In: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Gesammelte Schriften 4, Tübingen 1925, 3-18, hier: 7. Hervorhebung G. P.

18) 2. Aufl. Berlin 1900, 57.

19) Vgl. "Adolf Harnack - Ein Lexikon". Overbeck, Franz: Kirchenlexicon: Materialien, 1. Christentum und Kultur: Gedanke und Anmerkungen zur modernen Theologie (Werke und Nachlaß, 6 Bde., Bd. 6/1, aus dem Nachlaß hrsg. v. Carl Albrecht Bernoulli; kritische Neuausg. hrsg. v. Barbara von Reibnitz; Ed.-Komm.: Ekkehard W. Stegemann u.a.), Stuttgart, Weimar 1996, 234, vgl. 234-280.

20) Zu denken wäre in diesem Zusammenhang etwa an A. v. Harnacks vielfältige Aktivitäten als Wissenschaftspolitiker, insbesondere an seine Präsidentschaft bei der "Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften", die er seit ihrer Gründung 1911 innehatte.

21) Weber, Max: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus. Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 ... hrsg. u. eingel. von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß, Bodenheim 1993. Die Formulierung ist ein Zitat, das Weber ohne Herkunftsangabe wiedergibt.

22) In seinem Film ’Modern Times’ hat Charly Chaplin diesen Vorgang später unnachahmlich ins ironische Bild gesetzt: Der rasend - aber für das Tempo der Maschine immer noch zu langsam - arbeitende Fließbandarbeiter wird vom Räderwerk des Fließbandes buchstäblich verschluckt.

23) J. Wellhausen ist wie Schürer 1844 geboren, A. v. Harnack 1851.

24) Indem Jesus die "Aufhebung der Sünde und des Uebels" (Schürer, Emil: Die Predigt Jesu Christi in ihrem Verhältnis zum Alten Testament und zum Judenthum. Vortrag gehalten zu Darmstadt am 11. Januar 1882, Darmstadt 1882, 14) verkündigt und ermöglicht habe, habe er die Heilserwartung des Alten Testaments "zugleich verinnerlicht und vertieft" (Schürer, Emil: Die ältesten Christengemeinden im römischen Reiche. Rede zum Antritt des Rektorates der Christian-Albrechts-Universität in Kiel am 5. März 1894, Kiel 1894, 14).

25) Vgl. a. a. O., 3; Schürer, Emil: Das Wesen der christlichen Offenbarung nach dem Neuen Testament, 5.

26) Leipzig 1868.

27) Vgl. a. a. O., 60.

28) Schürers Antipathie gegenüber dem ,Allgemeinen’ trug, wenn man Agnes v. Zahn-Harnacks Wiedergabe eines Urteils A. v. Harnacks glauben darf, geradezu affektive Züge. Sie berichtet, Harnack habe - offensichtlich in den Jahren der ersten Begegnungen - über seinen Freund Emil Schürer geurteilt, "er war ,so vorsichtig, daß jeder allgemeine Gedanke zurückgewiesen wird’; alle allgemeinen Reflexionen fand er einfach ,ungehörig’; Harnacks Freude am konstruktiven Aufbau von Gedanken und Bemühungen teilte er nicht." Zahn-Harnack, Agnes v.: Adolf v. Harnack. Berlin 1951, 41.

29) Er ist greifbar etwa als Anlage zu einem Brief Schürers an Ludwig Diestel (Prof. f. Altes Testament in Tübingen) vom 6. Juli 1875, der sich in der UB Tübingen befindet (Sign.: Md 842-128).

30) Vgl. ThLZ 1886, 52 f. Ich zitiere hier und im folgenden Schürers Rezensionen in der ThLZ nach einem abgekürzten Verfahren, indem ich lediglich den Jahrgang und die Seitenzahl nenne.

31) Eine der typischen Standardformulierungen, mit denen Schürer Arbeiten kritisiert, die zwar methodisch korrekt seien, deren Ergebnis jedoch den getriebenen Aufwand aus seiner Sicht nicht rechtfertigt, gehört: "Für die Wissenschaft wäre es jedenfalls kein Verlust gewesen, wenn dieses specimen eruditionis ungedruckt geblieben wäre." ThLZ 1878, 207; ähnlich ThLZ 1880, 59.

32) Vgl. ThLZ 1878, 398.

33) Vgl. ThLZ 1881, 54; 1887, 420 u. ö.

34) Vgl. nur in den ersten Jahrgängen: ThLZ 1876, 43 f., 50 f., 308, 507; 1877, 101, 106.

35) Vgl. z. B. Schürers fortlaufende Rezension der einzelnen Bände der englischen "Encyclopaedia biblica" (ThLZ 1900, 1-3; 1902, 161-164; 1902, 513; 1903, 617 f.).

36) Es kennzeichnet das Branchenbewusstsein der Theologie im frühen Kaiserreich, dass jene theologische Normenkontrolle weitaus früher eingeführt wurde als die DIN-Normen, die es erst seit 1917 gibt.

37) Vgl. ThLZ 1876, 308.

38) ThLZ 1891, 1.

39) In den ersten Jahren, insbesondere 1877, führt Schürer eine heftige Fehde mit dem konservativen Lutheraner Rudolf Grau, in der er für sich selbst - ganz im Sinne des Programms der Zeitschrift - den "Standpunkt der wissenschaftlichen Objectivität" reklamiert gegenüber seinem Gegner, der "... in wiss[enschaftlichen] Dingen nicht wiss[enschaftliche] Gesichtspunkte, sondern lediglich den theol[ogischen] Parteistandpunkt als Maßstab der Beurtheilung angelegt" (ThLZ 1877, 188) habe. Sorgfältig verfolgt Schürer über viele Jahre das Erscheinen der 3. Aufl. der RE, wobei er die einzelnen Bände stets darauf abklopft, inwieweit in ihnen "die conservative Richtung mehr berücksichtigt ist als die kritische" (ThLZ 1877, 466; vgl. ThLZ 1897, 35, 1899, 1 f.; 1900, 33, 1902, 537 f.; 1904, 1 f.; 1905, 161 ff.; 1906, 345-347; 1908, 65-67).

40) Der Begriff "religionsgeschichtliche Methode" findet sich in Schürers Rezensionen erstmals 1904. Hier kritisiert er die modische Inanspruchnahme des Begriffs "als Rechtstitel für zuchtlose Phantasien" (ThLZ 1904, 553), was aber an der kritischen Einzelprüfung gerade nicht hindern dürfe. Vgl. mit diesem Tenor auch Schürers Rezension des ersten Bandes der RGG, die eine seiner letzten Besprechungen ist (ThLZ 1910, 65-68): "Referent hat ... die leise Befürchung gehegt, es möchten hier die oft recht unsicheren Kombinationen unserer Religionsgeschichtler sich in den Vordergrund drängen. Er ist durch die Ausführung aufs Angenehmste enttäuscht. Alles steht im Dienste wirklicher sachlicher und zuverlässiger Belehrung" (ThLZ 1910, 65). Ähnlich anerkennend äußert sich Schürer mehrfach in Bezug auf W. Bousset (ThLZ 1891, 62-67; 1892, 444-447). Dessen Buch "Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des Neuen Testaments und der alten Kirche" (1895) nennt er schon im Dankschreiben an den Autor ein "Standard Work" (Postkarte v. 22. 9. 1896; UB Göttingen; Korrespondenz E. Schürer-W. Bousset). Im Falle H. Gunkels entschuldigt sich Schürer sogar einmal dafür, dass er dessen wichtiges Werk über "Die Wirkungen des heiligen Geistes" nicht rechtzeitig angezeigt habe und holt es darum drei Jahre nach dessen Erscheinen mit einer intensiven Würdigung nach (ThLZ 1891, 123-126).

41) Eine Rezensionsanfrage an Franz Overbeck (bzgl. eines Buches seines Gießener Kollegen Karl Theodor Keim) motiviert Schürer einmal folgendermaßen: "Ich wäre Ihnen für die Uebernahme der Besprechung hauptsächlich auch aus dem Grunde dankbar, weil das Vorwort eine ganz unmotivierte Invective gegen Harnack enthält, für welche dem Verf. ein kleiner Denkzettel gebürt, und zwar womöglich von einem Kritiker, der nicht der Liebäugelei mit den ,Conservativen’ verdächtig ist." Brief E. Schürers an Franz Overbeck vom 8.7.1878; Nachlass F. Overbeck; Overbeckiana I, Briefe an E. Schürer, Nr. 10; UB Basel.

42) ThLZ 1882, 415

43) Vgl. ThLZ 1881, 56; 1886, 51; 1888, 513, 524.

44) Zum Popularisierungsprogramm der Religionsgeschichtlichen Schule vgl. Janssen, Nittert: Theologie fürs Volk. Eine Untersuchung über den Einfluß der Religionsgeschichtlichen Schule auf die Popularisierung der theologischen Forschung vor dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Liberalismus in der lutherischen Landeskirche Hannovers, Göttingen 1993; vgl. auch Köpf, Ulrich: Kirchengeschichte oder Religionsgeschichte des Christentums?, 43 f.

45) ThLZ 1905, 298. In seinen Rezensionen populärwissenschaftlicher Literatur ist für Schürer stets der leitende Gesichtspunkt, inwieweit es dem Vf. gelingt, den wissenschaftlichen Forschungsstand der Theologie zu kommunizieren (z. B. bzgl. der Quellenkritik: ThLZ 1881, 229). Vgl. auch die grundsätzlichen Überlegungen: ThLZ 1890, 109.

46) In einem von Schürers typischen Anwerbungsbriefen aus Anlass der Gründung der Zeitschrift, in diesem Falle gerichtet an Wilhelm Julius Mangold (Prof. für Neues Testament in Bonn), heißt es etwa: "Ich will zwar in Bezug auf den Standpunkt möglichst weitherzig sein, auch die eigentlich confessionelle Richtung nicht ganz ausschliessen. Aber es giebt sich doch von selbst, daß sich mein Augenmerk fast sämtlich auf diejenigen der Herren Collegen richtet, mit denen ich mich auch in der Sache am meisten einig weiß." Brief E. Schürers an W. J. Mangold vom 8. Juli 1875; Nachlass W. J. Mangold, UB Bonn, Sign: S 1400, 2 + 3.

47) In einem Brief an F. Overbeck vom 8. 12. 1879 schreibt Schürer: "Sehr gespannt bin ich auf ihre Polemik gegen Harnack, da ich bisher das Meiste von dem, was H. gesagt hat, für unantastbar gehalten habe." (Nachlass F. Overbeck; Overbeckiana I, Briefe an E. Schürer, Nr. 14; UB Basel)

48) Ein eindrucksvolles Beispiel der Inszenierung des Objektivitätsideals ,sine ira et studio’ in der ThLZ ist die Kontroverse der beiden Herausgeber über Harnacks Deutung des lukanischen Doppelwerks, in: ThLZ 1906, 404-408. Ein schönes Dokument des Bestrebens Schürers, "die Kraft persönlicher Beziehungen ..." über "... die theologische Meinung" zu stellen, ist ein Brief an M. Kähler vom 1.7.1884 (UB Göttingen; Korrespondenz E. Schürer-M. Kähler).

49) Dieses doppelte Anliegen lässt sich beispielsweise an Schürers kursorischer Rezension der seit 1901 erscheinenden 14. Auflage von "Brockhaus’ Konversations-Lexikon" illustrieren (vgl. ThLZ 1902, 91 f.; 1902, 532 f.;1903, 251 f.; 1903, 698 f.; 1904, 691-693). "[E]s geziehmt ...", so dekretiert der Rezensent bei der Besprechung des Auftaktbandes, ".. auch uns Vertretern der Geisteswissenschaften, von den gewaltigen Leistungen der modernen Technik gelegentlich Notiz zu nehmen (vgl. z. B. die Artikel Dynamomaschinen, Eisenbrücken, Elektrizität, Gasbeleuchtung, Gasmotoren, Glasfabrikation, Hängebrücken, Heizung) ...". Festgestellt wird dann aber auch, dass den "theologischen Artikeln" vergleichsweise geringer Raum in diesem normativen Speicher des zeitgenössischen deutschen Bildungswissens eingeräumt werde. "[W]ir glauben sagen zu dürfen, dass bei einer in England oder America erscheinenden Encylopädie dieses Gebiet einen breiteren Raum einnehmen würde als hier" ThLZ 1902, 91 f.

50) ThLZ 1876, 530. Schürer übernimmt hier eine Definition Karl Heinrich Weizsäckers.

51) In: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 18, 1875, 13-40.

52) A. a. O., 13.

53) Ebd.

54) A. a. O., 30

55) A. a. O., 33.

56) Diesen Ausdruck übernehme ich von Schürer selbst. Er findet sich en passant bei der Rezension eines Bibelwörterbuchs (ThLZ 1903, 226). Hier heißt es: "Die Artikel erstrecken sich nicht nur über alle biblischen Realien (Geschichte, Geographie, Alterthümer, Naturgeschichte), sondern auch über das ganze Gebiet der biblischen Literaturgeschichte (Einleitungswissenschaft). Nur die biblische Theologie ist im Großen und Ganzen ausgeschlossen."

57) A. a. O.

58) A. a. O.

59) A. a. O.

60) Vgl. Titius, Arthur: [Art.] Schürer, Emil. A. a. O., 463.

61) Die wenigen neutestamentlichen Arbeiten Schürers, die nicht unmittelbar schon im Titel einem christologischen Thema gewidmet sind, haben diesen Skopus de facto auch. Eine für Schürers Sichtweise des Verhältnisses von Judentum und neutestamentlichem Christentum wichtige Arbeit ist: "Der Begriff des Himmelreiches aus jüdischen Quellen erläutert" (in: Jahrbücher für protestantische Theologie, 2 [1876], 166-187). Der Aufsatz ist nicht umsonst an dem für Jesu Lehre zentralen Begriff des Reiches Gottes orientiert. Die implizit christologische Orientierung leitet auch den Aufsatz über den "gegenwärtigen Stand der johanneischen Frage" (Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen, gehalten am 20. Juni 1889, Gießen 1889, 41-73). Schürer versucht hier, die Legitimität der johanneischen Offenbarungstheologie gegen die Einsicht in die historische Abständigkeit ihres Verfassers zu retten. Selbst die Kieler Rektoratsrede von 1894 über "[d]ie ältesten Christengemeinden im römischen Reiche" ist, anders als ihr Titel vermuten lässt, theologisch und indirekt christologisch ausgerichtet, indem sie der Differenzbestimmung der normativen Person Jesu gegenüber dem von ihm schon wieder überwiegend abfallenden Urchristentum dient.

62) ThLZ 1882, 415

63) Einzuräumen ist freilich, dass sich die quantitativen Gewichte durch die Publikation von Schürers Theologie des Neuen Testaments verschoben hätten. Sie hätte freilich an dem auffälligen Sachverhalt nichts geändert - ihn vielmehr vermutlich noch verstärkt -, dass Schürer, was die historische Entstehung des Christentums als solche angeht, sich nahezu ausschließlich für die Person des historischen Jesus und seine Verkündigung, wie sie sich in den Theologien des Neuen Testaments mehr oder weniger getreu spiegelt, interessiert hat.

64) Vgl. zu dieser Semantik etwa Schürer, Emil: Die Predigt Jesu Christi in ihrem Verhältnis zum Alten Testament und zum Judenthum, 18.

65) In der Erstauflage war die auf die Religionsgeschichte verwendete Seitenzahl in etwa dieselbe, aber das Gesamtvolumen betrug dort nur etwa ein Drittel der Dritt- und Viert-Auflage. Die Disproportionalität hat sich zwischen den Auflagen also noch um diesen Faktor gesteigert.

66) Der Ausdruck ist ein an M. Weber angelehntes Zeitgeistimitat, vgl. dazu: Hennis, Wilhelm: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, 21 f.

67) Schürer, Emil: Lehrbuch der neutestamentlichen Zeitgeschichte. Leipzig 1874, 1.

68) A. a. O., III.

69) Schürer, Emil: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi. Erster Band, 3. u. 4. Aufl., Leipzig 1901, 2.

70) Ebd.

71) Vgl. a. a. O., 2 f.

72) Schürer, Emil: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi. Zweiter Band, 4. Aufl. 447-489.

73) Aufschlussreich ist die in der Erstauflage noch gegebene Begründung für den Partei-Begriff: "Um Parteien handelt es sich und nicht, wie man früher zu sagen pflegte, um Secten. Denn zwei Richtungen, in welche das ganze Volk sich spaltet, sind keine Secten, sondern Parteien." Schürer, Emil: Lehrbuch der neutestamentlichen Zeitgeschichte, 425.

74) Vgl. Schürer, Emil: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi. Zweiter Band, 4. Aufl., 456, Anm. 13.

75) Vgl. a. a. O., 456.

76) A. a. O., 463.

77) A. a. O., 456.

78) Vgl. a. a. O., 466.

79) Vgl. a. a. O., 461, 463.

80) A. a. O., 466.

81) Vgl. a. a. O., 486.

82) Vgl. a. a.O., 485.

83) Vgl.: "Sie standen mit ihren Interessen ganz im Diesseits und hatten nicht ein so intensives religiöses Interesse wie die Pharisäer. Es ist also das geringere Maß religiöser Energie, welches ihnen den älteren Standpunkt als genügend erscheinen ließ." Ebd.

84) A. a. O., 548.

85) Ebd. 548. Wichtig ist die Fortsetzung des Zitats: "Mit dieser Auffassung der religiösen Pflicht, welche das charakteristische Merkmal des nachexilischen Judentums bildet, wird das gesamte religiöse und sittliche Leben in die Sphäre des Rechts herabgezogen, und damit ist notwendig Folgendes gegeben: Vor allem wird hiermit das individuelle Leben durch eine Norm geregelt, deren Anwendung auf diesem Gebiete überhaupt vom Übel ist. Das Recht hat lediglich die Aufgabe, die Beziehungen der Menschen zueinander nach gewissen Maßstäben zu ordnen. Sein Objekt ist nicht das Individuum als solches, sondern nur die bürgerliche Gesellschaft als ganze. Die Funktionen dieses letzteren sollen durch das Gesetz so geregelt werden, daß innerhalb dieses Rahmens jedem einzelnen die Erfüllung seiner individuellen Aufgabe ermöglicht werde. Die Anwendung der Rechtsnorm auf das individuelle Leben bringt also an sich schon das letztere unter falsche Maßstäbe. Denn zum Wesen des Rechts gehört der äußere Zwang; zum Wesen des sittlichen Handelns aber gehört die Freiheit. Nur dann ist das sittliche Leben des Individuums ein gesundes, wenn es durch innere Motive geleitet wird. Die Regelung durch äußere Maßstäbe ist eine Verfälschung derselben im Prinzip."

86) A. a. O., 574.

87) Ebd.

88) Vgl. a. a. O., 545 ff.

89) Vgl. a. a. O., 579 ff.

90) Vgl. a. a. O., 647 u. ö.

91) Vgl. a. a. O., 582f. In der Erstauflage wird die "Apokalyptik" noch als eine "eigenthümliche Art von Schriftstellerei" (Schürer, Emil: Lehrbuch der neutestamentlichen Zeitgeschichte, 511) bezeichnet, die nicht konsequent aus dem Pharisäismus hergeleitet wird.

92) Schürer, Emil: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi. Zweiter Band, 4. Aufl., 673.

93) A. a. O., 654.

94) Vgl. a. a. O., 676ff.

95) Vgl. a. a. O., 485.

96) A. a. O., 548.

97) Schürer, Emil: Das messianische Selbstbewusstsein Jesu Christi, 8.

98) Vgl. ebd.

99) Vgl. Schürer, Emil: Die Predigt Jesu Christi in ihrem Verhältnis zum Alten Testament und zum Judenthum, 19 ff.

100) Allerdings lässt Schürer hier eine gewisse Entwicklung erkennen. Hat er in den frühen Schriften das von Jesus verkündete Gottesreich noch ausdrücklich als "nicht ... lediglich als ein sichtlich-religiöses Gemeinwesen auf Erden aufgefasst" (Schürer, Emil: Der Begriff des Himmelreiches aus jüdischen Quellen erläutert, 183), dann heißt es später dezidiert, Jesus wolle nicht "der politische Befreier ..." sein, sondern "von innen heraus wirken, das Volk innerlich befreien". (Schürer, Emil: Das messianische Selbstbewusstsein Jesu Christi, 15). Darin schlägt sich die Entwicklung Schürers von einem Rotheschüler zu einem politisch konservativer werdenden Anhänger W. Herrmanns nieder.

101) Vgl. Schürer, Emil: Die ältesten Christengemeinden im römischen Reiche, 3.

102) Vgl. insbesondere Harnack, Adolf v.: Das Wesen des Chrisentums [1900]. Mit einem Geleitwort hrsg. v. Wolfgang Trillhaas, Gütersloh 1977; Troeltsch, Ernst: Was heißt "Wesen des Christentums"? In: Ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Ges. Schr. Bd. 2), Tübingen 1913, 386-451.

103) Als Rezensent hat Schürer antisemitische Neigungen als "verhängnisvolle Eigenschaften für den Historiker" (ThLZ 1900, 589) scharf kritisiert. In einem Brief vom 14. März 1887 an seinen Kollegen W. J. Mangold äußert er sich angesichts eines Berufungsverfahrens in der Juristischen Fakultät zuversichtlich, dass, obwohl die "antisemitische Strömung ... hier allerdings ziemlich stark" sei, "die ÂÚÈÙÔÌ [doch] kein unübersteigbares Hindernis für die Erlangung einer Professur sein [müsse]". Nachlass W. J. Mangold, UB Bonn (S 1400, 2+3)

104) Vgl. ThLZ 1881, 54; 1885, 103 f., 106, 582; 1887, 420 u. ö.

105) ThLZ 1896, 383.

106) Schürer hat z. B. das Erscheinen der einzelnen Bände der "Jewish Encylopedia" jeweils genau verfolgt und kommentiert (Bd. 1: ThLZ 1902, 68-70; Bde. 2 und 3: ThLZ 1903, 294 f.; Bd. 4: ThLZ 1903, 649-651; Bde. 5-7: ThLZ 1904, 601 ff.; Bde 8, 9: ThLZ 1905, 345 f.; Bde. 10, 11: ThLZ 1906, 161 ff.; Bd. 12: ThLZ 1906, 473-475).

107) Vgl. Schürer, Emil: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi. Zweiter Band, 4. Aufl., 577.

108) Vgl. Schürer, Emil: Lehrbuch der neutestamentlichen Zeitgeschichte. Leipzig 1874, 509.

109) Schürer hat Originalitätsattitüden gerade bei Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule des öfteren abgemahnt: "Es verhält sich ... etwas anders, als kürzlich Gunkel gemeint hat: dass die Mitbehandlung des Judenthums in einer biblisch-theologischen Untersuchung noch vor elf Jahren eine ,Neuerung’ gewesen sei, die er erst damals eingeführt habe. (Die Wirkungen des heiligen Geistes, 2. Aufl. S. VII) - eine Selbsteinschätzung, die doch nur möglich ist, wenn man die theologische Literatur der letzten hundert Jahre nicht kennt oder gegenüber den eigenen Leistungen vergessen hat. Richtig ist aber dass die Beschäftigung mit der nachkanonischen Literatur des Judenthums in den letzten Decennien lebhafter geworden ist, als sie es zuvor war." ThLZ 1900, 201 f.