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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

963–978

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Brandt, Hermann

Titel/Untertitel:

Befreiungstheologie nach der Wende

I. 1989: Wende oder Ende der Befreiungstheologie?

Mit dieser Fragestellung sind zwei Typen europäischer Außenwahrnehmung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie angesprochen. Eine Deutung des Jahres 1989 als Wendejahr setzt voraus, die Befreiungstheologie sei danach nicht mehr dieselbe wie zuvor; 1989 bedeute einen identitätsbedrohenden Einschnitt für diese Theologie; das Ende der sozialistischen Systeme habe den befreiungstheologischen Optionen ihre Plausibilität entzogen; eine Neuorientierung sei nötig, wolle die Befreiungstheologie überhaupt noch eine Zukunft haben.1

Überwiegt bei den meisten Deutungen des Jahres 1989 als Wendejahr der Befreiungstheologie das Interesse an ihrer Fortwirkung "trotz" des Falls der Mauer, so deutet ein anderer Interpretationstyp dieses Jahr als Quittung für einen von Anfang an verfehlten theologischen Ansatz: Mit dem Zusammenbruch der marxistischen Systeme sei auch die "marxistische" Befreiungstheologie zusammengebrochen.2

Eine solche Identifizierung kann freilich auch die Gestalt annehmen, daß weder auf eine Wende, noch auf ein Ende dieser Theologie rekurriert wird, nämlich dann, wenn in der Befreiungstheologie eine unverminderte Bedrohung und Unterwanderung der freiheitlichen Demokratie gesehen wird. Für diese Sicht spielt das Jahr 1989 keine Rolle. Wer es so deutet, sei vielmehr Opfer der revolutionären Täuschungsmanöver der Befreiungstheologen geworden, die nunmehr Europa ins Visier nähmen. Die Promotoren dieser Theologie kaschierten nur geschickt ihre weiterbestehenden umstürzlerischen Ambitionen.3- Ein Feindbild verträgt keinerlei Relativierung.

Dagegen setzen ernstzunehmende neuere Untersuchungen sehr häufig mit der Frage nach einem Kontinuum der Befreiungstheologie ein, die sich angesichts des Eindrucks ihrer Diskontinuität stelle. Die Feststellung, es sei inzwischen "still" geworden um die Befreiungstheologie, wird dann mit Begründungen verbunden, die ihre weiterbestehende Relevanz aufweisen sollen. Den seit den 90er Jahren im deutschen Sprachraum erschienenen Arbeiten ist zudem gemeinsam, daß sie davon absehen, generalisierend von "der" Befreiungstheologie zu reden, sondern unterschiedliche Einzelaspekte behandeln wie z.B.: die hermeneutische Frage nach der Deutung biblischer Texte, die Leitprinzipien kontextueller Theologie in Lateinamerika und ihre exegetische Überprüfung4; den Beitrag Lateinamerikas zur Theologiegeschichte der Dritten Welt5; das Thema der Gestalt und Bewältigung des Theodizeeproblems im Umkreis der Befreiungstheologie6; pastoraltheologische Studien über die Kraft der Basisgemeinden zur Inkulturation und das Verhältnis zwischen Kirche und Gewalt7; Untersuchungen über den Aspekt des Leiblichen8. Diese Themenauswahl zeigt nicht nur, daß Impulse aus der Befreiungstheologie inzwischen alle theologischen Disziplinen betreffen, sondern auch, daß das Bild der Befreiungstheologie als einer geschlossenen und damit auch polarisierenden Position zurückgetreten ist zugunsten unterschiedlicher Wahrnehmungen ganz verschiedener Facetten dieser Theologie. Hat sich in solchen Rezeptionen der Anspruch der Befreiungstheologie auf Identität und Identifizierbarkeit de facto aufgelöst? Hat das Jahr 1989 die Einheit der Befreiungstheologie beendet und sie in ein mehrdeutiges Phänomen umgewandelt? Dieser Frage wird nachzugehen sein.

Zunächst aber: Was aber ist aus Lateinamerika selbst zu hören? Bedeutungslos ist das Jahr 1989 für Lateinamerika keineswegs gewesen. José Comblin beginnt sein programmatisches Buch "Christen in Richtung auf das 21. Jahrhundert. Neue Wanderschaft der Befreiung"9 mit einer Einführung "Die Fakten" und diese wiederum mit einem ersten Abschnitt "Ende der sozialistischen Revolution". Die ersten Sätze lauten: "Das gegenwärtig spürbarste Faktum ist dieses: das Ende der großen Revolution, die fast das ganze 20. Jahrhundert umfaßt, die Revolution, die 1917 in Rußland beginnt und 1989 mit dem Fall der Sowjetunion endet. Einige meinen, das 20. Jahrhundert habe 1914 begonnen und 1989 geendet. Wir befänden uns schon im 21. Jahrhundert, denn die großen Bewegungen, die das 21. Jahrhundert bestimmen würden, hielten schon heute den ganzen Raum besetzt."10

Auf Lateinamerika, so Comblin, habe sich der Fall der Sowjetunion und die vorherige "Dekadenz" ebenfalls ausgewirkt. Seine Diagnose lautet: Dies zeigt sich in den lateinamerikanischen Re-Demokratisierungsprozessen. Sie waren von der Hoffnung bestimmt, die Militärregime seien nur ein Zwischenspiel gewesen, und die Geschichte würde dort weitergehen, wo die Militärs sie unterbrochen hatten. Also Wiederanknüpfung bei Allende in Chile, beim Peronismus in Argentinien, an die Zeit von 1956 bis 196411 in Brasilien usw. Aber nichts von alledem geschah. Die Kräfte der Linken blieben geschwächt, die sogenannten Bewegungen der "Nationalen Befreiung" gaben auf. In den neuen, vermeintlich demokratischen Systemen verloren sie ihre Identität. Alle diese Bewegungen "erleben eine Bewußtseinskrise, sind fast ohne Programm, haben keine Ziele und sind unter sich zerstritten"12.

Gilt aber, was nach dieser Einschätzung für "die Bewegungen der Linken" gilt, auch für die Befreiungstheologie? Ist auch sie nach 1989 ohne Programm, ohne Ziel, und sind ihre Promotoren zerstritten? Das müßte gelten, wenn die Wende von 1989 die Befreiungstheologie ganz unvorbereitet getroffen hätte. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr ist die Befreiungstheologie sozusagen von Geburt an daran gewöhnt, "den Puls der Geschichte mit dem Wort des Herrn der Geschichte zu erhellen", mit anderen Worten, Theologie als kritische Reflexion auf die Praxis zu betreiben.13 Weil die Befreiungstheologie schon vor der Wende von 1989 die Kraft zur Reflexion erwiesen und sich angesichts neuer Prozesse neu definiert hat, können wir überhaupt von der Befreiungstheologie nach dieser Wende sprechen. Diese These soll nun entwickelt werden.

II. Re-Flexion als Korrektiv in der Zeit vor 1989

Als erstes Dokument der Befreiungstheologie kann die "Theologie der Befreiung" von Gustavo Gutiérrez gelten. Sie beginnt mit einem Kapitel über "Theologie als kritische Reflexion". Das heißt: kritische Reflexion der Theologie über sich selbst, über den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontext, über die kirchliche Praxis.

Einer solchen selbstkritischen und kritischen Reflexion schreibt Gutiérrez eine "prophetische Funktion"14 zu. Die "kritische Reflexion" besagt: "nicht am Alten kleben und letzter Waggon am Zug der Gegenwart sein, sondern meint die gegenwärtigen Wirklichkeiten ergründen und in der Bewegung der Geschichte das erforschen, was uns in Richtung Zukunft treibt".15 Insofern ist also die Zukunftsperspektive und das Rechnen mit Prozessen, die die Welt verändern,16 der Befreiungstheologie schon von Anfang an in die Wiege gelegt worden - und zugleich die von "der Gabe des Reiches Gottes" bestimmte Grundorientierung einer Theologie "im Protest gegen die mit Füßen getretene menschliche Würde, im Kampf gegen die Ausbeutung der weitaus größten Mehrheit der Menschen, in der Liebe, die befreit, und bei der Schaffung einer neuen, gerechten und brüderlichen Gesellschaft".17

Damit sind sowohl die konstitutiven Faktoren, das Gesetz, nach dem die Befreiungstheologie angetreten ist, benannt, wie auch die Reflexion auf die sich wandelnde Welt als Motiv der Veränderung und der Flexibilisierung dieser Theologie. Es ist kein Zufall, daß im Wortschatz der Befreiungstheologie Begriffe

mit der Vorsilbe re- eine zentrale Rolle spielen: die relectura - bzw. re-leitura -: das wieder bzw. ganz neu Lesen der Bibel, recomeço: Wieder- bzw. Neu-Beginn, recobrar - wiedergewinnen, recriar - wieder- bzw. neu schaffen, relembrar: ins Gedächtnis bringen, revalorizar: neu bewerten und würdigen, renovar: erneuern. Der Befreiungspädagoge Paulo Freire war hier der Befreiungstheologie schon vorangegangen, als er das Ziel seiner Pädagogik der Unterdrückten die "Rekonstruktion" der zerstörten Menschen nannte.18

Die Re-Flexion, die selbstkritische und kritische Überprüfung der eigenen Position und anderer Positionen, ist von Anfang an Kennzeichen und Programm der Befreiungstheologie gewesen. Schon lange vor 1989 also war die Befreiungstheologie daher darauf eingestellt, sich und ihre Beziehung zu eintretenden Veränderungen neu zu "reflektieren". Diese Fähigkeit zum Umdenken, zur Selbstkorrektur, zur Re-Definition zeigt sich an einigen Schwerpunktverlagerungen, die - wie gesagt - alle vor 1989 nachweisbar sind.

1. Vom Alten zum Neuen Testament

Am Anfang der Befreiungstheologie stand die unmittelbare Erfahrung der Unterdrückung und die vorherrschende Perspektive des Exodus: "Ich habe gesehen das Elend meines Volkes und sein Schreien gehört" (Ex 3,7 f.). Lateinamerika hatte seine eigenen Pharaonen: "Ihr braucht uns die Geschichte der Kinder Israel in Ägypten nicht zu erklären - es ist unsere Geschichte" - so war es in den ersten Basisgemeinden zu hören, und sie fragten: "Wo sind die neuen Mosegestalten?"19 Dann kam die Enttäuschung: Das Gelobte Land, die Befreiung blieb fern. Und so rückte das Neue Testament, besonders die als Trostbuch für die verfolgten Gemeinden gelesene Offenbarung des Johannes in den Blick - eine erste Neuorientierung.

2. Vom Denunzieren zum Annoncieren

Damit beziehe ich mich auf ein in der Befreiungstheologie häufig verwendetes Wortspiel. Zunächst denunciar, das heißt das öffentliche Bekanntmachen der Unterdrückung und ihrer Ursachen, der prophetische Protest gegen Ausbeutung, Entwürdigung und Rechtlosigkeit. Dann aber die Schwerpunktverlagerung zum anunciar, dem Ankündigen des Trostes unter den Bedingungen des andauernden Exils: "Tröstet, tröstet mein Volk". Diese Botschaft des zweiten Jesaja wird nun aktuell. Hatte sich die Befreiungstheologie zunächst auf den Protest nach außen konzentriert, so jetzt auf den Zuspruch nach innen, auf daß der glimmende Docht der Hoffnung nicht ganz verlösche (vgl. Jes 40,1 ff.).20

3. Von der Befreiung zur Gefangenschaft

Der Erfahrung einer sich verzögernden Befreiung entsprach die Bewegung von einer Theologie der Befreiung zu einer Theologie der Gefangenschaft, des Gefängnisses.21 Das biblische Modell des womöglich lange andauernden Exils rückte in den Vordergrund. Die Hoffnung auf den schnellen Exodus in das verheißene Land der Freiheit trat zurück. "An den Flüssen Babylons saßen wir und weinten" (Psalm 137) - das war die neu erkannte Situation, die es theologisch neu zu reflektieren galt.

4. Von der Gerechtigkeit zur Liebe Gottes

Gustavo Gutiérrez hatte in seiner Theologie der Befreiung "die Umgestaltung der lateinamerikanischen Wirklichkeit" anvisiert, von "Christus als Befreier" und dem Zusammenhang von "Glauben, Utopie und politische(r) Aktion" gesprochen.22 Nun aber geht es um die Frage: Wie können wir von Gott sprechen angesichts des Leidens des Unschuldigen?23 Der neue Schwerpunkt der Reflexion liegt also jetzt - und dafür steht Hiob - auf einer verantwortbaren Rede von Gott angesichts des Leidens der Schuldlosen. Während in der Anfangsphase der Befreiungstheologie betont wurde, daß Gott sich in der Befreiungsgeschichte offenbart (und gelegentlich menschliche Befreiungsgeschichte und Heilsgeschichte gleichgesetzt wurden), heißt es jetzt: "Das Geheimnis (!) Gottes geht nicht in der Geschichte auf".24 Das Dilemma: Wenn Hiob schuldlos ist, muß Gott schuldig sein oder umgekehrt, wird gesprengt: Gottes Liebe ist absichtslos, frei und "ungeschuldet". Was dem Hiob geschenkt wird, so Gutiérrez, ist der Bruch mit der Auffassung, Gottes Gerechtigkeit sei kalkulierbar und daher einklagbar. Vielmehr ist Gottes Liebe "unverdient", das heißt "beim Reden von Gott (ist) Gerechtigkeit alleine nicht das letzte Wort"25. Das wäre in den Anfängen der Befreiungstheologie als üble Weltflucht gebrandmarkt worden. Aber Gutiérrez widerruft nicht die Vorliebe Gottes für die Armen. Diese Vorliebe zeigt vielmehr Gottes "wahre" Gerechtigkeit. "Mehr als Gerechtigkeit" - auf diesen neuen Ton wird die Theologie gestimmt: Gottes Liebe ist Ausdruck seiner Freiheit, nicht Folge der Tugenden der Unterdrückten, nicht Erfüllung eines Rechtsanspruchs. Gott bleibt ganz frei in seiner Liebe. So wird allen Denkmustern widersprochen, die Gottes Freiheit und Liebe in irgendwelche Raster- wie z. B. Vergütung oder Vergeltung - einordnen und damit domestizieren wollen.

5. Von der Ideologie zur Realität

Die Kraft zu selbstkritischer Reflexion zeigt sich schließlich in der Frage, ob Befreiungsprogramme Anhalt am wirklichen Leben haben. Als Beispiel für die Kritik an einer die Verhältnisse überfliegenden Befreiungsideologie zitiere ich aus einer 1981 erschienenen Bibelauslegung. Bei einem Bibeltreffen zum Thema Leiden sagte einer: ",Ich bin wohl dafür, das Kreuz zu tragen, aber nur das Kreuz, das dem Volk Befreiung bringt!’ Darauf antwortete Dona Dalva: ,Senhor Raimundo, ich stimme dem zu. Aber wie sieht das Kreuz aus, das dem Volk die Befreiung bringt? Ich habe einen Jungen zu Hause. Er hatte eine Lähmung. Jetzt ist er schwachsinnig. Er kann nicht laufen und nicht sprechen. Ich bin es, die sich die ganze Zeit um ihn kümmert! Was soll ich machen mit diesem Leiden? Bringt es dem Volk Befreiung? Gibt es einen Platz für mich in Ihrer Gemeinde? Und für meinen Jungen?’ Raimundo wußte keine Antwort! ... Dalva schleuderte ihr Leid dem Raimundo ins Gesicht und brachte das Gebäude seiner Ideen zum Einsturz, das er sich in seinem Kopf so schön zusammengebaut hatte."26

Diese kurzen Hinweise auf Bewegungen, Schwerpunktverlagerungen und Neuorientierungen innerhalb der Befreiungstheologie vor 1989 zeigen: Die mit dem Programm kritischer Reflexion angetretene Befreiungstheologie war von Anfang an darauf eingestellt, unter dem Eindruck neuer Entwicklungen und neuer Einsichten sich selbst zu korrigieren. Dieses Potential zur Selbstkorrektur ist ein Identitätsmerkmal der Befreiungstheologie seit ihren Anfängen gewesen.27

Schon aufgrund dieser "Tradition" läßt sich die Hypothese aufstellen: Die Vertreter der Befreiungstheologie sind durch die Ereignisse des Jahres 1989 wohl überrascht worden - so wie wir alle -, aber sie wurden durch sie nicht aus der Bahn geworfen. Die Deutung "der Zusammenbruch der marxistischen Systeme hat der Befreiungstheologie den Boden entzogen und sie als Irrweg demaskiert" - diese Deutung beruht vielmehr auf einer Gleichsetzung von Befreiungstheologie und Marxismus, die sich höchstens an einigen Randphänomenen der Befreiungstheologie orientieren kann, sie aber nicht im Kern trifft, und sie beruht auf einem Wunschdenken, das mit dem Fall des Kommunismus auch die Befreiungstheologie gern fallen gesehen hätte. Die prophetische Funktion theologischer Reflexion, die eigenständige Berufung auf die Bibel, die Überprüfung kirchlicher Tradition, das Selbstbewußtsein gegenüber "Rom" - das sind Kennzeichen der Befreiungstheologie, die von den Zusammenbrüchen des Jahres 1989 unberührt geblieben sind. Das Jahr 1989 ist kein Verfallsdatum der Befreiungstheologie. Das deutet schon ihre Geschichte vor 1989 an, und das zeigen weitere neue Tendenzen nach 1989.

III. Neue Tendenzen, Problemfelder und Lernprozesse

Im Unterschied zu Fremdwahrnehmungen der Befreiungstheologie, die sie durch das Jahr 1989 in eine Krise gestellt sehen (möchten), ist in der Selbstwahrnehmung lateinamerikanischer Theologie ein anderes Jahr von viel größerer Bedeutung. Denn wenn es eine Jahreszahl gibt, die eine gewisse Weichenstellung für die neueren Entwicklungen in der Befreiungstheologie markiert, so ist es nicht das Jahr 198928, sondern das Jahr 1992, das heißt die 500. Wiederkehr der europäischen Entdeckung des später so genannten Amerika. Dieses Gedenkjahr hat nicht nur die historische Forschung im Blick auf das halbe Jahrtausend lateinamerikanischer Geschichte inspiriert, sondern die Frage nach den Konturen und Inhalten einer authentischen latein-amerikanischen Theologie neu und dringlich gestellt. Ich nenne nun einige neue Thesen und Problemfelder.





1. Die Verabschiedung des methodischen Atheismus

Schon 1991 hinterfragte Vítor Westhelle29 die säkularen Voraussetzungen der Wirklichkeitsanalyse. Die Theologen hätten so getan, als müsse man vor der Analyse der Realität den Glauben suspendieren. Das aber heißt, dem Glauben seine eigene analytische Fähigkeit absprechen. Westhelle plädiert dafür, den methodischen Atheismus durch einen Diskurs zu ersetzen, der vom Glauben getragen wird und so "die Beziehung zwischen Gott und Welt" reflektiert. Ziel ist also nicht länger eine "profane" Lektüre der religiösen Wirklichkeit, sondern eine religiöse Lektüre der Wirklichkeit. Die Religion soll nicht Objekt der Analyse bleiben, sondern ihr Subjekt werden. Dem Glauben selbst bzw. der Religion wird hier Erkenntnisqualität und Praxisrelevanz zugesprochen - im Gegensatz zu Theologien der Säkularisierung und ihrer Trennung von Welt und Glaube. Zugleich entspräche diese wieder in ihr Recht eingesetzte religiöse Weltsicht dem phantastischen, "magischen" Realismus der lateinamerikanischen Literatur der letzten vierzig Jahre - eine Literatur, in der die Mythen und Riten eine so große Rolle spielen und in der die übliche Trennung zwischen heilig und profan souverän mißachtet werde. Hier finde sich das eigentliche Material einer authentischen lateinamerikanischen Theologie. Ihre neue Aufgabe bestünde somit darin, ihre kritische Funktion und ihre Authentizität nicht im Gegenüber zu, sondern im Medium dieser ungeteilten sakral/profanen Wirklichkeit zu erweisen - wie Petrus, welcher heilte, indem er die Jesus-Geschichte erzählte (Apg 4,10-12).

2. Plädoyer für die Zweckfreiheit der Theologie

Vereinfacht läßt sich sagen: Die Befreiungstheologie ist in den Anfängen aktionsorientiert gewesen. Es galt das Primat der Orthopraxie. "Der Glaube" war - mit dem bezeichnenden Titel eines Buches des argentinischen Methodisten José Míguez Bonino - "Auf der Suche nach Effizienz"30, und diese Effizienz oder Relevanz sollte sich in der Veränderung der Gesellschaft erweisen.

Demgegenüber hat Rubem Alves, einer der Väter der Befreiungstheologie,31 für die Zweckfreiheit der Theologie plädiert. Anfang der siebziger Jahre hatte Alvez seine reformierte Kirche, die Igreja Presbiteriana do Brasil, wegen seines ökumenischen und sozialethischen Engagements verlassen müssen; in ihr habe ein "Klima der Inquisition, der Intoleranz und der Gewalt" geherrscht, schrieb Alvez 1974 im Rückblick.32 Zwanzig Jahre später, also 1994, nimmt er Abschied von einer Befreiungstheologie, die aus dem Defizit der Verhältnisse heraus operiert habe. Er plädiert für eine Theologie des Feierabends, eine Theologie sozusagen nach Dienstschluß, in der die Hände fast nichts mehr tun können - außer "kochen und schreiben"33. Er wolle sich nicht mehr "schämen, klassischer Theologe zu sein" und den Geheimnissen der Theologie nachzudenken. Er wolle sich nicht damit abfinden, nur ruhelos auf dem Wege zu bleiben, wo noch so viel zu tun ist, sondern er

sieht sich als einen, der am Ziel angekommen ist oder wenig-
stens eine Oase gefunden hat, wo er innehalten und ausruhen kann, ohne sich deshalb ein schlechtes Gewissen machen zu müssen. Mit anderen Worten: Theologie ist zweckfrei. Sie hat keine Ethik, so wie eine Sonate von Mozart keine Ethik hat. Sie ist vielmehr ganz Gegenwart, ganz dem Augenblick verpflichtet. Nachdem sich die Befreiungstheologie lange auf das noch Ausstehende konzentriert hatte, schwingt hier das Pendel zurück. Theologie ist ein Spiel und hat als solches ihre eigene Würde, ihr ureigenes Recht, auch wenn sie ein Spiel über dem Abgrund ist: "Was ich tun kann, ist, mit Symbolen spielen, und so spiele ich mit ihnen, als wäre ich eine Spinne: Ich ziehe meine Fäden über den Abgrund, diese Fäden, die Theologie heißen."

Ist das nun eine Kehrtwendung, eine Verabschiedung der Befreiungstheologie, ein Bruch mit der eigenen befreiungstheologischen Vergangenheit? Diese Frage ist aus einem doppelten Grund zu verneinen. Einmal zeigt dieses Plädoyer für eine zweckfreie Theologie an, daß der Kampf für Gerechtigkeit und Menschenwürde nicht mehr wie in den siebziger Jahren unter dem einzigen damals noch einigermaßen sicheren Dach der Kirche gekämpft werden muß: Die Theologie der Befreiung hat auch den Weg zu einer "Befreiung der Theologie"34 geebnet. Und zweitens widerspricht Rubem Alvez selbst dem Mißverständnis, der Kampf für Gerechtigkeit sei überholt. Überholt, überflüssig geworden sei vielmehr die explizit biblische, also theologische Begründung dieses Kampfes. Der Kampf für die Armen ist und bleibt selbstverständlich. Die Befreiungstheologen sollten nur nicht mehr meinen, sie allein hätten das Engagement für die Armen auf Dauer gepachtet: "Wer für die Armen kämpft, weil Gott das befiehlt, liebt die Armen nicht."

3. Von den "Armen" zu den "Ausgeschlossenen" oder: Die neue Aktualität der Bekehrung

In der frühen Befreiungstheologie hat die umstrittene ökonomische Kategorie der "Dependenz" eine bedeutende Rolle gespielt: Die Abhängigkeit der Dritten Welt von der Ersten, der Peripherie vom Zentrum. Auch wenn hierbei betont wurde, daß die Dritte Welt bzw. die Peripherie in Abhängigkeit versetzt bzw. gehalten werde, so bestand dennoch eine Art Wechselverhältnis: Auch die Erste Welt war abhängig von der Dritten, nämlich von der Ausbeutung der Rohstoffe und Arbeitskraft der abhängigen Länder. Die Reichen brauchten die Armen.

Diese Situation, so argumentieren in letzter Zeit nicht nur Befreiungstheologen, sondern etwa auch säkulare Presseorgane in Lateinamerika, hat sich geändert. Zu den Armen sind die "excluídos" gekommen, bzw. die Armen sind "Ausgeschlossene" geworden.35 Sie werden nicht mehr gebraucht, sie sind überflüssig, sie haben keine Kaufkraft und werden daher vom wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen. Hugo Assmann beziffert die Zahl dieser Ausgeschlossenen weltweit auf etwa eine Milliarde Menschen, und im symptomatischen Titel eines Aufsatzes von 1994 sagt er präzise, daß die Wahrnehmung dieser neuen Situation für die Befreiungstheologie sowohl (wiederum!) Wandel wie Kontinuität erfordere: "Teologia da Solidariedade e de Cidadania, Ou seja: Continuando a Teologia da
Libertação"36, das heißt: Theologie der Solidarität und der Bürgerrechte als Fortsetzung der Befreiungstheologie, und zwar über den lateinamerikanischen Kontinent hinaus. Hier wird die Befreiungstheologie im ursprünglichen Sinne des Wortes "ökumenisch": Ausgeschlossene gibt es auf der ganzen bewohnten Erde.

Es ist also keine Rede von einem Ende der Befreiungstheologie. Sie tritt vielmehr in eine neue Phase, indem sie sich den Ausgeschlossenen zuwendet. Gerade sie seien auf Solidarität angewiesen. Der Kampf für die Armen wandelt sich zu einem Kampf für die Bürgerrechte der Ausgeschlossenen. Und hier kommt - anders als bei Alvez - doch wieder die Theologie ins Spiel. Denn das Eintreten für die Bürgerrechte der Ausgeschlossenen sei nichts anderes als Liebe zu den Nächsten. Diese Liebe aber ist, so Assmann unter Berufung auf Sigmund Freud, keineswegs etwas Natürliches. Vielmehr ist dazu eine neue Bekehrung nötig. Deshalb ist die Theologie heute verpflichtet, nicht nur über die Bekehrung als Voraussetzung der Solidarität mit den Ausgeschlossenen zu reflektieren, "sondern einen neuen Begriff der Bekehrung zu schaffen"37.

4. "Logik des Lebens" statt "Logik der Wissenschaft"

Ein Zeichen für die neue Freiheit, in der sich die Befreiungstheologie jetzt bewegt, ist darin zu sehen, daß sie den kritischen Dialog mit Vertretern der sogenannten profanen Wissenschaften aufgenommen hat. Hier zeigt sich, worauf die Forderung einer neuen Bekehrung zielt. Es zeigt sich auch, wie die Forderung umgesetzt wird, das Gespräch mit der Wissenschaft nicht so zu suchen, daß die Theologie zuvor ihr religiöses Kleid auszuziehen hätte, um möglichst "rein wissenschaftlich" zu wirken, sondern so, daß die Theologie die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft selbstbewußt in Frage stellt. Ein Beitrag im Sammelband "Inkulturation. Herausforderungen von Heute" (1994) trägt den Titel: "Bemerkungen über den Dialog mit Wissenschaftlern und Forschern"38. Zunächst wird die Wissenschaft gleichsam vom hohen Sockel gestoßen. Die Wissenschaftsgeschichte "ist voll von Irrtümern, Betrügereien und Intrigen, die durch Eifersucht und den Neid zwischen großen Wissenschaftlern hervorgerufen werden". Dann werden die unwissenschaftlichen Voraussetzungen des Wissenschaftsideals einer kritischen Analyse unterzogen, wobei selbstkritisch auch eigene Erfahrungen benannt werden (und vielleicht treffen sie ja auch auf manche Erscheinungen im europäischen Wissenschaftsbetrieb zu?): "Ein wissenschaftliches Paradigma kollabiert so lange nicht, als es mit der mehrheitlichen Zustimmung der ,Kollegenschaft’ des jeweiligen Faches rechnen kann."

Marx hatte seinerzeit gegen die betäubende Funktion der Religion - "Opium für das Volk" - und gegen die totalisierende Tendenz der Religion polemisiert. Diese Polemik wird nun durch einen frechen Trick gegen die Wissenschaft und die Wissenschaftsgläubigkeit gerichtet. Unter der Überschrift "Der
Mythos der Wissenschaft und ihre Krise" findet sich eine Paraphrase junger Wissenschaftler aus Mexiko. In ihr wird ein Text des jungen Marx zitiert, das Wort "Religion" aber jeweils durch "Wissenschaft" ersetzt. Das Ergebnis liest sich dann so: "Die Wissenschaft unserer Tage ist einerseits Ausdruck der realen Misere, Rechtfertigung, rationale Erklärung, andererseits ist sie Hoffnung, Illusion, das illusorische Glück des Volkes" usw.39

Der Absolutheitsanspruch wird nicht dem Christentum angelastet, sondern einem "wissenschaftlichen" Ideal, welches den Pluralismus von Arbeitshypothesen ausschließt. Der für die wissenschaftliche Rationalität typische Anspruch auf "definierbare Wahrheiten" muß überwunden werden, und zwar - hier zeigt sich die Absicht der ganzen Auseinandersetzung -, um ethische Werte in die Wissenschaftskultur einführen zu können. Wir könnten auch im Sinne des vorigen Abschnitts sagen: um eine neue Bekehrung zu ermöglichen. Die Komplexität der Wirklichkeit - und zu ihr gehören auch Ethik und Religion - erfordert es, die klassischen Dualismen zu überwinden, die die Wissenschaft (und zum Teil auch die Befreiungstheologie!) bestimmt haben - wie Materie/Geist; Leben/Tod; Subjekt/Objekt; Theorie/Praxis; Realität/Fiktion. Dann wird es sich zeigen, daß es eine "Logik des Lebens" gibt, die nicht einfach mit der herkömmlichen "Logik der Wissenschaft" zu identifizieren ist.

Neu an dieser Tendenz ist nicht die Aufdeckung der oft nicht zugegebenen "unwissenschaftlichen" Voraussetzungen von Wissenschaft, sondern die Relativierung der ciência - vor allem im Sinne von Naturwissenschaft - von einer Logik des ungespaltenen Lebens aus. Nur eine solche Logik des Lebens - und das ist der eigentliche Beweggrund dieser Position - kann den ethischen Imperativ begründen, für die Werte der Humanisierung (valores humanizadoras) einzutreten.

5. Mission in neuer Gestalt

"Bekehrung" zu den Ausgeschlossenen und "Logik des Lebens"- in beiden Fällen schöpfen die Impulse aus der Religion. Wie steht es aber mit der Mission? Gerade wenn das Kolumbusjahr 1992 als Wende-Jahr angesetzt wird, wäre zu erwarten, daß nach 500 Jahren Invasionen, Ausbeutungen und Unterdrückungen jede Mission kategorisch verabschiedet wird - wenigstens von Frauen und Männern, die sich der Befreiungstheologie verpflichtet wissen.

Diese Erwartung scheint sich zu erfüllen, wenn wir das Buch von Leonardo Boff betrachten, das 1991 auf deutsch erschienen ist mit dem Titel "Gott kommt früher als der Missionar"40. Die erwartete Absage an die Mission wird bestätigt durch die Aufmachung, die den Titel wortspielerisch zu folgenden Gegentiteln in Beziehung setzt: "Früher kam Gott als Missionar", "Früher kam der Missionar als Gott", "Der Missionar kommt früher als Gott". Und in der Tat enthält es eine kritische Revision der Missionsgeschichte seit 1492. Allerdings heißt der Originaltitel: "Neue Evangelisierung. Perspektive der Unterdrückten". Und die Spitzensätze der Missionskritik lauten: "Der erste Missionar und Evangelisator ist der dreifaltige Gott selbst" - wohlgemerkt der dreifaltige, also der Gott, den die Christen im Credo bekennen. Vor den Missionaren "ist der dreifaltige Gott schon da". Und Boff führt als Beleg ein Zitat des 2. Vatikanischen Konzils Ad Gentes Nr. 2 an, wo es heißt: "Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach ,missionarisch’ - das heißt, als Gesandte unterwegs - da sie selbst ihren Ursprung aus der Sendung des Sohnes und des Heiligen Geistes empfängt, gemäß
dem Plan Gottes, des Vaters." Das klingt nun doch ganz anders, als es die Aufmachung der deutschen Übersetzung des Buches erwarten ließ. Es fällt auf, daß trotz der im Umkreis des Jahres 1992 veröffentlichten Missionskritiken dennoch am Thema Mission festgehalten wird. Allerdings gewinnt die Mission in Lateinamerika im kritischen Gespräch mit der Vergangenheit und in Solidarität mit den übriggebliebenen indianischen Repräsentanten vorkolumbianischer Kultur und Religion eine neue Gestalt. Diese soll an drei programmatischen Begriffen skizziert werden.

1. Der erste - convivência - ist als "Konvivenz" inzwischen im Deutschen übernommen worden. Die Befreiungstheologie hat ihn aus der Befreiungspädagogik Paulo Freire’s entlehnt.41 Das gemeinsame Leben mit den Unterdrückten als Voraussetzung einer Befreiungspädagogik ist zum Lebensprinzip heutiger Mission in Lateinamerika geworden. Lori Altmann hat ihre Pastoral-Erfahrung unter dem Volk der Kulina im oberen Amazonasgebiet unter dem Titel "Convivência e solidariedade"42 beschrieben. In dieser Mission als "Miteinander Leben" wird zweierlei zurückgewiesen: einmal eine Mission, die auf der hierarchischen Unterscheidung zwischen den Missionarinnen und Missionaren als Subjekten und den Missions-"Objekten" beruht. "Konvivenz enthält das Prinzip von gleich zu gleich" - es gibt nur Subjekte und daher nur "gegenseitige Mission". Und zweitens betont Konvivenz den Gegensatz zu einer leblos bleibenden Worttheologie bzw. zu einem Glauben, der sich, abgesehen von der gelebten Wirklichkeit, zu artikulieren sucht.

2. Auch das zweite Schlüsselwort ist aus missionarischer Praxis erwachsen. Es lautet permeabilidade - Durchlässigkeit.43 Damit wird eine missionarische Praxis zurückgewiesen, die eben nichts durchläßt, nichts an sich herankommen läßt. Auch diese missionarische Durchlässigkeit widerspricht einer Haltung, die die anderen zu Objekten macht, eine Haltung, die von den anderen nichts erwartet und Rückfragen an die eigene Identität ausschließt. "Permeabilität" steht also positiv ausgedrückt für einen Richtungswechsel. Der Ton liegt nicht auf dem Geben, sondern auf dem Empfangen. Nun sind die indianischen Kulturen und Religionen die Gebenden. Ihre Impulse sollen "durchgelassen" werden. So kommt es zu einer Umkehr der missionarischen Richtung. Für die missionarisch engagierten Christen hört die Mission auf, Aktion zu sein; sie wird zur Passion.

3. Der dritte Begriff, der die neue missionarische Praxis reflektiert, ist uns als "Inserat", "inserieren" als Fremdwort aus dem Lateinischen vertraut: inserção, (Insertio = "Einfügung, Einpflanzung)". Das Partizip des Wortes bezeichnet dann gleichsam das Ergebnis dieser Einpflanzung: Das Eingepflanzte wird zu etwas "Angeborenem". Während Permeabilität Mission von dem anderen erwartet, also die übliche missionarische Richtung umkehrt, zielt "Insertion" auf die Frage, welche Einstellung und welches Handeln eine solche Umkehr erst ermöglichen. Diese Frage wird ganz praktisch durch die Entscheidung beantwortet, sich in eine fremde indigene Kultur einzupflanzen, in ihr Wurzeln zu schlagen. Gemeint ist eine missionarische Praxis im Sinne von "Sich rückhaltlos einlassen", sich gleichsam auslie-
fern. Diese Praxis wird noch durch den Hinweis auf eine andere - etymologisch allerdings unhaltbare - Analogie verdeutlicht, die diese Entscheidung noch radikaler faßt: Inserção wird von in-ser, wörtlich: darin sein, abgeleitet. Es geht also nicht bloß um einen Positionswechsel. Sondern das eigene Sein wird neu gefunden und neu konstituiert im Leben der Anderen. Das neue Selbstverständnis missionarischer Inserção schafft sich auch sprachlich eine neue Identität.44

Wie weit dies führen kann, sei an einem aktuellen Beispiel veranschaulicht. Der Jesuitenpater Thomaz de Aquino Lisboa hat nicht nur den ihm vom Volk der Myky im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso verliehenen Indionamen "Jaúka" akzeptiert, sondern auch den ehrenvollen Ritus des Durchbohrens seiner Nase nach neunjähriger "Inserção" - Zeichen seiner Eingliederung in das Myky-Volk. Schließlich ging der Missionar noch einen Schritt weiter. Nach Beratungen mit Ordensleuten und Bischöfen heiratete er die für ihn von den Myky ausgewählte Frau, denn nur so konnte er wirklich einer von ihnen werden. Aber diese Form von Mission hat das Band mit seinem Orden zerrissen. Dieser betrachtet seinen früheren Priester nun als "wegen Heirat ausgeschieden".45 Diese der "Inserção" verpflichtete Mission hat nichts Aufdringliches, sie ist nonverbal, implizit. Sie vertraut auf die Langzeitwirkung missionarischer Präsenz: Als jenem ehemaligen Jesuitenmissionar und seiner ihm zugeführten Indiofrau ein Sohn geboren wurde, sagte der Vater: Ich hoffe, dieser Knabe wird "einmal den Schritt zu einer expliziten, ,sprechenden’ Missionierung" tun.

6. Vom Kollektivismus zum Multikulturalismus?

Nach diesem Überblick über neue Tendenzen in der Befreiungstheologie mag der Eindruck entstanden sein, als habe die Befreiungstheologie ihr eindeutig erkennbares Profil verloren. Das neue Panorama ist in der Tat weit gefächert: religiöse statt säkulare Deutung der Realität, Zweckfreiheit der Theologie, die neue Bekehrung zu den Ausgeschlossenen, das ungeteilte Leben gegen die Aufspaltungen der Wissenschaft, die neue Gestalt der Mission - im Vergleich zu den Anfängen vor dreißig Jahren, als der Druck der Repression die befreiungstheologischen Impulse zusammenschloß, ist jetzt alles viel komplexer geworden.46

Als ein Interpretationsmodell dieser Situation bietet sich eine Deutung von außen an - in doppeltem Sinn: eine politologische Deutung aus Europa. Sie interpretiert die neuen Tendenzen in den neunziger Jahren als Ablösung des Kollektivismus durch den Multikulturalismus.47 Hatten die Befreiungstheologen seit 1968 die Wirklichkeit unter Zuhilfenahme kollektiver Kategorien interpretiert (das unterdrückte "Volk", der kollektive Konflikt zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, zwischen Armen und Reichen), und hatten die sich befreiungstheologisch Engagierenden selber als Kollektiv gearbeitet, in welchem persönliche und sachliche Divergenzen kaum benannt und ausgetragen werden konnten, so "hat in den letzten Jahren ein zunehmender Differenzierungsprozeß ... stattgefunden".48
Multikulturalität heißt die neue Herausforderung. Eine einlinige Arbeit ist nicht mehr möglich. Vielmehr stellen sich folgende neue Aufgaben:

1. Wie können die fragmentarisierten Kräfte des "movimento popular" und die unterschiedlich arbeitenden neuen Akteure integriert werden?

2. Wie kann die neu ins Bewußtsein getretene Verschiedenheit der kulturellen und religiösen Prägungen befreiungstheologisch zusammengedacht werden? Die Armen sind eben nicht nur arm, sondern sie sind Schwarze, Indios, Männer und Frauen, Favela-Bewohner am Rande der Metropolen und Tagelöhner auf den Ländereien.

3. Die Aufgabe der Integration erfordere auch eine neue "postmoderne" Pädagogik. Das frühere alternative Projekt einer Educação popular müsse einer Pädagogik weichen, die sich pragmatisch an den bestehenden Verhältnissen orientiert, innerhalb vorhandener Institutionen arbeitet und so den Befreiungsprozeß vorantreibt.

4. Angesichts der zunehmenden Globalisierung von Problemen wie Arbeitslosigkeit und Ökologie ist ein neuer Begriff und eine neue Praxis von Ökumene erforderlich. Der "Kampf für die Befreiung der Ausgeschlossenen" kann "nur aus der Perspektive der gesamten Welt gedacht werden".

Diese Entwicklungen vom Kollektivismus zum Multikulturalismus beenden aber keineswegs den Befreiungsimpuls, sondern transformieren ihn. "Welches sind die Zeichen der neuen Zeit?", fragt Comblin. Und er antwortet: "Die Befreiung wird zur gleichen Zeit dringlicher und rückt in weitere Ferne."49

Bei Leonardo Boff findet das neue Bewußtsein der nötigen Befreiung unter den Bedingungen von Mulitkulturalität seinen Ausdruck in der Apotheose der "befreienden Methode" der Maria de Guadelupe, der einst einem Náhuatl-Eingeborenen erschienenen "dunkelhäutigen Mutter Gottes". In ihr sieht Boff den Inbegriff seiner Zukunftsvision einer befreienden, amerindianischen Kirche.50

IV. Zur ökumenischen Fortwirkung der Befreiungstheologie: Prophetie in der Nachfolge der Inkarnation

Die bisherigen Ausführungen dürften gezeigt haben: Weder das "Wendejahr" 1989 noch das für die Schärfung des theologischen Bewußtseins in Lateinamerika bedeutsamere Jahr 1992 können als Indikatoren für ein Ende der Befreiungstheologie angesprochen werden. Die Fähigkeit zur Selbstkorrektur und damit die Lebendigkeit51 dieser Theologie ist nicht erloschen. In ihrer immer wieder vollzogenen selbstkritischen Neuorientierung liegt ihr Kontinuum. Kenner sind sich darin einig, daß die Impulse der Befreiungstheologie weiter wirken werden.52

Aber wenn die Konitinuitätsbehauptung nicht bloß formal bleiben und die Überzeugung der Fortwirkung mehr sein soll
als eine petitio principii, dann ist anzugeben, aus welcher Substanz sich solche Behauptung und Überzeugung begründen. Meine These, die ich zugegebenermaßen auch aufgrund von Erfahrungen im europäischen Kontext formuliere, lautet: Die Kraft der Befreiungstheologie zu ihrer ökumenischen Fortwirkung beruht auf der Entschlossenheit, dem in der Nachfolge der Inkarnation erkannten prophetischen Mandat treu zu bleiben. - Diese These muß sich freilich gegenüber zwei Einwänden behaupten:

1. Die Befreiungstheologie hat mittlerweile ein Stadium erreicht, das sie trotz der Unübersehbarkeit ihrer literarischen Produktion als ein nun doch abgeschlossenes System erscheinen läßt. Die Tatsache, daß fast alle neuaufgelegten großen Lexika ihr eigene Artikel widmen,53 bestätigt nicht nur ihre internationale Bedeutsamkeit, sondern auch eine gewisse Distanz, aus der heraus sie nun wahrgenommen wird. Es gibt sogar ein eigenes "Kleines Lexikon zur Theologie der Befreiung"54 - ein Lexikon setzt einen Abstand voraus zu dem Sachgebiet, über das es informiert. Vor allem ist das zusammenfassend-bilanzierende zweibändige Kompendium "Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung"55 zu erwähnen und auch das dreibändige Werk "Befreiungstheologie: Kritischer Rückblick und Perspektiven für die Zukunft"56. Hier wird zwar sachgemäß und programmatisch der Rückblick mit den Zukunftsperspektiven verbunden. Aber sofern gegenwärtig überhaupt noch ein Interesse an ihr besteht, so scheinen jedenfalls im deutschsprachigen Raum aufs ganze gesehen die Zukunftsperspektiven gegenüber dem Rückblick in den Hintergrund zu treten. Die Befreiungstheologie wirkt als "Summe", die nun resümierend dargestellt werden kann; ihr Einfluß in den 70er und 80er Jahren ist unumstritten, aber sie wird jetzt überwiegend als theologiegeschichtliches Vergangenheitsphänomen rezipiert.

2. Der andere Widerspruch gegen die aufgestellte These kann sich auf die nachgewiesenen Selbstkorrekturen berufen. Diese lassen die anfangs klar profilierte und darum auch polarisierende Identität "der" Befreiungstheologie nun in einem diffusen Licht erscheinen. Die Neuorientierungen wirken sich als Profilverlust aus. Daß es ruhig geworden ist um die Befreiungstheologie, daß Verlage auf "klassischer" befreiungstheologischer Literatur sitzen bleiben und begonnene Publikationsserien abbrechen,57 dürfte auch daran liegen, daß die Interessen des hiesigen Marktes von einer als soziopolitisch angesehenen Theologie nicht mehr befriedigt werden. Wenn etwa die lateinamerikanische Befreiungstheologie durch eine "Feminist Liberation Theology" beerbt wird,58 wenn sie sich ihrerseits
auch als kontextuelle, multikuturelle, religionstheologische, ökologische oder spirituelle Theologie anbietet, dann ist nicht einzusehen, wieso zur Bedienung solcher Bedürfnisse noch eine "Befreiungs"-Theologie erforderlich ist. Wer nach Ökologie oder Spiritualität sucht, wird keinen Umweg über die Befreiungstheologie machen.

Veröffentlichungen aus der letzten Zeit erwecken die Frage, ob extreme Umorientierungen nicht bereits zu einem Verlust der prophetischen Identität geführt haben. So setzt Leonardo Boffs Buch "Von der Würde der Erde"59 mit dem Thema der ökologischen Herausforderung ein und endet mit einer religiösen Verklärung der Sexualität: Der Heilige Geist als radikale kosmische Energie und die sexuelle Dynamik, veranschaulicht durch die Kraft der Kundalini im tantrischen Yoga, lassen die Menschen "in einer gewaltigen kosmischen Fusion" Gemeinschaft finden.60 Und als ob Boff die Frage "Ist das noch Befreiungstheologie?" geahnt hätte, erklärt er, er sei mit diesem Buch "in einen anderen Schützengraben gesprungen", aber nicht "fahnenflüchtig" geworden.61 Er beansprucht also, in der Kontinuität der Befreiungstheologie zu bleiben. Aber liegt dieser andere Schützengraben überhaupt noch im Kampffeld der Befreiungstheologie? Wird der Impuls des Prophetischen, der sie von Anfang an bestimmt hatte, in dieser interreligiösen Vision nicht ausgeschaltet?

Solche Erinnerung an die biblisch orientierte Verpflichtung zur Solidarität mit den Armen und Anderen und an den Auftrag zur kritischen Prüfung der Verhältnisse am Willen Gottes ist aber heute ihrerseits dem Verdacht ausgesetzt, sie hindere die erforderliche Weiterentwicklung der Theologie der Befreiung. Das Bestehen auf dem Prophetischen wird als Indiz für Regression angesehen. So hat die feministische Theologin Rosemarie Redford Ruether dem oben genannten Gustavo Gutiérrez vorgeworfen, er wage sich nicht in neue Bereiche, wie Feminismus, Sexualität, Gentechnik, Ökologie, protestantische Glaubensauffassungen und indigene Religionen. Gutiérrez erwiderte, dies alles lenke ab vom fundamentalen Eintreten für die Armen.62 Im Unterschied zu Boff hat es Gutiérrez also abgelehnt, in einen anderen Schützengraben zu springen. Er hält an der vorrangigen Option für die Marginalisierten fest; und er steht mit dieser Reaktion gegen Korrekturwünsche aus dem "Norden" nicht allein.

So hat Walter Altmann zwar den religiösen Pluralismus in Lateinamerika (vgl. die Pfingstkirchen) zusammen mit dem Auftauchen der sozialen Gruppe der "Ausgeschlossenen" als neue, doppelte ökumenische und missionarische Herausforderung beschrieben, aber dabei den ursprünglichen Impuls der Befreiungstheologie bekräftigt: Diese habe von Anfang an die gelebte Praxis des christlichen Glaubens mit der Suche nach sozialer Transformation verbunden und eine "prophetische Kirche in Solidarität geschaffen, eine Stimme für die, die keine Stimme haben"63. Und in seinem kurz vor seiner Ermordung verfaßten Kapitel
"Utopie und Prophetie" definiert Ignacio Ellacuría Prophetie im Sinne der Anfänge der Befreiungstheologie als "kritische Kontrastierung der Verkündigung von der Fülle des Gottesreiches mit einer bestimmten historischen Situation"64.

Die Theologie der Befreiung hat sich von Anfang an nicht als bloße Genitivtheologie verstanden, sondern sich als eine neue Art, Theologie zu treiben, begriffen. Um diesen Anspruch gegenüber dem Mißverständnis, sie sei lediglich eine theologisch verbrämte Ideologie des Klassenkampfes, zu erläutern, hatte ich sie seinerzeit als Theologie "In der Nachfolge der Inkarnation" interpretiert.65 Inzwischen ist es wohl nötig, ihre prophetische Dimension66 wieder eigens herauszustellen, gerade weil das Prophetische derzeit - auch unter Theologiestudierenden ("weil es die Harmonie stört") - mit Argwohn betrachtet wird oder dem christlichen Bewußtsein schon entschwunden ist. Daher bedarf es der Anamnesis des Anfangs der Befreiungstheologie. Für sie ist Nachfolge der Inkarnation: prophetische Existenz. Daher seien ans Ende zwei Worte des Anfangs von Pedro Casaldáliga gestellt.



Prophet --> Inkarnation



Prophet --> Das universale Wort

ist spricht nur Dialekt ...

wer mit den Augen schreit --> willst du nicht schweben in Wolken

nimm den Landweg mein Freund67.

Summary

Does the collapse of the Berlin Wall, the collapse of the socialist system, imply the end of Latin American Liberation Theology - force upon it self-correction? This question is given often an affirmative answer (I). Against this it is argued here that Liberation Theology did not first correct itself in 1989, and from outside. On the contrary, ’reflection’, a review of its own premisses, has been a characteristic and a programme of Liberation Theology all along (II).

The ’Columbus Year’ 1992 provided an opportunity to ask afresh what an authentic Latin American Theology might be. The following new tendencies became apparent: a rejection of methodical atheism, a stress on the free purpose of Theology, an awareness of the ’Excluded’, working out new ideas of mission, and so on (III).

The final point here is this: an ecumenical continuation of Liberation Theology really depends upon its loyalty to its original prophetic mission. There are certainly contrary claims in Europe, in North America, and also in Latin America. They demand that Liberation Theology must reject its ’one-sided’ image in order to correspond to the spirit of the age. Against this, however, it must assert its ’prophetic function’ (Gutiérrez) (IV).

Fussnoten:

1) 1996 wurde ich bei Gastvorlesungen an der Theologischen Fakultät Helsinki gebeten, zum Thema "Does Liberation Theology have a Future in Latinamerica?" zu sprechen. Diese Frage beruhte auf der Sorge, die Ereignisse des Jahres 1989 könnten das Aus für die Befreiungstheologie bedeuten.

2) Vgl. Guido Heinen, "Mit Christus und der Revolution". Ge- schichte und Wirkungen der "iglesia popular" im sandinistischen Nicaragua (1975-1990), Stuttgart 1995; vgl. meine Rezension in: ThLZ 121, 1996, 991 f.

3) Vgl. Michael M. Weber, Fördern die Kirchen den Klassenkampf? Ein Angriff auf die freiheitlich-pluralistische Demokratie - der Re-Import der Befreiungstheologie nach Europa, in: Zeit-Fragen (Zürich), Nr. 11-12, Nov./Dez.1998, 5 f. Der Leitsatz lautet: "Die Befreiungstheologie ist eine für Länder der dritten Welt konzipierte marxistische Instrumentalisierung und Umdeutung der Theologie. Seit ein paar Jahren wirken Befreiungstheologen auch in Europa und attackieren Freiheit und Demokratie. Die christlichen Kirchen sollen für eine revolutionäre Veränderung der westlichen Gesellschaften eingespannt werden."

4) Vgl. z. B.: Wolfgang Schürger, Theologie auf dem Weg der Befreiung. Geschichte und Methode des Zentrums für Bibelstudien in Brasilien, EMMÖ 24, Erlangen 1995; Thomas Schmeller, Das Recht der Anderen. Befreiungstheologische Lektüre des Neuen Testaments in Lateinamerika, NTA NF 27, Münster 1994; Michael Fricke, Bibelauslegung in Nicaragua: Jorge Pixley im Spannungsfeld von Befreiungstheologie, historisch-kritischer Exegese und baptistischer Tradition, Münster 1997.

5) Vgl. R. Azzi u. a. [Hrsg.], Theologiegeschichte der Dritten Welt. Lateinamerika, Gütersloh 1993.

6) Vgl. Burkhard Weber, Ijob in Lateinamerika. Deutung und Bewältigung von Leid in der Theologie der Befreiung, Mainz 1999.

7) Vgl. Franz Weber, Gewagte Inkulturation. Basisgemeinden in Brasilien: eine pastoral-geschichtliche Zwischenbilanz, Mainz 1996; Franz Marcus, Kirche und Gewalt in Peru. Befreiende Pastoral am Beispiel eines Elendsviertels in Lima, Münster 1998.

8) Vgl. Stephan Kriesel, Der Körper als Paradigma: Leiblichkeit in Volksreligiosität und Theologie Brasiliens (Heidelberger Dissertationsprojekt).

9) Cristãos rumo ao século XXI, nova caminhada de libertação, 3. Aufl., São Paulo 1996.

10) A. a. O., 9.

11) 1956 bis 1964 regierten die Präsidenten Kubitschek, Quadros und Goulart, danach setzten die Militärdiktaturen ein.

12) A. a. O., 10.

13) Gustavo Gutiérrez, Teología de la Liberación, Salamanca 1971, 1. Aufl. der deutschen Übersetzung: Theologie der Befreiung, München/ Mainz 1973, 21, vgl. 6-21.

14) A. a. O. (deutsche Ausgabe), 18.

15) A. a. O., 20 f.

16) Vgl. a. a. O., 21.

17) Ebd.

18) Belege bei H. Brandt, Gottes Gegenwart in Lateinamerika, Hamburg 1992, 19-29.

19) Siehe H. Brandt [Hrsg.], Die Glut kommt von unten, Neukirchen 1981, 61.

20) Vgl. Carlos Mesters, Die Botschaft des leidenden Volkes, Neukirchen 1992.

21) Vgl. Leonardo Boff, Teologia do cativeiro e da libertação, Lissabon 1976.

22) A. a. O. (wie Anm. 13), 102 ff., 168 ff., 224 ff.

23) G. Gutiérrez, Von Gott sprechen in Unrecht und Leid - Ijob, Mainz/München 1988, die Originalausgabe erschien 1986 unter dem Titel: Hablar de Dios desde el sufrimiento del inocente. Una reflexión sobre el libro de Job.

24) A. a. O. (deutsche Ausgabe), 45.

25) A. a. O., 129.

26) Carlos Mesters, Die Botschaft des leidenden Volkes, Neukirchen 1982, 91 f.

27) Vgl. auch die Reaktionen der frühen Befreiungstheologie auf die Kritik innerhalb der EATWOT (Ecumenical Association of Third World Theologians): Arnulf Camps, Die Ökumenische Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen 1976-1988: ein komplizierter Bruch, in: Giancarlo Collet [Hrsg.], EATWOT als Herausforderung westlicher Theologie und Kirche, Immensee 1990, 183-200, und die ständigen Selbstkorrekturen in der brasilianischen Debatte über den Gemeindeaufbau: Paulo Alfonso Butzke, Gemeindeaufbau in der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien seit 1945, EMMÖ 26, Erlangen 1998.

28) Die Befreiungstheologie hat "niemals eine Option für den Sozialismus getroffen, sondern für die Armen"; man habe dem Sozialismus und der marxistischen Gesellschaftsanalyse "lediglich" eine Vermittlungsfunktion eingeräumt im Blick auf das Ziel der Verwirklichung eines besseren Lebens und der Gerechtigkeit für die Armen. So Leonardo Boff, Implosão do Socialismo e Teologia da Libertação, in: CEDI [Hrsg.], Tempo e Presença, 7/8 (Nr. 252), São Paulo 1990, 36; vgl. Bruno Kern, Theologie im Horizont des Marxismus. Zur Geschichte der Marxismusrezeption in der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, Mainz 1992, und Gerhard Kruip, Die Theologie der Befreiung und der Zusammenbruch des realen Sozialismus- eine unbewältigte Herausforderung, in: ZMR, 80, 1996, Heft 1, 3-25.

29) 15 Notas sobre a presente situação teológica na América Latina, hektogr., São Leopoldo 20.2.1991, vgl. auch meinen Beitrag: Säkularisierung in der Fremde. Die lateinamerikanische Wiederentdeckung des Zaubers der Welt, in: Dialog der Religionen, 5/1995, 147-161.

30) La fe en busca de eficacia. Una interpretación de la reflexión teológica latinoamericana de liberación, Salamanca 1977.

31) Vgl. seine Dissertation A theology of human hope, Washington D.C., 1969.

32) Vgl. Hans-Jürgen Prien, Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen 1985, 835 f.

33) Interview mit R. Alvez, in: Notas 1, Nr. 2, São Paulo 1994, 10-12, daraus auch die folgenden Zitate.

34) Juan Luis Segundo SJ, The Liberation of Theology (1975), New York 1996.

35) Einige Autoren verwenden für die neue "Qualität" der Armut auch Begriffe wie proscrição, Ächtung, oder sprechen von "Verniemandung" der Menschen bzw. davon, daß die Länder des Südens unsichtbar gemacht werden. Vgl. Ulrich Schoenborn, "Ausgeschlossen vom Markt - ausgeschlossen vom Heil? Anmerkungen zur teologia dos excluídos", in: Una Sancta 3/1996 (209-218, 238), bes. 213 mit Anm. 16.

36) In: Notas (wie Anm. 34), 2-9.

37) Vgl. zu diesem Abschnitt Leonardo Boff, Theologie der Ausgeschlossenen? In: Brasilien Dialog (Mettingen), 1+2/1994, 14 f.; Ulrich Schoenborn, Widerruf oder Affirmation? Die "Ausgeschlossenen" als neuer Fokus in der "Theologie der Befreiung" (Literatur!), in: epd-Dokumentation 1/1997, 59-68, und als Beispiel für die Publizität des Themas der Ausschließung: Gênese da exclusão, in: VEJA (Brasilien), 9.3.1997, 9-11; O povo tem raiva, a. a. O., 6.8.97, 9-13; As razões do Presidente (Interview mit dem Soziologen und gegenwärtigen brasilianischen Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso), a. a. O., 10.9.97, 22-33.

38) Hugo Assmann, Notas sobre o dialogo com Cientistas e Pesquisadores, in: Márcio Fabri dos Anjos (Hrsg.), Inculturação. Desafios de Hoje, Petrópolis 1994, 139-156.

39) A. a. O., 149.

40) Düsseldorf 1991.

41) Belege in meinem Anm. 18 erwähnten Buch, 22 f., vgl. für die Rezeption Theo Sundermeier, Konvivenz als Grundstruktur ökumenischer Existenz heute, in: ÖEh 1/1986, 49-100.

42) São Leopoldo 1990.

43) Belege zum Folgenden in der hektographierten Magisterschrift des brasilianischen Missiologen Roberto Ervino Zwetsch, Com as melhores intenções. Trajetórias missionárias luteranas diante do desafio das comunidades indigenas (1960-1990), São Paulo 1993, bes. 429 ff.

44) Vgl. Monika Ottermann, Neu-Evangelisierung in der brasilianischen Gesellschaft, in: Ulrich Schoenborn [Hrsg.], Hermeneutik der Theologie der Befreiung, Mettingen 1994, 120-139.

45) A. a. O., 126. Übrigens gibt die Vulgata in Rö 11,17 enkentrizein mit inserere wieder; mein brasilianischer Kollege V. Westhelle machte mich darauf aufmerksam, daß inserçâo eher im protestantischen Bereich verwendet werde - in Entsprechung zur "katholischen" Inkarnation.

46) Vgl. Comblin, a a.O. (Anm. 9), 6: "Agora tudo parece complexo."

47) Vgl. Roland Spliesgart, Wird der Kollektivismus durch den Multikulturalismus abgelöst? Herausforderungen für die 90er Jahre, in: Jahrbuch für kontextuelle Theologie 95, Frankfurt/M. 1995, 95-113.

48) A. a. O., 103.

49) "A libertação torna-se, ao mesmo tempo, mais urgente e mais remota." A. a. O. (Anm. 9), 6.

50) In: Gott kommt früher als der Missionar, 136; vgl. dazu: Richard Nebel, Santa María Tonantzin. Religiöse Kontinuität und Transformation in Mexiko, Immensee 1992.

51) Belege für die fortwährende Ausstrahlungskraft: Die Kongregation für die Glaubenslehre sah sich genötigt, ihrer polemischen Instruktion "Über einige Aspekte der ,Theologie der Befreiung’" eine weitere, positive, "Über die christliche Freiheit und die Befreiung" folgen zu lassen: AAS 57(1984) und AAS 70 (1986); die Evangelikalen, wenigstens außerhalb Europas, haben in überraschender Weise Anstöße befreiungstheologischer Praxis und Hermeneutik aufgenommen, vgl. Rene Padilla, El Evangelio hoy, Buenos Aires 1975, und hierzu meinen Beitrag: Das Volk als Träger von Gottes Verheißung, in: FuH 35, 1998, 75-98.

52) Vgl. zwei Beiträge, deren Titel sich wie Frage und Antwort aufeinander beziehen lassen: Walter Altmann, Wo steht die Befreiungstheologie heute?, in: MDKI 3/1997, 48-52, und Ulrich Schoenborn, Die Befreiungstheologie lebt, in: Mitteilen, Hermannsburger Missionsblatt, 4/1997. Vgl. auch Walter Altmann, Oneide Bobsin, Roberto E. Zwetsch, Perspectivas da Teologia da Libertação. Impasses e Novos Rumos num Contexto da Globalização, in: Estudos Teológicos, 37, 1997, 129-138.

53) EKL, 3. Aufl., Bd. 2, 380-383 (Theodor Strohm); RGG, 4. Aufl., Bd. 1, 1207-1213 (Walter Altmann, Daniel Mourkojannis, Vítor Westhelle); LThK, 3. Aufl., Bd. 2, 130-137 (Giancarlo Collet, Thomas Hausmanninger, Gustavo Gutiérrez, Norbert Mette).

54) Horst Goldstein, Düsseldorf 1991.

55) Hrsg.: Ignacio Ellacuría, Jon Sobrino, Luzern, Bd. 1: 1995, Bd. 2: 1996.

56) Hrsg.: Raúl Fornet-Betancourt, Bd. 1: Bilanz der letzten 25 Jahre (1968-1993), Bd. 2: Kritische Auswertung und neue Herausforderungen, Bd. 3 : Die Rezeption im deutschsprachigen Raum, alle: Mainz 1997.

57) So der Patmos-Verlag, Düsseldorf, seine "Bibliothek Theologie der Befreiung" mit Übersetzungen lateinamerikanischer Autorinnen und Autoren; von 1988-1992 sind 16 Bände erschienen.

58) Die EnCR(E), Bd. 11, 404-408, verhandelt z. B. unter "Political Theology" (Frederick G. Lawrence) nach der Lateinamerikanischen die Feministische Befreiungstheologie.

59) Düsseldorf 1994.

60) A. a. O., 179, 181.

61) A. a. O., 9.

62) Vgl. Pressedienst des ÖRK eni Nr .4 vom 26.2.97, 16.

63) Religious Pluralism and the Emergence of the Excluded as Challenges to Ecumenism and Mission in Latinamerica, in: Vision Mission 2/1998 (3-10), 8.

64) In: Mysterium Liberationis (= Anm. 55), Bd.1. (383-431), 386, vgl. darin auch den Abschnitt "Prophetie der Befreiung", 405-408.

65) ZThK 78, 1984, 367-389.

66) Dies schließt die Möglichkeit des Martyriums mit ein; vgl. dazu H. Brandt, Widerstand und Vergebung. Lateinamerikanische Perspektiven zum Verhältnis von Religion und Macht, in: J. Mehlhausen [Hrsg.], Recht, Macht, Gerechtigkeit, Gütersloh 1998, 769-790.

67) P. Casaldáliga, Wie eine Blume aus Feuer (1979), Neukirchen 1992, 12, 34.