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Ausgabe:

März/1999

Spalte:

251–268

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Erdmann Sturm

Titel/Untertitel:

Zwischen Apologetik und Seelsorge*
Paul Tillichs frühe Predigten (1908-1918)

Paul Tillich hat seit seinem 1. Theologischen Examen (im Frühjahr 1909) bis zum Beginn seiner Lehrtätigkeit als Privatdozent an der Berliner Theologischen Fakultät im Jahre 1919 ununterbrochen im Dienst seiner Landeskirche, der Evangelischen Kirche der Provinz Brandenburg, gestanden, zunächst als Kandidat der Theologie, Vikar und Hilfsprediger (in Lichtenrade, Nauen, Treptow, Moabit und Lankwitz), dann während des ganzen 1. Weltkrieges als sog. überetatmäßiger, also zusätzlicher und freiwilliger Feldgeistlicher in verschiedenen Kampfgebieten an der Westfront, schließlich vom Oktober 1918 bis zu seiner Entlassung aus dem Militärkirchendienst im Dezember 1918 als Garnisonpfarrer an der Militärkirchengemeinde in Spandau und im Jahre 1919 als Stadtvikar von Berlin.

Während dieser zehn Jahre hat Tillich seine beiden Dissertationen über Schelling2 geschrieben, seine "Systematische Theologie"3 von 1913 konzipiert sowie seine Habilitationsschrift von 19154 verfaßt. In die Zeit seiner Tätigkeit in der Gemeinde Moabit gehören aber auch seine apologetischen Vorträge, die sog. Vernunftabende. Tillich wandte sich mit dieser Arbeit an einen kleinen Kreis von Gebildeten, die an philosophischen und geistig-kulturellen Fragen interessiert waren, aber der Kirche mehr oder weniger fernstanden. Natürlich besteht zwischen seinen theologischen Arbeiten, seiner apologetischen Tätigkeit und seinen Predigten ein untergründiger Zusammenhang.

In einer der zehn Promotionsthesen, die Tillich von Nauen aus im Februar 1912 der Theologischen Fakultät in Halle vorlegte, heißt es: "Die Kirche kann ihrer apologetischen Arbeit an den Gebildeten nur dann gerecht werden, wenn sie weder die Verteidigung kirchlicher Lehren, noch Grenzregulierungen zwischen Glauben und Wissen anstrebt, sondern das lebendige dialektische Verhältnis des vorhandenen Geisteslebens zum Christentum offenbar macht."5 Diese These baut er ein Jahr später zu einer ausführlichen Denkschrift mit dem Titel "Kirchliche Apologetik"6 aus und legt sie dem Konsistorium vor. In ihr beschreibt er die geistige Lage der Gegenwart, insbesondere das "dialektische Verhältnis" von Kultur und Christentum.

"Dialektisch" ist dieses Verhältnis deshalb, weil einerseits die Kirche die Massen verloren hat und auch die Gebildeten nicht mehr erreicht und die Kultur der Kirche fernsteht, in vielen Fällen sogar ausgesprochen antikirchlich, antichristlich und antireligiös auftritt, die moderne Kultur andererseits aber nicht durch Begriffe wie Materialismus, Positivismus, Atheismus und Unglaube zu fassen ist, sondern durchaus als "christianisierte Kultur" verstanden werden kann.

Von dieser Kultur behauptet Tillich: "Ein gewaltiges Ringen um neuen geistigen Gehalt hat begonnen, ... durchsetzt mit Elementen der Skepsis, immer durchaus individualistisch und doch innerlich und unbewußt hinausstrebend über Individualismus und Skepsis, meistens orientiert an einem ästhetisch-aristokratischen Persönlichkeitsideal und doch außerstande, sich der Gewalt des sozialen Gedankens zu entziehen, unbegrenzt kritisch gegen alles Gedankliche und doch weit offen für Tiefe und Mystik."7 Die Kirche ist also durch die geschichtliche Lage nicht nur zu einem Engagement in der sozialen Frage herausgefordert, sondern auch zur Apologetik.

In der Denkschrift "Kirchliche Apologetik" unterscheidet Tillich zwischen der apologetischen Arbeit in Gestalt von Vortrag und Diskussion auf einem "Vernunftabend" einerseits und der kirchlichen Predigt andererseits. Den Zusammenhang zwischen Apologetik und Dogmatik und Predigt legt er nicht dar. Aber zweifellos gibt es bei Tillich einen solchen Zusammenhang. Die Apologetik, verstanden nicht als Verteidigung, sondern als Angriff, kann doch nicht nur eine Sache der "Vernunftabende" sein, sie ist auch eine Herausforderung für die Theologie und für die Predigt. Tillich hat, wie vor ihm Schleiermacher in seinen "Reden", jedenfalls in den Jahren 1912 und 1913, ausschließlich die Gebildeten im Blick. Der Begriff des "Gebildeten" hat natürlich seine eigene Dynamik und Dialektik. Gebildete sind Fragende, Suchende, Ringende, Zweifelnde, "unbegrenzt kritisch gegen alles Gedankliche und doch weit offen für Tiefe und Mystik".8 In diesem Sinne richtet sich Tillich auch in seinen Predigten an Gebildete, und in diesem Sinne sind seine Predigten auch apologetisch.

Apologetik kann in Seelsorge übergehen, wenn aus dem kritisch-dialektischen Diskurs das Gespräch von Mensch zu Mensch wird. In der erwähnten Denkschrift über die kirchliche Apologetik deutet Tillich diese Möglichkeit an: "Erst in der Aussprache von Mensch zu Mensch fallen die letzten Schranken, und nur so können die tiefsten Wirkungen ausgeübt werden. Der Apologet wird zum Seelsorger".9 Dies gilt allerdings auch für die Predigt. Sie kann den einzelnen oder die einzelnen oder auch eine Gemeinschaft trösten und stärken oder auch ermahnen.

In seinem Bericht über seine Tätigkeit als Feldprediger10 unterscheidet er (im Anschluß an Friedrich Niebergall)11 zwischen der Vermittlung von Quietiven (Trostgründen) und Motiven (Beweggründen). Wegen seiner Zuhörer, aber auch seiner persönlichen Veranlagung nach, so berichtet Tillich, überwiege bei ihm die auf den "mystischen tröstenden Ton" gestimmte Predigt, die Predigt im Sinne des johanneischen Wortes "Ihr seid meine Freunde" (Joh 15,14).12 Das heißt aber auch: In den Feldpredigten tritt nicht nur das apologetische, sondern auch das motivierende Element hinter dem mystischen und tröstenden Element zurück.

Zwischen diesen beiden Polen, der Apologetik und der Seelsorge, bewegen sich Tillichs frühe Predigten. Sie sind immer apologetisch und seelsorgerlich. Sie reden von Gott, indem sie einerseits die geschichtlich-geistige Situation deuten und andererseits den einzelnen Menschen, nicht zuletzt den einzelnen Menschen, der der Prediger selbst ist, als religiös bestimmten Menschen in seiner geschichtlichen Lage ernstnehmen. Aber beide, die Apologetik und die Seelsorge, sind in Tillichs Predigten während der zehn Jahre - wie könnte es anders sein? - nicht gleichmäßig vertreten. Bedingt durch die geschichtliche Lage, den Kairos, wie Tillich später sagen wird, verlagert sich zunehmend das Schwergewicht der Predigt von der Apologetik zur Seelsorge hin. Folgen wir nun dem Prediger Paul Tillich auf sechs Stationen seines Predigens von 1908 bis 1918!

1. Die Examenspredigt (1908)13

Tillichs erste Predigt, seine Examenspredigt von 1908, kann man eine Predigt über die apologetische Aufgabe des Predigers oder des Predigens nennen. Ihr kommt sicherlich grundsätzliche Bedeutung zu, handelt es sich doch immerhin um eine dem Königlichen Konsistorium zur 1. Prüfung vorgelegte Predigt.

Text ist der Abschnitt 1Kor 3,21-23. Der Schlußsatz "Alles ist euer, ihr aber seid Christi" bekommt besonderes Gewicht. "Alles ist euer" heißt: Wir sollen nicht nur auf Paulus, Apollos und Kephas hören, sondern auf alles in der Welt, was von Gott kommt und was Gott geschaffen hat. "Wir machen uns des Unglaubens schuldig und rauben Gott die Schöpferehre" - behauptet Tillich -, "wenn wir uns verschließen gegen alles, was der Menschengeist Großes und Wahres geschaffen hat." Wir dürfen uns nicht "der Erkenntnis Gottes berauben, in Natur und Geist, in den Sternen des Himmels, in den Pflanzen und allen Geschöpfen und mehr noch in des Menschen Denken und Fühlen, in den Schätzen, die Gott verborgen hat in seinem Geist".

Wenn aber alle Weisheit und Erkenntnis im Herrn verborgen sind (Kol 2,3), warum sollen wir dann Gott in allem suchen, was von ihm kommt? Tillich löst den Widerspruch auf, indem er der göttlichen Antwort unser Fragen und Suchen und Ringen vorordnet. "Wir wissen, daß im Herrn alle Erkenntnis beschlossen ist, aber nur der erhält von ihm Antwort, der fragt; nur der wird von ihm gestillt, der eine heiße Sehnsucht hat, nur dem ist er der Fels, der gekämpft hat und schwach geworden ist.
Darum wollen wir uns von den Lehrern der Welt, von ihren Dichtern und Denkern, hinabführen lassen in die Tiefen des Menschengeistes, seines Ringens, seines Siegens und seiner Verzweiflung, damit uns die Herrlichkeit Christi um so heller erstrahle." Darum sollen wir unsere Ohren für alle Stimmen in der Welt weit öffnen. Das ist nicht nur unser Recht, sondern unsere Pflicht. Wir müssen alle Stimmen hören, z. B. auch die in der sozialen Frage sich meldenden Stimmen. Sonst kommen andere und hören und antworten nicht im Namen Jesu Christi. "Wir sind Streiter Christi, lassen wir uns keine Stellung im Schlachtfelde rauben. Besetzen wir jeden Hügel und jeden Fels, hinter dem sich der Feind verschanzen kann; nur mühsam und mit Opfern werden verlorene Posten wiedererobert. Darum von vornherein ein offenes Ohr für alle Welt: alles ist unser!" Hier wird deutlich: Apologetik ist Angriff.14

Die Antwort kommt nicht aus der Frage, aus den "Stimmen der Welt", sondern von Jesus Christus her. Doch sie kann als Antwort nicht vernommen werden, wenn "die Stimmen der Welt" das Fragen, Suchen, Ringen und Kämpfen, nicht ernstgenommen werden, wenn die Lehrer, die Gott der Welt schenkt, von uns nicht gehört werden. Nicht nur die Antwort auf unser Fragen kommt von Gott, auch unser Fragen wird von Gott, vermittelt über die Welt, angestoßen und bewegt. Wir begegnen hier also schon der apologetischen Methode, näherhin einer Vorform der Methode der Korrelation von Frage und Antwort. Tillich wendet in seiner Examenspredigt diese Methode nicht nur an, sondern er reflektiert und formuliert auch deren prinzipielle Bedeutung für die Predigt und Theologie der Kirche.

2. Lichtenrader Predigten (1909)15

Lichtenrade am Rande von Berlin war eine Dorfgemeinde, das Pfarrhaus, in dem Tillich wohnte, war eine Idylle im Grünen.16 Die Predigten, die er dort und in Mahlow unmittelbar nach dem 1. Examen in Vertretung für Pfarrer Ernst Klein hielt, waren thematisch durch die Passions- und Osterzeit bestimmt. 25 Predigten sind aus dieser Zeit erhalten.

In den beiden Predigten über die Leidensankündigung Jesu (Mt 16,21-23) unterscheidet Tillich zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Weg: dem Weg des Jüngers und dem Weg des Meisters, dem Weg des Richtens und dem ganz anderen Weg des Sterbens. Petrus repräsentiert das menschliche Denken, das Richten. Jesus soll - so will es Petrus - sich schonen "für seinen Beruf", für das Gericht. Aber die göttliche Liebe verzichtet auf das Gericht über die Sünder, indem sie "in der Gemeinschaft der Sünder" bleibt "bis in den Tod" und das Gericht auf sich nimmt (33). Am Kreuz scheitern unsere Frömmigkeit und Hoffnung, wird "alles, was menschlich ist", gerichtet (34). Gott allein behält Recht. Jesu königliche Aufgabe war das ihm von Gott übertragene Werk, die Offenbarung seiner heiligen Liebe, "und darum konnte Gott ihn nicht im Tode lassen ... Und weil der Gekreuzigte die Zerstörung aller menschlichen Hoffnung bedeutet, darum ist er der Fürst aller, die auf Gott hoffen, der große Osterfürst" (34).

In einer anderen Passionspredigt bietet Tillich eine Theorie der Sünde, wie er sie auch in seiner theologischen Dissertation
"Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung" von 191217 entfaltet. Das Thema der Predigt lautet: "Das Böse, ein Werkzeug in der Hand Gottes". Er geht dabei von dem Wort des Pilatus im Johannes-Evangelium aus,
wonach ihm die Macht, Jesus zu kreuzigen oder loszugeben, von oben - also von Gott - gegeben sei (Joh 19,10 f.). Tillich deutet dieses Wort so: Die Sünde des Kaiphas und die Sünde des Pilatus sind Werkzeuge Gottes zur Durchführung seines Heils- und Liebeswillens (37). In "Mystik und Schuldbewußtsein" spricht Tillich von dem göttlichen und zugleich widergöttlichen "Willen zur Sünde". Gott läßt die Sünde geschehen (dies ist sein Ja zur Sünde). Daß er die Sünde geschehen und sich auswirken läßt, ist aber zugleich sein Gericht über die Sünde, sein Zorn. Der Sünder erfährt den Zorn Gottes, indem er die Wirkung und die Folgen der Sünde zu spüren bekommt. Gerade darin aber erfährt er Gott in seiner Einheit von Ja und Nein, sein Gericht und seine Gnade.18 "Wer aber den Zorn Gottes als Realität behandelt, für den sind gerade die Stunden des Bewußtseins um den göttlichen Zorn die Stunden des schärfsten Bewußtseins um die ganz unauflösliche Bindung an Gott".19

In der Predigt lautet die Argumentation so: "Gott gab darum vielleicht der Sünde eine solche Macht, damit sie, die verborgen war, ans Licht käme und sich auswirkte und in ihrer ganzen Nacktheit offenbar würde und zusammenbräche. Dich hat Gott erwählt, dies sein Werk auszuüben. Die Sünde, die dich bedrängt, ist nur ein Werkzeug Gottes zum Gericht über die Sünde" (39). "Gott hat der Sünde darum die Macht über dich gegeben, damit du aufhörst, von dir selbst etwas zu erwarten, um seine Gnade an dir zu offenbaren. Und je furchtbarer dir ihre Macht erscheint, desto näher ist dir die Gnade" (39). Die Lösung des Rätsels der Sünde, die über dem Christenleben steht, heißt: Gnade. Das Nein Gottes ist getragen von seinem Ja.

Das Kreuz Jesu versteht Tillich in einer Karfreitagspredigt über Mk 1,15 als ein Gericht, in dem Gott bzw. Jesus sich von der sündigen Welt trennen läßt. Die Welt, so heißt es in dieser Predigt, war nicht fähig, "Gott unter sich zu haben", sie hat ihn darum "ausgestoßen" (53). So läßt Jesus die Sünder, d. h. die Gerechten mitsamt ihrer Frömmigkeit und Gerechtigkeit, und mit ihnen die Welt hinter sich und geht zu Gott. "Mit denen, die sich mit ihm von der Welt verstoßen lassen, bleibt er zusammen ... Mit derselben Welt, die durch das Kreuz gerichtet ist, will er Gemeinschaft halten ..." (56). So ist das Kreuz Christi für die, die an den Gekreuzigten glauben, Gottes Gericht und Gnade, Gericht, "denn wir sind mit Christo der Welt gestorben", Gnade, "denn wir leben mit Christo Gott" (56).

Thema der Osterpredigt über Röm 8,11 ist die Gewißheit des ewigen Lebens. Sie gründet in der Auferstehung Jesu Christi als der Offenbarung der lebenschaffenden Kraft des Geistes Gottes (59). "Daß wir es recht verstehen", so Tillich, "nicht darum haben wir die vollkommene Zuversicht des ewigen Lebens, weil wir ewig sind, sondern deshalb, weil Gott ewig ist und weil dieser ewige Gott uns ewig machen will. Ewig ist allein Gott, und weil er unser begehrt hat, darum und nur darum sind wir ewig, aber darum sind wir es auch ebenso gewiß, wie Gott ewig ist" (59). Gottes Geist ist Gottes Liebe, und Gottes Liebe ist ewige Liebe, der "Geist der heiligen Liebe, die täglich stirbt und ewig liebt" (63).

In den beiden Fassungen der Pfingstpredigt über Joh 3,16-21 spricht Tillich von dem Gericht, das der Geist Gottes ausübt. Es ist das Gericht des Lichtes, "das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen" (Joh 1,9), und des Lichtes, das Fleisch geworden ist in Jesus Christus (Joh 1,14). Niemals ist das göttliche Licht in der Menschheit erloschen. Wie dieses verborgene Gericht des Lichtes oder des Geistes Gottes sich in den Herzen der Heiden betätigt, zeigt T illich mit Röm 1-2. Das vollkommene Gericht aber ist das Gericht des Lichtes, das Fleisch geworden ist in Jesus Christus. Erst jetzt und mit ihm wird offenbar, wer aus der Wahrheit ist, und erst jetzt gibt es die Sünde wider den heiligen Geist.

Eine ganz andere Thematik behandelt die Predigt über Gen 1,31a. Die Predigt ist zunächst ein Hymnus auf die Vollkommenheit der Kreatur, der Welten und Sterne, der Pflanzen und Tiere. "Alle Kreatur Gottes ist gut, alle Kreatur, die ganze, unendliche Natur ..., sie hat Gottes Odem in sich, sie wird von Gott geliebt, sie ist ein Stück seines eigenen Wesens, und darum sollen wir sie auch lieben als Stück göttlichen Wesens" (99). Alles ist sehr gut, Freude und Schmerz, Werden und Vergehen der Kreatur. Aber - und dies sagt die Predigt in ihrem zweiten Teil - die Natur hat kein Recht auf Ewigkeit, sie predigt es uns täglich ohne Worte, "durch alles, was in ihr geschieht, durch ihren ganzen Bestand: Ich bin nicht ewig und darf es nicht sein" (101). Sie ist der Nichtigkeit unterworfen (Röm 8,20). Darin besteht gerade die höchste Vollkommenheit der Natur, daß sie "keine Zweifel läßt an ihrer Unvollkommenheit" (104). Die Natur kann sterben und neues Leben schaffen, aber sie kann nicht ewig sein. Ewigkeit ist nur da, wo Geist ist. Es gilt darum, sich über alle Natur zu erheben zu dem Gott, der Geist ist.

Geht es im Themenkreis "Gericht und Gnade" um den göttlichen Sieg über die Sünde, so im Themenkreis "Natur und Geist" um die Überwindung der Nichtigkeit und Vergänglichkeit. Beides geschieht durch den Geist Gottes und durch Teilhabe an der Ewigkeit. Diesen beiden Themenkreisen der Lichtenrader Predigten begegnen wir auch in den späteren Predigten immer wieder und in Variationen. Tillich ist hier zweifellos weniger von apologetischen als von seelsorgerlichen Absichten bestimmt. Vor ihm steht das Bild des seiner Sünde bzw. der Nichtigkeit ausgelieferten und unter ihr leidenden Menschen. Diese Situation der Sünde und des Zornes Gottes bzw. der Erfahrung der Nichtigkeit will er aufweisen nicht nur als Gericht und Nichtigkeit, sondern auch als Gnade und Verheißung ewiger Liebe.

Ob Tillichs Lichtenrader Predigten, die den späteren "Religiösen Reden"20 aus der amerikanischen Zeit an Gedankentiefe keineswegs nachstehen, von den Hörerinnen und Hörern zureichend verstanden werden konnten, kann man gewiß fragen.

3. Nauener Predigten (1911/12)21

Aus der Zeit des Vikariats in Nauen sind 17 Predigten erhalten.22 Tillich war dem Superintendenten Dr. Martin Lang zugeordnet, der zuvor Erzieher in Hause des Prinzen Albrecht von Preußen, dann Botschaftsprediger in Rom und zuletzt Pfarrer am großen Militärwaisenhaus in Potsdam war.23

Wie schon in Lichtenrade folgt Tillich auch hier nicht dem Perikopenplan, sondern wählt bestimmte Themen und dazu passende Texte. Der Zyklus beginnt mit einer Osterpredigt, die er wohl in einer Osterandacht nachmittags oder abends gehalten hat (Nr. 27). Als Text hat Tillich Mt 22,32 gewählt: "Gott aber ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen." Damit war ihm die Möglichkeit gegeben, das Problem der Auferstehung Jesu von der Gottesgewißheit her zu lösen, ohne auf weltanschauliche oder theologische Probleme eingehen zu müssen.

Die Predigt läßt sich zusammenfassen in dem Satz: Gottesgewißheit ist Gewißheit des ewigen Lebens. "Einen anderen Grund gibt es nicht, alle anderen Stützen sind morsch und brechen, wenn die Last des Zweifels auf sie drückt" (132). Ewiges Leben ist Leben in Gott, "ewiges Leben mitten in der Zeit" (133. 134). Ewiges Leben in der Zeit heißt: Die kleinen und vergänglichen Dinge unseres Lebens im Gebet in Gottes Hand legen und aus seiner Hand "gereinigt wieder empfangen" (134). Im Gebet drücken wir dem Vergänglichen einen "Ewigkeitsstempel" auf. Aber auch durch die Hingabe für andere geben wir Sterbliches, um Ewiges zu empfangen. In Jesus Christus war und ist ewiges Leben mitten in der Zeit.

Dem Gedanken der Gemeinschaft mit Gott durch Gebet und Hingabe begegnen wir häufig in den frühen Predigten, besonders in den Feldpredigten. Auf die Gebetstheologie der frühen Predigten Tillichs hat auch Werner Schüßler aufmerksam gemacht. Er sieht im Gebet "das zentrale und durchgehende Thema" der frühen Predigten Tillichs.24 Aber auch der Gedanke des Selbstopfers und der Selbsthingabe, bzw. des Christus-gleich- oder ähnlich-Werdens und damit der Teilhabe am Ewigen mitten in der Vergänglichkeit durch das Opfer des Vergänglichen kehrt in den Predigten immer wieder.

Im Grunde geht es Tillich in allen Predigten um den Aufweis der Gemeinschaft mit Gott und der Teilhabe am Ewigen in der Zeit. Gott ist nicht fern von uns. Natürlich fehlt auch eine Predigt über Apg 17,28 nicht: "Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch etliche Poeten bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts" (Nr. 32).

Tillich deutet den Text so: Der gemeinsame Boden, auf dem alle Menschen stehen, auch die, die von Gott nichts wissen wollen, ist dies, daß sie in ihm leben, weben und sind. Der Unterschied liegt lediglich im Wie, also in ihrer bewußten Stellung zu Gott. Tillich weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den Mystiker Jakob Böhme hin und paraphrasiert ihn in seiner Predigt so: "Aus seinem eigenen Wesen also hat Gott die Kreatur geschaffen, sein Leib ist die ganze Welt, und darum ist er allen Dingen ganz nahe. Überall im Innersten der Dinge ist Gottes Himmel, vor allem in der Menschen Herzen" (159). "Der Weltenbau mit seinen Millionen von Sonnen, die nach ewigen Gesetzen umeinander kreisen, ist sein Leib. Das Licht, in dem wir sehen, die Luft, die wir atmen, die Klänge, die unser Herz bewegen, die Worte, die Geist mit Geist verbinden, die Erde, die uns trägt und nährt, das Feuer, das uns wärmt und dient, das Wasser, das uns erquickt, ist sein Weben und Werden" (159).

Das ist Naturmystik, mystischer Monismus, nicht Pantheismus; denn die Welt ist Gottes Leib, nicht Gott selbst. Doch auch in dieser Predigt spricht Tillich von dem furchtbaren Geheimnis der Sünde, von Gottes Zorn und Gericht, in dem die Feinde Gottes leben und an ihn gebunden bleiben. Das Wort "In ihm leben, weben und sind wir" handelt also auch von Gottes Gericht. Auch und gerade im Gericht leben wir in Gott. Wir "kommen nicht von ihm los, auch nicht als seine Feinde" (161). Gott ist uns bedrängend nahe und unentrinnbar. Um diesen Aufweis geht es Tillich.

In der festlosen Trinitatiszeit predigt Tillich über ausgewählte Psalmen, über Ps. 22 ("Vom leidenden Frommen"), Ps. 42 und 43 ("Vom gottverlassenen Frommen"), Ps. 51 ("Vom schuldbeladenen Frommen"), Ps. 73 ("Vom zweifelnden Frommen") und Ps. 90 ("Vom tiefsten Grund aller Schwermut"). Diese Predigten bringen Schmerz und Klage, Verlassenheit und Schwermut des Menschen in Bildern und Träumen zur Sprache. In der Predigt über die Gottverlassenheit des Frommen werden Frömmigkeit und Religion als "Hochmut gegen Gott" kritisiert. "Alles Göttliche, wenn es zum Menschen kommt", wird "entheiligt und mit Sünde durchtränkt" (169). Es ist darum "wie eine Erneuerung und Reinigung des Namens des Frommen", wenn von der Gottverlassenheit des Frommen gesprochen wird. Fromm sein heißt dann: "unter Gottes Gnade stehen, auch in der Gottverlassenheit" (170). Wer sich genügen läßt an Gottes Gnade, dessen Seele "trübt sich ... die eigne Gerechtigkeit und die eigne Frömmigkeit, und in der Ferne leuchtet das Bild des Gekreuzigten" (170).

In der Predigt über die Schwermut (Nr. 37) schildert Tillich, was der Dichter des Psalms erlebte und was ihn bewog, den Psalm zu dichten: "Auf der Brücke stand ich und blickte hinab in den rauschend en Strom, wo Welle auf Welle sich drängte" (185). Tillich beschreibt das Bild des ewigen Wellenspiels, das Spritzen der Wellen, ihr Seufzen und Sterben - die erste Traurigkeit. Und nun steigert er in weiteren Bildern die Traurigkeiten der Welt in Natur und Geschichte. Er sieht die zuckenden Leiber auf den Schlachtfeldern, die verzweifelten Gesichter in den Gefängnissen, die Bettler, die Kranken, die Blinden, die Aussätzigen. Er schaut in das Herz der Menschen, der Gerechten und der Frommen. Und der Dichter sieht ein letztes Bild: den gekreuzigten Gott, Gott selbst leidend. "Da sank ich nieder vor Gott und verstummte, und als ich aufstand, schrieb ich den Psalm der Wehmut" (189). Unsere Schwermut hat ihren tiefsten und letzten Grund also nicht in unserer Vergänglichkeit, sondern in Gott, der leidend und sterbend der ganzen Welt Leiden und Sterben und Schuld trägt. Auch das ist eine Weise, von Welt, Natur und Geschichte so zu sprechen, daß deutlich wird, daß Gott ihnen innewohnt und nicht über ihnen thront.

In einer weiteren Osterpredigt (Nr. 43) geht Tillich dem Geheimnis der Geburt des Lebens aus dem Tode nach. Der Text (Joh 12,24) ist ein Bild: das Weizenkorn, das in die Erde fällt. Das Bild wird durchmeditiert. Die erste Schicht oder Dimension ist das natürliche Sterben um des Lebens willen. In immer neuen Anläufen variiert Tillich dieses Gesetz von Sterben und Leben. Im Sinne der Selbsttranszendenz des Lebens spricht er dann vom Leben und Sterben des Geistes. Geist wird nur aus dem Sterben des Geistes geboren. In diesem Gesetz ist viel Traurigkeit und Schmerz. Aber aus dem Sterben Gottes um der Liebe willen wird ewiges Leben geboren. "Nur die sterbende Liebe kann ewiges Leben schaffen" (226). Ein Seufzen geht durch alles Leben, weil es sterben muß. Aber wir wissen, "daß dies vergängliche Leben nur ein Gleichnis ist für das höhere, ewige Leben, das Leben der ewigen Liebe, die zur sterbenden Liebe wurde" (227).

Unverkennbar ist in Tillichs Nauener Predigten die Stimmung der Schwermut angesichts der Vergänglichkeit, aber auch die Gewißheit der göttlichen Liebe, die zugleich ewige Liebe ist. So ist alles Vergängliche nur ein Gleichnis des Ewigen.

4. Moabiter Predigten (1912/13)25

Einen 3. Zyklus bilden die während seiner Hilfspredigerzeit vom Herbst 1912 bis Pfingsten 1913 in der Erlöserkirchengemeinde in Moabit, im Norden von Berlin, gehaltenen Predigten. Von ihnen sind 20 erhalten. Die Gemeinde war eine typische Berliner Industriearbeitergemeinde. Wie die Kirchenbücher belegen, hatte Tillich außerordentlich viele Taufen, Trauungen und Beerdigungen durchzuführen, handelte es sich doch um eine neu errichtete Pfarrstelle in einer Gegend mit sprunghaft ansteigender Bevölkerungszahl. Hier ist Tillich auf die soziale Problematik nachdrücklich aufmerksam geworden.

Die Texte und Themen auch der Moabiter Predigten hat Tillich nicht der Perikopenordnung entnommen, aber auch nicht willkürlich gewählt. In einem Notizbuch26 findet sich (nach dem Datum vom 15.7.1912, also zu Beginn seiner Tätigkeit in Moabit) unter der Überschrift "Themata" folgende Themenliste: "Die Angst", "Todessehnsucht und Todesfurcht", "Gott und das Leiden", "Gott und das Sterben", "Gott und die Sünde", "Der Wille zur Größe", "Die Verzweiflung des Denkens", "Die Kraft", "Der Einzelne und sein Unrecht", "Die vielen und die Masse", "Abgründe und Übergänge".

Dies könnten Themen für die sog. Vernunftabende sein, aber auch Predigtthemen. Daß es sich aber um Predigtthemen handelt, zeigt die anschließende Disposition, die zwar ebenso zunächst wie das Programm der apologetischen Vortragstätigkeit aussieht, sich bei näherem Zusehen aber als eine Zusammenstellung von Themen für Predigten in der Erlöserkirchengemeinde herausstellt. Darin stellt Tillich folgende drei Themenkreise zusammen: "1. Strömungen der Zeit", "2. Strömungen der Seele", "3. Probleme". Er unterscheidet drei "Strömungen der Zeit": "1. Strömungen des Handelns" (und zwar Individualismus und Sozialismus), "2. Strömungen des Denkens" (Subjektivismus und Dogmatismus) und "3. Strömungen des Fühlens" (nämlich Optimismus und Pessimismus). Diesen Strömungen werden jeweils Predigtthemen zugeordnet, die auch Themen der erhaltenen Predigten aus der Moabiter Zeit sind, z. B. zum Thema "Individualismus" die Predigt über "Das Recht des Einzelnen und seine Rechtfertigung" (= Predigt Nr. 47) und zum Thema "Sozialismus" die Predigt "Die vielen und die Masse" (= Predigt Nr. 48). Zum Stichwort "Optimismus" ist eine Predigt zum Thema "Der Wille zum Leben", zum Stichwort "Pessimismus" eine Predigt zum Thema "Der Wille zum Sterben" geplant. Zum 2. Themenkreis ("Strömungen der Seele") werden folgende Themen aufgeführt: Angst, Sehnsucht, Mitleid, Hingebung, Einsamkeit, denen sich auch einige der erhaltenen Moabiter Predigten zuordnen lassen. Der 3. Themenkreis behandelt "Probleme", und zwar Probleme der Frömmigkeit (nämlich Theodizee, Erwählung, Heilsgewißheit, Gebetserhörung) und Probleme der Theologie (hier wird lediglich das Problem der Gottesgewißheit genannt).

Wie Tillich Predigtthemen sucht, sie theologisch durchdenkt und gliedert und dann abschließend einen geeigneten biblischen Text wählt, zeigt folgende Skizze:

"Die Heiligkeit des Lebens:

1. Das Leben ist Schöpfung.

2. Das Leben ist Liebe.

3. Das Leben ist Ewigkeit.

Text: Ich lebe, und ihr sollt auch leben (Joh 14,19).







Die Heiligkeit des Todes:

1. Der Tod ist Geheimnis.

2. Der Tod ist Gericht.

3. Der Tod ist Erlösung.

Text: Du lässest Menschen sterben und sprichst: Kommt wieder,

Menschenkinder (Ps 90,3)."



Die Predigt über die Heiligkeit des Todes hat Tillich am Totenfest 1912 gehalten (= Predigt Nr. 51). Sie hat den in der Skizze entworfenen Aufriß. Beide Predigten sind trinitarisch gegliedert und sind - wie Leben und Tod - auch in ihren drei Teilen dialektisch einander zugeordnet.

Tillichs Predigten in Moabit sind Predigten für Gebildete. Hinter Themenkreisen wie "Strömungen der Zeit" bzw. "der Seele" oder "Probleme der Frömmigkeit" verbirgt sich eine Predigtkonzeption, die die geschichtlich-kulturell-religiöse Lage, den "Geist der Zeit" ernstnehmen will. Die Moabiter Predigten wollen Apologetik im Sinne von intellektueller Seelsorge sein.

Ich erwähnte bereits die Predigt zum Stichwort "Sozialismus" (über das Thema "Das Rätsel der Masse", Nr. 48). Sie folgt unmittelbar auf die Predigt zum Thema "Individualismus" ("Das Recht des Einzelnen und seine Rechtfertigung", Nr. 47). Das Los der vielen und der Masse wird in poetischer Sprache eher angedeutet und verklärt als ausgeleuchtet. "Auf jedem Antlitz in diesen Massen", so Tillich in dieser Predigt, "leuchtet aus dem Auge der Strahl des Ewigen, das in ihnen schlummert. Jeder von ihnen hat eine unendliche Sehnsucht, die Sehnsucht der Seele nach Gott" (254 f.). Die Schönheit, "aus dem Lichtglanz der Gottheit geboren" (gemeint ist die Schönheit der Natur, der Dichtung, der Musik, der Kunst), sie streift "nur mit dem Saum ihres Gewandes" die Massen (255). Ebenso die Erkenntnis, das Recht und die Gerechtigkeit. Auch sie erscheinen den Massen nur von ferne. Sie fürchten das Recht und die Gerechtigkeit. Tillich spricht den Massen die Fähigkeit ab, das Recht zu hüten. "Sooft aber die Massen Hüter des Rechts wurden, wurden sie zu Hütern des Unrechts. Gewalttat, Blut und Ungerechtigkeit wuchsen unter ihren Händen" (255).

Die Klassen- und Standesunterschiede, die in den Romanen Theodor Fontanes immerhin zum Thema geworden waren, kommen in den Moabiter Predigten nicht zur Sprache. Hier ist Tillich noch weit entfernt von dem, was er später zur proletarischen Situation zu sagen hatte.

Andererseits sieht Tillich in seiner Predigt zum Reformationsfest 1912 über Gal 3,23-28 in der Frage "Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?" die Gefahr, daß sie den einzelnen zwar vor Gott führt, "ihn aber nicht wieder zurückführt zu den Brüdern in der Welt, in der Kirche" (260). Die höchste und letzte Frage aller Religion müsse darum die sein: "Wie schaffe ich die Ehre Gottes? Wie baue ich das Reich Gottes?" (261). Dies ist nicht lutherischer, sondern calvinistischer Geist (immerhin waren im selben Jahr Ernst Troeltschs "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" erschienen). In seinen Schriften zum religiösen Sozialismus ab 1919 wird Tillich gerade diesen Gedanken aufnehmen.27

In seiner Adventspredigt über Phil 4,5 kann Tillich das Gericht Gottes - mit Hegel und Schelling - geschichtlich-politisch verstehen. Mit Blick auf den Balkankrieg ruft er die Gemeinde auf: "Hört, wie der Weltgeist einherschreitet durch die Völker, in Waffen starrend, blutbefleckt und voll Gier zu vernichten, was der Friede erbaut hat ... Sollte nicht ein Zittern durch unser Herz gehen in diesen Weihnachtstagen vor dem Gericht des Bluts und der Vernichtung, das vielleicht in nicht allzu langer Zeit über die Völker Europas kommen wird?" (284). Und er blickt auf die inneren Zustände, den Verfall der guten Sitte, Zucht und Ordnung: "Ein Stein des Fundaments nach dem anderen zerbricht, und der ganze Bau zittert. Das ist sein Nahen zum Gericht. Völker Europas ..., deutsches Volk, Volk der Reformation, Volk der Wahrheitssucher: Der Herr ist nahe, er ist nahe zum Gericht. Schon zerbricht ... eine Stütze nach der anderen, schon brechen die morschen Balken, nahe ist die Zeit, wo der Bau hinsinken wird. Der Herr ist nahe" (285). Auch die Kirche nimmt Tillich ins Visier. Er teilt in dieser Predigt durchaus die bei vielen Intellektuellen und Künstlern vorherrschende kulturkritische Stimmung vor dem 1. Weltkrieg, aber er deutet das Gericht als Rettung. Advent und Weihnachten gehören zusammen.

In einer Osterpredigt über Joh 6,63 können wir wieder gut Tillichs Methode des Transzendierens studieren: "Soll ich einmal durcheilen die ganze Welt von den Sternenhimmeln und dem Wurm, das im Staube kriecht, von dem Veilchen am Wege und dem Adler in den Lüften bis zu den Menschenseelen mit ihren Wundern und Tiefen, bis zu den Werken des Menschengeistes und seiner Erhebung zu Gott? Lieben Freunde, lieben wir das alles ... um deswillen, daß es einen Hauch der Ewigkeit in sich trägt, lieben wir es um Gottes willen? Oder lieben wir es um unsertwillen, um des Genusses willen, das es uns bringt?" (316). Das ist Naturmystik, ein romantisches Naturverständnis, ein erotisches Verhältnis zur Welt - gegen die von Tillich oft beklagte neuzeitliche Entleerung und Mechanisierung der Natur. Der Ewigkeitsmensch fragt nicht, welchen Vorteil und welchen Nutzen die Dinge ihm bringen. Ihm rufen die Dinge zu: "Blicke mich an, schaue hindurch durch allen Schein, schau bis in meine Tiefe! Du wirst die Ewigkeit in ihr finden, und dein Ewiges und mein Ewiges werden sich verbinden und eins werden in der Liebe ... Hörst du, liebe Ostergemeinde, wie mit tausend Stimmen Welt und Menschen also zu euch rufen?" (316 f.). Alles Vergängliche ist Hinweis auf das Ewige in und über der Zeit.

Treffen hier nicht zwei Welten aufeinander: die Welt der Arbeiter, die in den Mietskasernen in Moabit wohnen, und die Welt Tillichs, des Naturromantikers und Bildungsbürgers, des Mannes "der Sehnsucht nach der großen, weltumfassenden Liebe" (317)?

5. Die Feldpredigten (1914-1918)28

105 ausgeführte Predigten sind erhalten, hinzu kommen 45 Skizzen. Meines Wissens haben wir von keinem anderen Theologen so viele Feld- bzw. Kriegspredigten des ersten Weltkriegs. Sie erstrecken sich auf die gesamte Kriegszeit vom Oktober 1914 bis zum Frühjahr 1918 (nach der Frühjahrsoffensive). Sie spiegeln das innere Erleben des gesamten Krieges an der Westfront wider, vor allem den zermürbenden Stellungskrieg ohne militärische Erfolge und die Materialschlachten des Jahres 1916. Leider war mir in meiner Edition eine Datierung nur für ein Drittel der Predigten möglich; die übrigen Predigten konnte ich nur nach den unsicheren äußeren Kriterien zeitlich einordnen.

Wir müssen bedenken: Die Predigten sind Dokumente seiner amtlichen und öffentlichen Tätigkeit als Seelsorger. Das apologetische Element tritt in ihnen weitgehend zurück, im Vordergrund steht die Seelsorge und zwar als Quietiv, d. h. als Trost im Leid, und als Motiv, d. h. als Ermutigung zum Durchhalten angesichts des mehr und mehr sich in die Länge ziehenden Krieges und angesichts ausbleibender Erfolge und der Sehnsucht nach einem baldigen Frieden. Diese konkreten Situationen stehen dem Prediger deutlich vor Augen. Seine Predigt richtet sich nicht an Bildungsbürger, sondern an einfache Soldaten im Felde. Sie ist kurz, ein Feldgottesdienst überschreitet nicht 20 Minuten.29

Tillichs Briefe an seinen Vater und seine Schwestern und Notizen in seinem Kriegstagebuch belegen, daß er als Geistlicher beim Brigadestab zu den Privilegierten gehörte bezüglich Unterkunft, Verpflegung und Freizeit. Die Standesunterschiede hat er wohl am stärksten im Kriege - und zwar in eigener Person - kennengelernt. In den Predigten durfte er nichts Militärisches oder Politisches ansprechen, es sei denn im Sinne der militärischen oder politischen Führung. So hat er denn in einer Predigt zum Geburtstag des Kaisers 1917 (Nr. 128) sich für einen Siegfrieden und gegen einen Verhandlungsfrieden ausgesprochen: "Kraft und Friede, das gehört zusammen. Nur aus der Kraft kann der Friede geboren werden, der wahrhaft Friede ist! ... Es gibt keinen Gegensatz zwischen Christentum und Krieg. Schlachtschwert und Richtschwert, beide sind Gottes, beide hat er in der Menschen Hand gegeben, damit er ihnen Friede gebe. Und darum rufen wir euch zu: Werdet stark, bleibt stark, seid ein scharfes, hartes Schwert, das auch durch des Krieges Dauer nicht schartig und stumpf werden darf" (536). Er geht dann auf die gedrückte Stimmung unter den Soldaten ein, die schweren Verluste und Strapazen und fährt fort: "Um des Friedens willen bitte ich euch: Hinweg mit den Friedensgedanken, die aus Schwachheit geboren sind! Aus eurer Kraft soll euer Friede kommen und nicht aus eurer Schwachheit. Wir wissen, wie schwer es für euch ist, stark zu bleiben ... Glaubt nicht, daß wir das nicht sähen und fühlten und gerade dann am schmerzlichsten und bittersten fühlen, wenn wir es besser haben als ihr. Und doch bitten wir euch: Bleibt stark!" (537). Tillich kann also durchaus gegen die Stimmung unter den Frontsoldaten und gegen die Friedenssehnsucht und gegen die Friedenspolitik predigen. Aber er wäre in schwere Konflikte gekommen, wenn er als Feldprediger sich in einer Predigt gegen Kaiser und Heeresführung gestellt hätte.

Die Rolle, die er als Feldprediger übernommen hatte, stellte ihn vor folgende Aufgaben:

1. Gottesdienste zu halten, die die Siegeszuversicht und Kampfbereitschaft der Soldaten nicht lähmen, sondern stärken. 2. Wenn der Krieg sich in die Länge zog, die Erfolge ausblieben und die Soldaten anfingen zu "murren" (vgl. das "Murren" des Volkes Israel gegen Mose bzw. gegen Gott auf der Wanderung durch die Wüste)30, sah Tillich es als seine Pflicht an, gegen "das Murren" und für das Durchhalten zu predigen. 3. Niederlagen waren religiös-theologisch zu deuten. 4. Schließlich waren auch Sterben und Tod religiös zu deuten (als Opfertod), Sterbende und die Kameraden, denen ihr eigener Tod vor Augen stand, waren zu trösten. Und dieser Trost schloß die Sinngebung des Sterbens ein.

Diese vier Aufgaben charakterisieren die Institution der Feldpredigt im ersten Weltkrieg. Sie ist eingebunden in die < BR> Kriegsführung. Ausdruck dieser Integration ist das Wohnen und Leben des Feldgeistlichen zusammen mit dem Brigadestab und der entsprechende Absenderstempel (z. B. "Stab der 14. Res.-Inf.-Brigade"). Aus der Anrede "Liebe Gemeinde!" wird die Anrede "Liebe Kameraden!" Die Feldpredigten zeigen, daß Tillich die Rolle des Feldpredigers mit den von mir genannten vier Aufgaben übernommen und durchgehalten hat, gewiß nicht ohne tiefe Zweifel und innere Konflikte.

In einem Brief an seinen philosophischen Lehrer Fritz Medicus vom Januar 1915 gibt Tillich Auskunft über die religiöse Situation der Soldaten und seine eigene Predigtkonzeption. Es sei, so schreibt er, "eine Begierde nach Religion in den Leuten wach geworden". Der Krieg habe die "substantielle Religiosität" der Menschen "aktuell" werden lassen. "Man hat nur die echt evangelische Aufgabe auszudrücken, was alle erleben. Man predigt niemand an, wie so oft im Frieden. Was würde Fichte zu dieser Zeit sagen?"31

"Ausdrücken, was alle erleben" ... Tillich will also nicht mit der Bibel konfrontieren und von der Bibel her verkündigend oder belehrend hineinsprechen in die Situation. Sondern für ihn ist die Situation des Krieges eine sakramentale Situation, ein Kairos, in dem besondere Erfahrungen gemacht werden, die in der Predigt und durch die Predigt freigelegt, ausgedrückt und ausgetauscht werden. Das Wort, das gesagt wird, kommt nicht von außerhalb her, sondern aus den Erfahrungen, die unter dem Donner der Kanonen gemacht werden und in denen Religiosität sich aktualisiert. Der Prediger hat keine autoritative, sondern eine dienende und helfende Rolle zu spielen.

Als Beispiel greife ich die Predigt vom Anfang November 1915 nach den Kämpfen bei Tahure heraus (Nr. 87). Text ist 2Kor 4,17 f. Ein Bataillonsführer war von der Predigt so begeistert, daß er sie in seiner Heimat in Liebenwerda in der Zeitung veröffentlichte und dann einige tausend Abzüge bestellte. Tillich schickt einen Abzug an seinen Vater und schreibt dazu: "Die Predigt habe ich Anfang November vor dem von der Butte (de Tahure) zurückkehrenden Bataillon gehalten ... Ich habe sie in ein paar unruhigen Stunden gemacht; aber sie war der Ausdruck dessen, was wir alle empfanden, und darum wollten sie sie haben".32 Vorausgegangen ist also die sakramentale Situation der Schlacht, die Tillich zu Beginn der Predigt noch einmal seinen Hörern vergegenwärtigt. "Und wenn ich nun vor euch stehe und zu euch reden soll", so fährt Tillich fort, "dann ist mir, als ob nicht wir euch, sondern ihr uns predigen solltet und uns reden von dem, was eure Seelen bewegt in jenen Stunden, wo der tausendfache Tod euch umgab und eure Kameraden dahinraffte ... Erzählen solltet ihr, welche Stimmen im Tiefsten eurer Seele zu euch gesprochen haben und was euch die Kraft gegeben hat, durchzuhalten und stark zu bleiben bis zuletzt, bis zum Siege" (409). Die Antwort gibt Tillich mit Paulus: Wir sehen nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Allein das Unsichtbare habe den Soldaten die Kraft zum Durchhalten gegeben.

Und was ist das Unsichtbare? "Unsichtbar steht des Vaterlandes Herrlichkeit hinter dem Schrecklichen, was unsere Augen sehen". Es ist die "heilige Liebe ... zum Land meiner Heimat", "der Stolz, ein Deutscher zu sein", "das Opfer des eigenen Lebens, die Liebe, die für die Brüder stirbt, die Pflichterfüllung, die sich selbst nicht schont, die Seele, die den Leib hingibt um ihrer selbst willen" (410 f.). Dies alles wird in der Predigt den Soldaten noch einmal lebendig vor Augen gestellt.
Patriotische Erfahrungen und Werte werden religiös gedeutet und verklärt und in die Sphäre des Unsichtbaren, Ewigen, Heiligen und Höchsten erhoben: "unsere Augen erheben sich über die Schlachtfelder und Gräberkreuze, hin über die Sterne, die Grenzhüter dieser sichtbaren Welt, in eine Herrlichkeit die über alle Maßen hoch und heilig ist, die kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und die Gott bereitet hat denen, die das Unsichtbare mehr lieben denn das Sichtbare" (411).

Dieser Predigtansatz ("ausdrücken, was wir alle empfinden", d. h. aber die Situation religiös deuten durch Transzendieren) läßt sich auch nach einer Niederlage durchführen. Die entscheidende Deutung der Situation wird dann aber durch einen biblischen Text bzw. durch den Hinweis auf Jesus Christus ermöglicht. So zum Beispiel in der Predigt, die wohl die stärkste Kritik am Krieg darstellt, nach den Schlachten an der Somme und von Verdun (Nr. 116). Niemals habe er die Aufgabe, zu ihnen zu reden, schwerer empfunden, so beginnt Tillichs Predigt an die Kameraden. "Da müssen euch alle großen Worte wie Geschwätz klingen ... Was wir euch sagen können, das sind keine tönenden Worte, keine leeren Trostworte, keine Kraftworte einer ungeprüften Begeisterung, sondern das ist der Versuch, offen und rückhaltlos das zu Wort zu bringen, was ihr empfindet und was als Frage und Klage und Erschrecken und Verbitterung das Herz so vieler unter euch erfüllt" (497 f.).

Was alle empfinden, macht den ersten Teil der Predigt aus. "Wir alle (sind) aufs Tiefste erschrocken vor dem Abgrund, der sich uns geöffnet hat. Nun sind wir mit Grauen erfüllt vor dem, was Leben und Kultur und Menschen in Wahrheit uns gegeben haben. Was anders als die Hölle auf Erden! Zerbrochen ist unser Glaube an die Welt, zerbrochen unser Glaube an die Kultur, zerbrochen unser Glaube an die Menschheit" (498 f.). "Wir alle haben mit einem Teil unserer Seele an der Welt gehangen und an sie geglaubt" (499).

Diese Erschütterung wird nun gedeutet, indem er anknüpft an die analoge Erfahrung Jesu, "eines Mannes, der der Welt Jammer empfunden hat wie ihr und wohl noch tiefer und bitterer und der dennoch die Kraft hatte, eine Seele voll Frieden und ein Herz von Fröhlichkeit zu bewahren ..." (498). So läßt er den johanneischen Christus die Situation deuten: "Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch ... Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht" (Joh 14,27). Tillich zitiert in der Predigt die Äußerung: "Ein Gott, der so Furchtbares zuläßt, ist kein Gott" und knüpft daran die Behauptung: "In Wahrheit ist der Gott, an den ihr geglaubt habt, nie gewesen". Dieser Gott sei ein Stück der Welt, ein Götze gewesen. "Der lebendige Gott aber läßt eine Welt vergehen in Blut und Trümmern, um sich der Welt zu offenbaren in seiner Majestät und Gnade" (499). Aber war diese Unterscheidung zwischen dem Gott, an den man bisher geglaubt hat, und dem lebendigen Gott, der sich nun der Welt in ihrem Untergang offenbart, wirklich Ausdruck dessen, was alle empfanden? Konnten seine Hörer ihm hier noch folgen?

Man kann in der Tat im Blick auf die Feldpredigten Tillichs von einer Kriegstheologie auf hohem Reflexionsniveau sprechen. Natürlich ist sie biblisch (zumeist alttestamentlich) abgestützt. So wird der Auszug in den Krieg von Tillich mit dem Auszugsbefehl Gottes an Abraham Genesis 12,1-2 belegt.33 Viele Predigten sind Appelle zum Durchhalten, gegen das "Murren", das als Murren gegen Gott verstanden wird. Mit Psalm 89 wird in einer Predigt zum 500jährigen Bestehen der Hohenzollernherrschaft in der Mark Brandenburg (Nr. 89) -
wie einst David - so nun der Kaiser als der von Gott erwählte Held bezeichnet. Der Psalm enthält in V. 39-52 ein Klagelied über den Niedergang des Königtums Davids. Dies wäre immerhin auch ein möglicher Predigttext gewesen ... Schon die Auswahl eines solchen Textes hätte schärfste Sanktionen des Kriegsgerichts zur Folge gehabt.

Die Soldaten werden immer wieder aufgefordert zur Selbsthingabe. Sie sollen durch ihren Heldentod Christus gleich oder ähnlich werden (z. B. 399.620.636.649.650.652.653.656f. 662). Von einer "Gleichgestalt ung mit dem Bilde Christi" spricht (im Anschluß an Röm 8,29) auch Martin Kähler.34 Den Gedanken der Urbildlichkeit Christi wird man auch für Tillich vorauszusetzen haben. Das Gleichgestaltetwerden ist hier für Tillich aber nicht das Werk Gottes, sondern das Selbstopfer des Soldaten, sein Heldentod. "Wir leben vom Opfer", ruft er in einer Predigt den Soldaten zu, "und unser Leben soll Opfer sein ... freut euch der Zeit des Opfers, freut euch, daß ihr opfern sollt, daß ihr opfern dürft" (über Römer 12,1).35 Religiös verklärt, begegnet der Opfergedanke immer wieder in Tillichs Feldpredigten. Das heilige, wahre, vollkommene Opfer ist der Heldentod. Die Kriegsdichtung der Freiheitskriege, ein literarisches Phänomen, ist das Vorbild. Gerhard Kaiser hat auf den "patriotischen Blut- und Wundenkult" des Pietismus hingewiesen, auf die "der Seelenstruktur des Pietisten sehr naheliegende Form der Hingabe": das Leiden für das Vaterland, auf den Gedanken der "Begeisterung und Selbstvergessenheit als pseudoreligiöser ,Entselbstung’" und schließlich die Deutung der "Opfertat als Erlösungstat, einst, bei Christus, für die Menschheit, jetzt, beim Patrioten, für das Vaterland".36 All diese Elemente des religiösen Patriotismus finden sich auch in Tillichs Feldpredigten.

Deutschland muß wie der Gottesknecht bei Deuterojesaja leiden für die Sünden der anderen. "Das ist das göttliche Gericht, daß er den Schuldlosen richtet, um beide zu retten, den Unschuldigen und den Schuldigen" (492). Dieses Motiv, das stellvertretende Leiden des schuldlosen Deutschland für die Schuldigen, wird auch noch christologisch verstärkt. Israel, Jesus Christus und das deutsche Volk leiden nach Gottes Willen für die Sünden der anderen (492.494).

Alles Leiden spiegelt sich schließlich auch im Herzen Gottes wider. Gott selbst leidet. Es gibt "eine heilige Notwendigkeit", "das Gesetz: durch Leiden zur Freude, durch Tod zum Leben", und diese "heilige Notwendigkeit" ist auch in Gott (582). Gott offenbart sich in diesem Kriege als der leidende Gott.

Neben der Opfer-, Gerichts- und Leidenstheologie bestimmt auch die Eschatologie Tillichs Kriegstheologie. Das Opfer des Lebens auf dem Schlachtfeld ist gleichsam meritorisch der Gewinn des ewigen Lebens, und das Gericht, der Tod und die Vernichtung alles Irdischen, Häßlichen, kurz: "dieser Welt", dient der Rettung, der Offenbarung Gottes und der Teilhabe an seinem ewigen Reich. Alle Predigten haben ihre thematische Mitte im Gedanken des Ewigen, das über aller Zeit steht und doch mitten in ihr, um uns herauszureißen aus dieser Zeit in das ewige Leben. So gesehen, ist Tillichs Kriegstheologie auch eine bestimmte Art von Eschatologie. Die Soldaten sollen sich über das Unsichtbare erheben und "mit unverschleiertem Blick auf das Ewige blicken, das so majestätisch über Zeit und Menschenleben sich offenbart hat".37 "Ich bin reinster Eschatologe ..." schreibt er 1916 an Maria Klein, "fast ausschließlich predige ich das Ende".38 Aber er predigt nicht nur das Ende, sondern auch das Ewige und Unsichtbare, unser Vaterland, das im Himmel ist.

Dies sind die Elemente einer Kriegstheologie; sie steht im Dienste einer Situationsdeutung, die sich längst von den gemeinsamen Erfahrungen aller, von dem, "was alle erleben", entfernt hat, die aber helfen soll, den sich mehr und mehr in die Länge ziehenden und auf die Dauer als aussichtslos und sinnlos erscheinenden Krieg zu verstehen, durchzustehen und ihm einen religiösen Sinn zu geben. Tillich wollte stärken und trösten, auch auf die Gefahr hin, zum Apologeten des Krieges zu werden, stärken und trösten bis an die Grenze des menschlich und theologisch Erlaubten und auch darüber hinaus. Vor allem Seelsorge wollten diese Predigten sein.

6. Spandauer Predigten (Oktober/ November 1918)39

Tillichs Kriegstagebuch endet mit der Notiz: "30. Juli: Versetzung nach Spandau".40 In der Militärkirchengemeinde Spandau hat Tillich vom Erntedankfest 1918 bis zur Jahreswende laut Predigtplan41 an 13 Sonn- und Feiertagen (und zwar in der Garnisonkirche, im Reservelazarett I, in Haselhorst, im Soldatenheim und in der Arrestanstalt) Gottesdienst gehalten. Aus dem Militärkirchendienst wurde er zum 15. Dezember 1918 entlassen. Wie hat er in Spandau, nach der Niederlage, gepredigt?

Ausformulierte Predigtmanuskripte aus jener Zeit sind leider nicht mehr vorhanden. In dem genannten Kriegstagebuch finden sich aber ausführliche Entwürfe von zwei Predigten aus der Spandauer Zeit. Beide Predigten richten sich nicht an Gebildete in den Zeiten des bürgerlichen Harmonieglaubens, sondern an heimgekehrte und verwundete Soldaten und ihre Familien sowie an Insassen der Militär-Arrestanstalt.

Die erste Predigt beginnt mit den Worten: "In die Lage der französischen Revolution, des 30jährigen Krieges, der Völkerwanderung müssen wir zurückgehen, um einen ähnlichen Zusammenbruch zu erleben. Wie aber jene Zeiten die Menschen hingetrieben haben zu den ewigen Höhen, die nicht wanken und weichen, so wollen wir es auch jetzt tun. Wir wollen sehen, was zerbrochen ist, und sehen, was fest bleibt." In ihrem ersten Teil drückt die Predigt aus, was alle erfahren haben: den Zusammenbruch, "was zerbrochen ist: lauter Dinge, die wir als gottgegeben hinnahmen", "die Begeisterung, der Geist, den wir nur zu bereitwillig heiligen Geist nannten ... Das Vaterland, dem wir zujubelten, da wir uns fühlten als das auserwählte Volk ... Die Fürsten, die wir als Stellvertreter Gottes erachteten ... Die Autoritäten, denen wir uns beugten als Gottes Ordnung ... Alle Sitten und Anschauungen, die wir für selbstverständlich hielten ... Und auch die Kirche. Schon ist die Axt an die Wurzel der Landeskirche gelegt. Und von dort denken wir an das eigene Leben: (a) die Millionen, die es verloren haben, und Krankheit und Hunger, (b) Glück und Beruf, die wankend werden, (c) Glaube und Zuversicht, die verloren werden, (d) Unsicherheit innen und außen". Dieser Erfahrung des Zusammenbruchs setzt Tillich nun Gott, "unsere Zuflucht", entgegen: "Gott trägt
alle Dinge, und da er sie erhält, sagt er Ja zu ihnen. Gott weiß alle Dinge; in ihm haben sie einen Sinn, den nur er weiß. Gott will alle Dinge; er lenkt sie nach seinem ewigen Ziel. Seine Art ist es zu vernichten, um aufzubauen; nichts hat vor ihm Bestand, alles hat vor ihm ewige Bedeutung. So sehen wir seinen Schritt in dem Geschehen."

Aber Tillich begnügt sich nicht mit diesen Sätzen über Gott, unsere Zuflucht, sondern stößt weiter vor zu Aussagen über uns selbst: "1. Mit dem Ewigen können wir eins werden. Wir müssen uns zurückziehen in unsere Seele, dort allein den festen Punkt suchen, dort allein spricht Gott ganz zu uns. 2. Wir müssen uns erheben über das Schwanken unserer eigenen Seele: Gott ist allein getreu. Rechtfertigung. 3. Wir müssen uns erheben über die ganze Welt mit Leben und Tod, Glück und Leid." Gelesen wird ein Psalmgebet aus Ps 90,1-3; Ps 69,1-4 und Ps 90,1-12.

Diese Predigt nach der Niederlage ist Seelsorge. Sie gleicht übrigens ihrer Struktur nach der Predigt The Shaking of the Foundations, mit der Tillich seinen ersten Predigtband nach dem 2. Weltkrieg eröffnet.42

In einer weiteren Predigt (über Joh 9,1-3) befaßt sich Tillich mit dem Zusammenhang von Schuld und Strafe. Er hält sie am Buß- und Bettag 1918, also knapp zwei Wochen nach der Revolution vom 9. November, im Reservelazarett und in der Arrestanstalt. "Dem [Text] wollen wir nachdenken", so Tillich, "am heiligen Buß- und Bettage angesichts des nationalen Unglücks, das uns betroffen hat und angesichts der Dunkelheit im einzelnen." Auf zahllosen Ka nzeln, in Gesprächen und in Zeitungen werde die Frage nach der Schuld gestellt. Tillich gibt dann einen interessanten Einblick in die Schulddiskussion im November 1918, bricht die Debatte aber ab, indem er mit Joh 9,3 erklärt: "Weder wir noch die andern haben gesündigt, sondern daß die Herrlichkeit Gottes an uns offenbar werde". Gegen den Wortlaut von Joh 9,3 stellt Tillich fest: "Selbstverständlich haben wir alle gesündigt", erklärt aber, daß es darauf nicht ankomme, sondern darauf, daß "an uns" die Herrlichkeit Gottes offenbar werde: "Gott will etwas mit uns. (a) Durch alle Schuld der Vergangenheit hat er uns hindurchgeführt und uns Großes geschenkt, immer Neues, Besseres. (b) Durch die Schuld unserer Zeit und unser Elend will er uns neue Bahnen führen. (c) Das sei unsere Buße, daß wir Schaffende werden ... Ihr Alten ..., ihr Mädchen ..., ihr Frauen ..., ihr Jünglinge ..., ihr Kinder".

Die Leidenden sollen nicht fragen: "Womit habe ich das verdient?", sondern: "Welche Kräfte soll das Leid in mir auslösen?" Die Schuldbeladenen sollen über ihre Schuld hinauskommen, denn "Gott hat alles unter der Sünde beschlossen, daß er sich aller erbarme" (Röm 11,32). "Daß du noch nicht schuldig warst in deinen Augen, war vielleicht das Hindernis für Gott. Nun ist kein Hindernis mehr."

Noch stärker als die Predigt selbst ist das Psalmgebet (Ps 82,1-4; 88,1-4.9.10) Ausdruck dessen, was die Hörenden empfinden, und Erhebung der Seele zu Gott, Seelsorge aus dem Gebet. Der Predigtentwurf endet mit den Worten: "Für alles ein Weg: das Gebet."

Die beiden Spandauer Predigten deuten den Zusammenbruch als von Gott gegebene Chance des Neuanfangs: "Gott will etwas mit uns ..., er will uns neue Bahnen führen." Das apologetische Moment tritt - wie schon in den Feldpredigten - zurück, bedingt durch die neue geschichtliche Lage, die tröstenden, stärkenden und bewegenden Motive treten hervor.

An Beispielen aus den sechs Stationen Tillichscher Predigt in den Jahren von 1908 bis 1918 habe ich aufzuzeigen versucht, wie Tillich gepredigt hat: im Ernstnehmen der geschichtlichen und geistigen Lage, vor allem aber konzentriert auf die Grundsituation des Menschen, die sich als Anfechtungssituation bestimmen läßt. Die Erfahrung des 1. Weltkrieges bildet in diesem Zusammenhang keine Zäsur. Themen wie Angst, Todessehnsucht und Todesfurcht, Gottverlassenheit, Zweifel, Schwermut sind auch schon für Tillichs frühe Predigten charakteristisch. "Strömungen der Zeit" werden zu "Strömungen der Seele" in Beziehung gesetzt, beide werden vertieft zur Grund- bzw. Anfechtungssituation. Durch Transzendieren aus dem Bereich der Natur und der Geschichte in die Sphäre des Geistes bzw. des Göttlichen und Ewigen wird die Situation der Anfechtung - das ist das Ziel der Predigt - korreliert mit der Gottesgewißheit. Gottesgewißheit wird dabei immer ausgelegt als Gewißheit des ewigen Lebens und ewiger Liebe in der Zeit und über der Zeit.

Die für lutherische Theologie kategoriale Unterscheidung von Gesetz und Evangelium spiegelt sich wider in der Unterscheidung von Situation der Anfechtung einerseits und Gottesgewißheit und Ewigkeitsgewißheit andererseits. In einer der Feldpredigten zitiert Tillich eine von Marie Schmalenbach stammende Gedichtstrophe, die sich damals noch nicht in den Gesangbüchern fand und die man als Quintessenz aller frühen Predigten Tillichs ansehen darf:

Ewigkeit,

in die Zeit

scheine hell hinein,

daß uns werde klein das Kleine

und das Große groß erscheine,

sel’ge Ewigkeit.43

Summary

Research so far has hardly taken notice of the fact that Paul Tillich (1886-1965) served and preached in his home church for some ten years before beginning his academic career in 1919. These early sermons were published for the first time in 1994 by this author. They show at first glance a strong apologetic interest. Tillich’s premiss is a ’living dialectical relationship’ between Christianity and modern culture. His probationary sermon on I Cor. 3:21-23 is for this reason a sermon laying out the task of an apologist, and an anticipation of his memorandum ’Kirchliche Apologetik’ presented to his superiors in 1913. The sermons preached in Lichtenrade in 1909, in Nauen in 1911-12, and in Moabit in 1912-13, are also sermons directed at the educated layperson. Typical are themes such as, ’a longing for death and a fear of death’, ’God and suffering’, ’the many and the mass’, ’the rights of the individual and his justification’. However, it can be seen here already that Tillich the apologist turns increasingly into the pastor. This is particularly apparent in the sermons he held during the First World War. The pastoral care comes to the fore particularly as a spiritual quietive: i. e., as a comfort in suffering, and as an exhortation to stand firm. The apologetic aspect stands aside, but nevertheless returns again as a theology of sacrifice, judgement, suffering, and eternity: as those elements of a war theology which serve the pastoral care. The preacher wants to console and strengthen the individual soldier. Tillich’s sermons preached in Spandau after the German defeat to the soldiers returning home and to the wounded thus interpreted the German collapse as a chance given by God to begin afresh. A characteristic feature of Tillich’s early sermons is the correlation between temptation and the certainty of God. This explains the prevalence of the pastoral over the apologetic approach.

Fussnoten:

* Jörg Viktor Sandberger zum 70. Geburtstag.

1) Vgl. Paul Tillich, Frühe Predigten (1909-1918) (EGW VII), hrsg. von Erdmann Sturm, Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1994. Seitenzahlen für alle Zitate aus diesem Band werden in Klammern ohne einen Zusatz angegeben.

Abkürzungen: GW = Paul Tillich, Gesammelte Werke (hrsg. von Renate Albrecht), 14 Bde.; Stuttgart 1959 ff.; EGW = Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, bisher 89Bde.; Stuttgart 1971 ff.; Berlin/New York 1994 ff.; MW/HW = Paul Tillich, Main Works/Hauptwerke (ed. by/hrsg.von Carl Heinz Ratschow) 6 Bde.; Berlin/New York 1987 ff.; PTAH = Paul Tillich Archives, Andover-Harvard Theological Library, Harvard Divinity School, Cambridge, Massachusetts.

2) Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien. Breslau 1910 (in: Paul Tillich, Frühe Werke, hrsg. von Gert Hummel und Doris Lax [EGW IX, 156-272]); Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung. Gütersloh 1912 (= GW I 11-108).

3) In: Paul Tillich, Frühe Werke, hrsg. von Gert Hummel und Doris Lax (EGW IX, 273-434).

4) Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher (in: Paul Tillich, Frühe Werke, hrsg. von Gert Hummel und Doris Lax (EGW IX, 435-592).

5) MW/HW 1, 25.

6) GW XIII 34-63.

7) Kirchliche Apologetik, in: GW XIII 34-63, hier: 37 f.

8) GW XIII 37 f.

9) GW XIII 53.

10) Bericht an den Feldpropst, in: GW XIII 71-79.

11) Friedrich Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen? Erster Teil. Eine Untersuchung über Motive und Quietive. Göttingen 1902, 2. Aufl. 1905.

12) GW XIII 74.

13) Unveröffentlicht (Entwurf, PTAH, box 114). Laut Schreiben des Königlichen Konsistoriums vom 3.8.1908 sollte das Thema ("Eine Predigt über 1Kor. 3 v. 21-23 mit vorangestellter ausführlicher Disposition") binnen drei Monaten bearbeitet werden (PTAH, box 802). - Zitiert wird nach der unpaginierten Handschrift.

14) Vgl. die in der Denkschrift "Kirchliche Apologetik" gegebene Definitio n: "Die Apologetik ist das aggressive Organ der Kirche gegenüber der Bildung; im Angriff liegt ihre Verteidigung" (GW XIII 42).

15) EGW VII 23-129.

16) Vgl. EGW V 52-55. "Die Zeit in Lichtenrade", so Tillich später in einem Brief an die Frau von Pfarrer Klein, "erscheint mir immer als eine Art goldenes Zeitalter, weil ungetrübten Naturgenusses und seliger Sorglosigkeit" ( EGW V 55).

17) GW I 13-108.

18) GW I 94 f. Vgl. auch Schellings Werke, hrsg.von M. Schröder, 6. Ergänzungsband: Philosophie der Offenbarung. 1. u. 2. Band (1858). München 1954, 372.

19) GW I 95.

20) The Shaking of the Foundations. New York 1948, deutsch: In der Tiefe ist Wahrheit. Religiöse Reden. 1. Folge. Stuttgart 1952; The New Being. New York 1955, deutsch: Das Neue Sein. Religiöse Reden. 2. Folge. Stuttgart 1957; The Eternal Now. New York 1963, deutsch: Das Ewige im Jetzt. Religiöse Reden. 3. Folge. Stuttgart 1964.

21) EGW VII 130-227.

22) Ein Heft mit Predigten (vom Frühjahr 1912) ist verschollen.

23) Pfarralmanach für Berlin und die Provinz Brandenburg. Berlin 1920. 121.

24) Vgl. seine Besprechung des von mir herausgegebenen Bandes "Frühe Predigten" in: ThRv 92, 1996, 39-44 [42].

25) EGW VII 239-349.

26) Unveröffentlicht, PTAH.

27) GW II (vgl. Sachregister unter "Reich Gottes", "Calvinismus", "Theokratie").

28) EGW VII 357-665 und 667-670. - Zu Tillichs Feldpredigten vgl. vom Vf., "Holy Love Claims Life and Limb". Paul Tillich’s War Theology (1914-1918), in: ZNThG/JHMTh 2, 1995, 60-84. Dazu: Ronald B. MacLennan, World War I and Paul Tillich: The Deconstruction and Reconstruction of Theology, in: Papers of the Nineteenth Century Theology Group (AAR 1997 Annual Meeting San Francisco, vol. No. XXIII), Colorado Springs, Colorado 1997, 28-49.

29) GW XIII 74.

30) Vgl. Ex 15,24; 16,2; 17,3 u. ö.

31) Karte vom 4. Januar 1915 (EGW V 87).

32) Brief an seinen Vater vom 18. Januar 1916 (PTAH).

33) Unveröffentlicht, PTAH.

34) Die Wissenschaft der christlichen Lehre. Leipzig 1905, 657.

35) Unveröffentlicht, PTAH.

36) Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisierung (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 24), Wiesbaden 1961.

37) GW XIII 79.

38) EGW V 119.

39) Unveröffentlicht, PTAH. Zitiert wird nach der unpaginierten Handschrift.

40) Unveröffentlicht, PTAH.

41) PTAH, box 801.

42) New York 1948, 1-11.

43) Strophe 4 des Liedes "Brich herein, süßer Schein selger Ewigkeit!"