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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

70–72

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ngien, Dennis

Titel/Untertitel:

The Suffering of God According to Martin Luther’s "Theologia crucis". Foreword by J. Moltmann.

Verlag:

New York-Washington-Baltimore-San Francisco-Bern-Frankfurt a. M.-Berlin-Vienna-Paris: Lang 1995. XII, 289 S. gr.8° = American University Studies. Series VII: Theology and Religion, 181. Pp. DM 74,-. ISBN 0-8204-2582-6.

Rezensent:

Jos E.Vercruysse

Die vorliegende Doktorarbeit von Dennis Ngien wurde 1993 von der University of St. Michael’s College in Toronto angenommen. Der Titel "Das Leiden Gottes in Luthers Kreuzestheologie", und Jürgen Moltmanns Vorwort deuten ziemlich genau die Richtung an, in die die Absicht der Arbeit weist. N. verbindet die alte und zugleich aktuelle Problematik des Leidens Gottes als Theopaschismus und die Auffassung von der Leidensunfähigkeit Gottes ­ wie sie von Moltmann in Der Gekreuzigte Gott (1972) kritisiert wird ­ mit Luthers Kreuzestheologie. Dabei will er zeigen, daß Gottes Leiden in Luthers Theologie einen "ontologischen Status" hat: "der soteriologische Aspekt der pro me ’leidenden’ Liebe Gottes spiegelt wirklich das ontologische Wesen Gottes als ’Liebe’" wider (103). Die Studie ist aus fünf Kapiteln aufgebaut.

Ein erstes, kurzes Kapitel bringt den historischen Hintergrund der Fragestellung zur Sprache. Anhand von Zitaten wird dargestellt, wie die Frage des Leidens Christi und Gottes in der frühen Kirchengeschichte, die in diesem Fall bis Thomas von Aquin reicht (16 f.), erörtert wurde. Wie sind das Leiden des Sohnes Gottes und die Unveränderlichkeit Gottes in Christus miteinander zu versöhnen? Was unterscheidet Patripassianismus von Theopaschismus? M. E. sollte man dabei schärfer unterscheiden zwischen der Frage, ob Gott "leiden" kann ("Suffering") einerseits, und der allgemeineren, philosophischen Frage, ob Gott den "Leidenschaften" und "Affekten" ("passiones") ausgesetzt ist, anderseits. Im zweiten Kapitel werden der geschichtliche Hintergrund und die Grundlagen der theologia crucis Lutheri dargestellt. Zu den Voraussetzungen rechnet N. zunächst einmal den Nominalismus in seiner Gegenüberstellung zur via antiqua hinsichtlich der Vorbereitung auf den Gnadenempfang. Der Bruch mit seinen früheren nominalistischen Ansichten über Verdienst und Gnade im Spätjahr 1516 oder im Frühjahr 1517 war für Luther ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung seiner eigentümlichen Kreuzestheologie (27).

Die Darstellung von Luthers Beziehungen zum Mystizismus ist eher irreführend. In Anlehnung an Dietmar Lage, Martin Luther’s Christology and Ethics (Lewiston NY 1990), überzeichnet N. den Einfluß von Faber Stapulensis, der trotz seines Interesses für die mystische Theologie doch kaum "a mystic" genannt werden kann. Auch werden Bernhard von Clairvaux und Faber auf verwirrende Weise miteinander in Bezug gestellt. Und was bedeutet die Verbindung von Stapulensis, Augustin and Staupitz in dem Satz: "...Hermeneutically, Stapulensis, following Augustine and Staupitz..." (29)? Auch der dritte Abschnitt über den Augustinismus bietet eine wenig befriedigende Skizze sowohl der Beziehungen Luthers zu Augustin, Gregorius von Rimini, Johannes von Staupitz und sogar zu Aristoteles, als auch seiner christologischen Bibelhermeneutik.

Schließlich werden die zentralen Linien der Kreuzestheologie Luthers zur Zeit der Heidelberger Disputation nachgezeichnet. Sie wird als eine Offenbarungstheologie charakterisiert, in der wir Gottes Erlösungswerk sub contrario [warum wird wiederholt "sub contraria" geschrieben?] in Christus wahrnehmen und daran durch den Glauben Anteil haben. In den nächsten Kapiteln wird die eigentliche These in drei Schritten ausgearbeitet. Sie behandeln nacheinander die Christologie, die Soteriologie und die Trinitätslehre in Verbindung mit der Frage, inwiefern man Gott Leiden zuschreiben kann. So legt das dritte Kapitel Luthers Christologie dar und beschreibt seine Zwei-Naturen-Lehre, in der beide Naturen derart verbunden sind, daß Christi Gottheit und Menschheit wirklich eins sind. Der Rückgriff auf die communicatio idiomatum erklärt die ontologische Einheit und macht die Aussage möglich, daß Gott in Christus leidet und gekreuzigt wird. Die Christologie Luthers hat aber eine klare soteriologische Ausrichtung. Deswegen wird im vierten Kapitel die Verbindung zwischen Soteriologie und Gottes Leiden erörtert. Luther betont hierbei nicht so sehr die Leidlosigkeit Gottes, als vielmehr die Gottheit, die sich in der Niedrigkeit und Ohnmacht des gekreuzigten Gottes offenbart, der das Urteil über die Sünde trägt und büßt. Auf der Grundlage der communicatio idiomatum und des dulcis commercium weist Luther jede Aufspaltung der Person Christi zurück, in der neben einem leidensfähigen Menschen ein nichtleidensfähiger Gott zu stehen käme. Der soteriologische Aspekt von Gottes leidender Liebe spiegelt Gottes ontologisches Sein als Liebe wieder (103). In diesem Zusammenhang wird die Gegenüberstellung sub contrario des Deus absconditus/nudus und des Deus revelatus/indutus besprochen. Christus überwindet als Mittler durch den Kreuzestod den Gegensatz zwischen dem Zorn des verborgenen Gottes und Richters und der barmherzigen Liebe Gottes, zwischen dem opus alienum und dem opus proprium.

In einem weiteren Schritt soll der Frage nach dem Leiden Gottes im Kontext von Luthers Gotteslehre, bzw. Trinitätslehre, nachgegangen werden (fünftes Kapitel). Zunächst wird in engem Anschluß an Reiner Jansens Studien zu Luthers Trinitätslehre die Auffassung des Reformators dargestellt. Dann wird gezeigt, wie man in einer sehr begrenzten Weise und im Licht der Kreuzestheologie von einem "Patripassianismus" reden könnte, nämlich mittels des Prinzips der Perichorese: Der Vater leidet in und durch seine göttliche Einheit mit dem Sohn. Deswegen ist er kein apathetisches Wesen, unberührt vom Schmerz und dem Leiden der Schöpfung (153). Es muß hinzugefügt werden, daß diese Folgerung N.s nicht auf Luthertexten beruht, sondern eine logische Beweisführung voraussetzt. Besonders wird noch die Rolle des Hl. Geistes behandelt und dargelegt, wie sich die ökonomische und immanente Trinität in einer Lehre verhalten, die vor allem den soteriologischen Charakter des göttlichen Handelns betont. Luthers Lehre von der Menschwerdung und von der ökonomischen Trinität gibt den begrifflichen Rahmen ab, in dem Luther von Gottes Leiden spricht, d.h. Gottes Leiden in der konkreten Einheit der personalen Identität Christi (162).

Zusammenfassend muß gesagt werden, daß die Untersuchung, die sich hauptsächlich auf englischsprachige Literatur stützt und die Zitate vor allem aus der American Edition der Werke Luthers und aus der Sekundärliteratur schöpft, für diejenigen, die mit Luthers Theologie einigermaßen vertraut sind, nicht viel Neues bringt.

Die Verweise auf Luthers Texte sind uneinheitlich und nachlässig: bisweilen wird zugleich auf die WA und die American Edition verwiesen, in anderen Fällen nur auf Luthers Works (American Edition) und manchmal nur auf die WA. Einige Male wird sogar irgendeine andere Lutherausgabe zitiert, so BOW (= The Bondage of the Will, London 1957; siehe 231, Anm. 164; 237, Anm. 241), obgleich in der nächsten Anmerkung auf WA 18 verwiesen wird. Manchmal wird der Titel der Schrift Luthers erwähnt, manchmal nicht. In den lateinischen Zitaten finden sich viele Druckfehler. Ein amüsanter Flüchtigkeitsfehler ist die Erwähnung von Leonardo da Vinci und Malachias von Armagh als Hg. der Theologischen Realenzyklopädie (225, Anm. 92 und 267).