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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

68–70

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Christian

Titel/Untertitel:

Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik.

Verlag:

Berlin­New York: de Gruyter 1994. XVII, 350 S. 8° = Schleiermacher-Archiv, 15. Lw. DM 198.­. ISBN 3-11-014172.

Rezensent:

Bernd Jaspert

Die Frömmigkeitsabstinenz, Spiritualitäts- und Religionsfeindlichkeit in gewissen deutschsprachigen theologischen Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jh.s hat sich bis zum Ende des Saeculums nicht durchsetzen können, nicht nur in der internationalen, auch in der deutschen Theologie nicht. Seit einiger Zeit ist eine beachtliche Neubesinnung auf Frömmigkeit in der kirchlichen Praxis wie in der theologischen Theorie festzustellen. In den interkonfessionellen und interreligiösen Bewegungen hat man längst erkannt, daß das Thema Frömmigkeit von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, auch wenn hier aus bestimmten Gründen der Begriff Spiritualität zur Bezeichnung der Sache und des Prozesses, um die es geht, bevorzugt wird.

Frömmigkeit ist heute wie nie zuvor in diesem Jh. Gegenstand verschiedener Forschungszweige, so z. B. Religionswissenschaft, Theologie, Geschichte, Literaturwissenschaft, Kunst- und Musikwissenschaft, Psychologie. Mehr noch als ihre Idee ist Frömmigkeit als verantwortlich gelebte Religion wieder gefragt und als Aufgabe der Wissenschaft erkannt.

Das zeigen die Ergebnisse einer interdisziplinären Studientagung im Februar 1993 in Hofgeismar, an der Christian Albrecht mit beachtenswerten "Erwägungen zur Leistungsfähigkeit von Schleiermachers Frömmigkeitstheorie im interdisziplinären Disput" beteiligt war (jetzt abgedruckt in: Bernd Jaspert [Hg.], Frömmigkeit. Gelebte Religion als Forschungsaufgabe. Interdisziplinäre Studientage, Paderborn 1995, 101-111).

Noch bevor das hier anzuzeigende Buch erschien, bekamen die Teilnehmer jener Tagung einen Eindruck von der beachtlichen Leistung, mit der hier ein junger evangelischer Theologe Schleiermachers Frömmigkeitstheorie für die so ganz und gar anders gelagerte gegenwärtige theologische Situation fruchtbar zu machen versuchte. Sein Plädoyer für eine wissenschaftssystematische Transparenz der theologischen Frömmigkeitsforschung beruhte auf der Überzeugung, daß die theologische Frömmigkeitstheorie enzyklopädisch sein muß in dem Sinne, daß sie alle theologischen Disziplinen umfaßt, und zugleich in dem Sinne, daß sie als "Theorie über das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft" (a. a. O., 110) eine "allgemeinwissenschaftlich kompatible Gestalt tragen" muß, "die sie für nichttheologische Wissenschaften verstehbar, benutzbar und in ihrer Bedeutung einschätzbar macht". Denn es gehört zur Aufgabe der Theologie, "das Beziehungsgefüge zwischen den allgemeinwissenschaftlichen und den spezifisch theologischen Aspekten einer jeden Frömmigkeitstheorie beschreiben zu können" (a. a. O, 111).

Was A. in seinem Hofgeismarer Vortrag kurz resümierte, kann nun in seiner Hamburger theologischen Dissertation vom WS 1992/93 bei Hermann Fischer im einzelnen nachgelesen werden. Vorweg gesagt: Die Lektüre lohnt sich, denn nie zuvor wurde Schleiermachers Frömmigkeitstheorie so detailliert, systematisch und im jeweiligen Argumentationsgang Stück für Stück überzeugend untersucht wie hier. A.s Buch ist damit ein Meilenstein in der Schleiermacherforschung, den niemand übersehen darf, der sich über Grund, Ort, Entwicklung und Absicht der Frömmigkeitstheorie Schleiermachers zu orientieren hat. Und wenn nicht alles täuscht, hat die neuerliche Hinwendung (zumindest eines Teils) der protestantischen Theologie zu Schleiermacher noch nicht zu einer umfassenden Erkenntnis der Konsequenzen geführt, die seine Frömmigkeitsidee für Theologie und Kirche in ihrer Auseinandersetzung mit einem Beliebigkeitsmarkt der Möglichkeiten von christlicher und interreligiöser Spiritualität haben könnte. Sie könnte nämlich ­ davon ist auch A. überzeugt ­ nichts weniger als Klarheit schaffen. Schon alleine deshalb lohnt es, sich durch dieses Buch in die gelegentlich durchaus komplizierten Gedankengänge des großen Berliner Theologen einführen und auf den Weg neuer Erkenntnisse über die Bedeutung der Frömmigkeit für Glaube und Vernunft mitnehmen zu lassen.

A.s Hauptthese lautet: Schleiermachers Frömmigkeitstheorie in den Reden, der Glaubenslehre und in der Dialektik kann "als eine zusammenhängende, allgemeine Theorie der Realitätsbezogenheit des Bewußtseins verstanden werden" (5). Ein solches Verständnis ist jedoch nur nach einer zuvor erfolgten Rekonstruktion des systematischen Rahmens und des je eigenen Kontextes der Entfaltungen des Topos Frömmigkeit im Werk Schleiermachers möglich. Alle drei von Albrecht herangezogenen Werke enthalten eine spekulative Ableitung des Wesens der Frömmigkeit bei z. T. unterschiedlicher Nomenklatur: In den Reden ist es die Theorie der "Religion", in der Glaubenslehre die Theorie der "Frömmigkeit", in der Dialektik die Theorie des "unmittelbaren Selbstbewußtseins" oder "Gefühls". Völlig sachgemäß benutzt Albrecht als Oberbegriff für alle drei Variationen das Wort "Frömmigkeitstheorie". Denn Schleiermacher selbst hat sich im Laufe der Zeit vom Religionsbegriff der Reden immer weiter distanziert. Auch war er sich der Erläuterungsbedürftigkeit des Gefühlsbegriffs zunehmend bewußt und gab schließlich ­ etwa in der Philosophischen Ethik, der Kurzen Darstellung, der Praktischen Theologie und der Christlichen Sittenlehre ­ dem Terminus Frömmigkeit den Vorzug. Frömmigkeit ist für Schleiermacher eine unverwechselbare, souveräne Funktion des menschlichen Bewußtseins. Und um dieses geht es in allen drei von Albrecht untersuchten Werken.

Im ersten Kapitel seines Buches skizziert Albrecht die Grundzüge des Schleiermacherschen Gesamtsystems. Dieser Vorbau ist insofern gerechtfertigt, als die neueste Schleiermacherforschung gezeigt hat, "daß sich die einzelnen Teile und der umfassende Rahmen des Schleiermacherschen Denkens einem einheitlichen systematischen Konzept verdanken" (15). Dabei wurde auch erkannt, daß als die organisierende Mitte des Ganzen Schleiermachers ­ allerdings nur fragmentarisch überliefertes ­ System der Wissenschaften anzusehen ist, das der Vf. schwerpunktmäßig aus der Dialektik und der Philosophischen Ethik erhebt. Mit der Rekonstruktion der Wissenschaftstheorie schafft der Vfn. die notwendige Voraussetzung zum Verständnis der Art und Weise, wie Schleiermacher die Frömmigkeit im Kontext von Glaube und Vernunft lokalisiert und woraufhin er sie bezieht. Dabei wird schon hier deutlich, daß Schleiermachers Ansatz weitaus komplizierter war, als es manche seiner Epigonen und Gegner ahnen ließen. Seine These, daß das Wissen und das Sein identisch strukturiert sind, provoziert die Frage: "Wie aber wird diese Übereinstimmung des Wissens mit dem Sein ihrerseits zum Gegenstand des subjektiven Bewußtseins?" Und weiter: "Wie kann das wissende Bewußtsein seiner eigenen Bezogenheit auf das Sein gewiß sein?" (104) Das ist das offene Grundproblem im System der Wissenschaften. Die Antwort darauf gibt Schleiermacher in seiner Frömmigkeitstheorie.

Im zweiten Kapitel entfaltet A. die Frömmigkeitstheorie der Reden "Über die Religion", im dritten Kapitel die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre und im vierten Kapitel die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik.

Ergebnis: Wie vielgestaltig sich Schleiermachers Frömmigkeitstheorie in allen drei Werken im einzelnen auch darbietet, so zieht sich doch durch alle als roter Faden der Erweis der Gleich-ursprünglichkeit von Frömmigkeit und Vernunft.

"Die Wirklichkeit der Frömmigkeit erschließt sich als Innewerden der Faktizität der Vernunft ­ und die Inanspruchnahme der Vernunft bedeutet ipso facto das Innewerden der Faktizität der Frömmigkeit. Damit weisen die Autonomie der Frömmigkeit und die Autonomie der Vernunft jeweils auf einen identischen, gleichermaßen transzendenten wie transzendentalen Grund hin, der die Gegensätzlichkeit von Vernunft und Frömmigkeit sowohl konturiert als auch relativiert. Die Rückbesinnung der gegenwärtigen systematischen Theologie auf Schleiermacher erfolgt also zu Recht" (317).

Ein spezieller Beitrag zur Schleiermacherforschung ist die Gliederung der ersten Auflage der Reden, die A. in einem An-hang (333-350) in z. T. starker Abweichung von R. Ottos und F. Hertels Gliederungsvorschlägen bietet. In jedem Fall kann man seiner These zustimmen, "daß den Reden ein systematisch motiviertes Kompositions- und Argumentationsprinzip zugrunde liegt" (333). Die einheitliche Theorie der Realitätsbezogenheit des Be-wußtseins, die Schleiermacher in verschiedenen Phasen seines Werkes als Frömmigkeitstheorie entwickelt hat, ist unüberholt. Eine Besinnung auf sie kann in einer Zeit, in der der christliche Glaube wieder einmal auf dem Spiel der Vernunft steht, nur gut tun und von Nutzen sein. Dazu einen neuen Anstoß gegeben zu haben, ist das Verdienst dieses ­ leider viel zu teueren ­ gründlichen Buches.