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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

825–842

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meyer-Blanck, Michael

Titel/Untertitel:

Von der Identität zur Differenz

Neuere Aspekte in der Seelsorgediskussion"Ist die Seelsorgebewegung am Ende?", fragte Eberhard Hauschildt 19941. Man wird die Frage mit einem "Nein, aber" beantworten können. Nein, die Seelsorgebewegung ist keineswegs am Ende, dafür sprechen schon die etwa 4.000 Seiten Literatur, die diesem Bericht zugrundeliegen, ferner die feste Verwurzelung der verschiedenen Sektionen der 1972 gegründeten DGfP (Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie) in der zweiten Phase der Pfarramtsausbildung.2 Nein, am Ende ist die Seelsorgebewegung nicht - aber sie ist bescheidener, weniger "ganzheitlich" geworden, so der verschwommene, in der Praktischen Theologie eine Zeit lang inflationär gebrauchte Begriff. Der Leitbegriff ist ferner nicht mehr die "Identität". Das Schlüsselwort, um die jetzige Diskussionslage zu charakterisieren, scheint mir "Differenz" zu sein. Eine differenzierte Wahrnehmung der Chancen/Grenzen therapeutischer Seelsorge und eine Anthropologie der Differenz als Grundlage revidieren die therapeutischen Einheitsvisionen, die Christian Möller in seinem letzten Bericht in dieser Zeitschrift kritisch darstellte.3

Im folgenden ist über sehr unterschiedliche Arten der Seelsorgeliteratur zu berichten. Da ich mich an die Form der Sammelrezension halte, kann nicht über alle wichtigen einschlägigen Titel berichtet werden. Aber die Momentaufnahmen sind durchaus repräsentativ für die gegenwärtige Diskussionslage. Es treten zusammenhängende Linien hervor, deren Vielfalt mit dem Stichwort "Differenz" gekennzeichnet werden kann. Daß damit nicht die banale Einsicht individuell unterschiedlicher Ansätze und Sichtweisen gemeint ist, sondern die Differenz als geschlechtsspezifische, kulturelle, philosophische und damit auch theologische Kategorie, soll im folgenden gezeigt werden.

Als vorangestellte Zusammenfassung der Diskussionslage können drei Punkte festgehalten werden:

a. Die legitimatorischen Argumentationen betreffs der Verwendung therapeutischer Ansätze in der Seelsorge scheinen überwunden zu sein. Weil die psychotherapeutischen Ansätze grundsätzlich akzeptiert sind, kann um so genauer nach den Chancen wie den Grenzen gefragt werden (Differenzierung im Theologie-Psychotherapie-Verhältnis).

b. Der Entspannung an der psychologischen Diskussionsfront entspricht eine neue Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen Bedingungen auch des seelsorgerlichen Handelns: Seelsorge in der Moderne oder Postmoderne,4 eine Verortung der Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. die Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft sind neue Diskussionsschwerpunkte. Dies geht nicht ohne eine "Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre" (so der Untertitel der Dissertation von Isolde Karle). Dazu gehören dann die Differenzen der Geschlechter, Lebenswelten und Kulturen (Differenz als kulturelle Grunderfahrung).

c. Die Theologie gewinnt in der Poimenik an Boden zurück, aber nicht als "zurückschwingendes Pendel" (bzw. als "konservativer" Rückschlag) gegen die Seelsorgebewegung. Man wird vielmehr vermuten können: Die Erfahrung von kulturellen Differenzen und Brüchen rehabilitiert auch die theologische Redeweise von der Gott-Welt-Differenz, von dem Fremden der biblischen Gotteserfahrungen oder gar vom "Bruch" im seelsorgerlichen Gespräch. Diese Entwicklung ist nach der fast einhelligen Thurneysen-Kritik der letzten Jahrzehnte das erstaunlichste Phänomen (Differenz als theologische Kategorie).

So viel als grobes Raster vorweg, um die Fülle der unterschiedlichen Werke besser einordnen zu können. Nun zu den einzelnen Veröffentlichungen.

1. Ein Lehrbuch und Kompendium aus der Sicht der Seelsorgebewegung5

Klaus Winkler, inzwischen emeritierter Poimeniker an der Kirchlichen Hochschule Bethel, legt mit dem umfangreichen Werk so etwas wie die Bilanz der Seelsorgebewegung aus der Sicht des psychoanalytischen Zweiges vor. Der Autor gibt selbst im Vorwort an, das Buch solle als in die grundlegenden Fragen einführendes Lehrbuch wie als Kompendium mit Spezialinformationen benutzt werden können (VII). So finden sich neben Hinführung und Rahmenbedingungen, wo die klassische Seelsorgeliteratur dieses Jahrhunderts (u. a. E. Thurneysen, D. Stollberg, J. E. Adams) besprochen wird (1-76), ein geschichtlicher Teil über die Seelsorge von der Bibel und Alten Kirche bis in die Gegenwart (77-171), ein systematischer Teil, der die "fortgeführte Seelsorgebewegung" thematisiert (172-288) sowie schließlich konkrete Themen (u. a. Umgang mit Angst, Glaube, Schuld, 289-357) und die Seelsorge in einzelnen Lebensphasen und unterschiedlichen Lebenslagen (Krankenhaus-, Telefon-, Militär-, Gefängnisseelsorge, 358-501). Es folgt ein kurzes "Plädoyer für eine Seelsorge an Seelsorgern und Seelsorgerinnen" (502-507). Eine ausführliche Bibliographie und hilfreiche Sach- und Namensregister schließen den Band ab (508-561).

In diesem breit angelegten Werk findet man demnach nahezu alles, was man zum Thema "Seelsorge" suchen könnte. Dabei ist allerdings die psychoanalytisch orientierte Position des Autors als Voraussetzung in Rechnung zu stellen. So fehlt ein Kapitel, das die unterschiedlichen therapeutischen Ansätze (analytische, humanistisch-psychologische, verhaltenstherapeutische, systemische) im Hinblick auf die zugrundeliegenden Axiome und die theologische Rezeption orientierend nebeneinanderstellt. Methodisch interessant ist hingegen der geschichtliche Abriß in 35 Kurzporträts von F. Schleiermacher bis W. Uhsadel (131-168). Durch die Kürze fehlt allerdings jeglicher gesellschaftlicher oder biographischer Zusammenhang, so daß hier weniger vielleicht mehr gewesen wäre. Gerade die gesellschaftlichen und biographischen Hintergründe poimenischer Ansätze wird die künftige Praktische Theologie stärker berücksichtigen müssen.



Was sagt nun Winkler zu einer "fortgeführten Seelsorgebewegung"? Zunächst wird die Poimenik als bewußt theologische Wissenschaft konzipiert. So werden Seelsorgetheorien etwa danach klassifiziert, wie sie auf Jesus von Nazareth Bezug nehmen (79 ff.). Sodann aber werden wiederum die Charakteristika der Seelsorgebewegung als auch für heute zeitgemäß hervorgehoben: die Religionskritik Sigmund Freuds und die Einführung in die Neurosenlehre als Voraussetzung der Seelsorge, eine intensivierte Beratungsarbeit und sogar die Forderung nach der Etablierung der Pastoralpsychologie als einer neuen Unterdisziplin der Praktischen Theologie (184) - vieles davon klingt für den jüngeren Leser (den Rez. trennen von K. Winkler zwei Lebensjahrzehnte) mehr nach einer fortgesetzten statt nach einer fortgeführten Seelsorgebewegung. Diese Grundorientierung betrifft denn auch die Urteile etwa über Thurneysen (32 ff.) einerseits6 und die liberale Theologie in den USA andererseits (177).

Die eigenen Akzente von Winkler betreffs der "fortgeführten Seelsorgebewegung" lassen sich an folgenden Punkten festmachen. Zum einen an dem zentralen Thema von Schuld, Vergebung und Gewissen: Hier entfaltet Winkler mehrfach die theologisch folgenreiche These, es gelte "statt des traditionellen ,erschrockenen Gewissens’ zunehmend ein ,gekränktes Gewissen’ als Erlebnisstruktur wahrzunehmen" (282). Dies wird im Zusammenhang der Narzißmusforschung (H. Kohut) beschrieben: Nicht die Auseinandersetzung mit Normen (im Sinne von Freuds "Über-Ich"), sondern die Auseinandersetzung mit den Ich-Ideal-Vorstellungen erzeuge gegenwärtig Gefühle des Selbstzweifels und Versagens, eben das gekränkte Gewissen (274-288). Die systematisch-theologischen Implikationen dieser Veränderung sind enorm: "Sünde" wäre dann nicht mehr vornehmlich im Kontext menschlichen Normerlebens, sondern im Kontext von versäumten Ich-Ideal-Entwicklungen zu beschreiben. Daß diese Entwicklung von der gesellschaftlichen Individualisierung verstärkt wird (bzw. daß beide Phänomene eng zusammenhängen), liegt auf der Hand.

Zum zweiten akzentuiert Winkler die "seelsorgerliche Aufgabe heute" im Gespräch mit dem Ziel, "daß Unverbindlichkeit im Glaubensbereich vermieden wird und dennoch Freiheit im Handlungsbereich erhalten bleibt" (248) und nennt dazu fünf Beschreibungen: Seelsorge ist "strukturiertes Geschehen", ist "umfassend deutendes Geschehen", ist "glaubensbezogenes Geschehen", "lebensgestaltendes" und "emanzipatorisches" Geschehen (260-274). Damit dürfte in der Tat ein relativer Konsens der "fortgeführten Seelsorgebewegung" formuliert sein, ebenso in der Anmerkung: "Die Glaubensfrage so oder so zu stellen, kann einem Leistungsprinzip des Seelsorgers/der Seelsorgerin entsprechen. Selbstredend muß diese Frage nicht in jedem einzelnen Gespräch expressis verbis auftauchen ... Sehr wohl aber ist für dieses Gespräch ... ein ,Klima’ konstitutiv, das gleichsam zur Glaubensfrage verlockt!" (269, dort kursiv). Es seien schließlich noch wenige Einzelpunkte erwähnt: Hilfreich sind die zahlreichen konkreten Beispiele (etwa die unterschiedlichen Verständnisse von "Angst" bei zwei Seelsorgern, 301-304), eher störend ist es, daß sehr viel Literatur mehr referiert als konzeptionell charakterisiert wird (etwa zu Ehe/Familie, 403 ff., zur Trauerbegleitung, 412 ff. oder zur Seelsorge in der Ortsgemeinde, 450 ff.). Erlaubt sei auch die technische Frage: Muß wirklich so viel Stoff in den Fußnoten (bzw. im Text im petit-Druck) abgehandelt werden (sehr oft mehr als die Hälfte der Seite!). Wohltuend ist es wiederum, daß Winkler den Blick weitet über die Disziplingrenzen hinaus in die Religionspädagogik (5; 364 ff.). Insofern handelt es sich um ein breit angelegtes Werk, welches den Schwerpunkt auf den Kompendiumscharakter legt, während für ein Lehrbuch noch etwas mehr methodische Strukturierung wünschenswert gewesen wäre.

2. Ein Wörterbuch aus der Sicht der "Biblisch-therapeutischen Seelsorge"7

Bei diesem Werk handelt es sich um ein in mehrfacher Weise eigentümliches Genus. Zum einen ist es ein Wörterbuch, das sich nicht vornehmlich an Therapeuten oder Seelsorger im Pfarramt wendet, sondern vor allen an Laien (Vorwort, 5). Diesen soll psychologisches Grundwissen im Gespräch mit dem biblischen Menschenbild erschlossen werden. Die dahinter stehende Konzeption ist diejenige der "biblisch-therapeutischen Seelsorge", welche in der (von Michael Dieterich gegründeten und geleiteten) "Deutschen Gesellschaft für Biblisch-therapeutische Seelsorge e. V." ("DGBTS", in deutlicher Parallelisierung zur "DGfP", s. o.) organisiert ist.

Bereits 1989 erschien von M. Dieterich das "Handbuch Psychologie und Seelsorge" (s. die Anzeige in ThLZ 118, 1993, 1068 ff.). Das vorliegende Lexikon ist eine Fortsetzung bzw. aktualisierte Ergänzung des Handbuches dieser insgesamt eher marginalen (vornehmlich im evangelikalen Umfeld rezipierten) Seelsorgekonzeption. Die 54 Autorinnen und Autoren des Lexikons lassen sich mehr oder weniger dem evangelikalen Bereich zuordnen (wobei dies nicht als Abqualifizierung gemeint ist, sondern als Orientierung von begrenztem Wert).

Das Hauptinteresse der "Biblisch-therapeutischen Seelsorge" (BTS) ist es, die Defizite der übrigen poimenischen Diskussion ins Blickfeld zu rücken: 1) Die BTS stellt programmatisch zusammen, was bisher eher voneinander abgegrenzt wurde: biblische Einsichten und den neuen Stand psychotherapeutischer Einsichten. 2) Die BTS rehabilitert die verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen Ansätze, welche unter der Vorherrschaft von analytischen (Freud, Jung) und humanistisch-psychologischen (Rogers) Ansätzen in der Poimenik bisher als nahezu insdiskutabel galten.8 3) Die BTS reduziert Umfang, Gewicht und damit auch die "Tiefe" und Intensität der therapeutischen Beziehung,9 womit gleichzeitig die Seelsorge durch therapeutische Laien wieder neu in das Blickfeld rückt.

Ist dieses positiv festgehalten, können auch die Kritikpunkte an dem zu besprechenden Wörterbuch deutlich benannt werden.

Neben einer Vielzahl von informierenden, vom Standpunkt der BTS her geschriebenen, aber nicht einseitigen Artikeln (zu "Pastoralpsychologie", 260 ff.; "Psychoanalyse", 278 f.; "Selbstverwirklichung", 326 ff.; "Sünde", 352 ff.; "Systemtherapie", 354 ff.) finden sich auch ausgesprochen erfrischende - besonders lesenswert ist derjenige zu "Killerphrasen", weil das Stichwort gerade auch auf den eigenen Ansatz kritisch angewandt wird. Durchaus kritisch heißt es auch zum Behaviorismus, "daß (geändertes) Verhalten allein nicht heil macht" (45). All das ist gewiß für eine "qualifizierte Kurzausbildung" von Seelsorgehelfern sinnvoll, wie diese von der BTS beabsichtigt ist (52).





Grundsätzlich wird sich die BTS jedoch die Frage gefallen lassen müssen, ob sie systematisch-hermeneutisch weit genug denkt. So sind fundamentalistische Argumentationsmuster zwar nicht die Regel, aber mindestens eine Gefahr. Daß die BTS für sich in Anspruch nimmt, "zwischen empirischer Grundlage und ideologischem Überbau in den Therapierichtungen" zu unterscheiden und dabei "die objektiven Vorgänge im menschlichen Verhalten und Erleben" in den Blick zu bekommen (53), zeigt, daß die Zuordnung von Bibel und Therapie im Sinne einer naiven Addition zu kurz greift. Die Rede von den "geistlichen Realien" (wie etwa der Satz "Ich bin Kind Gottes" (49) in dem Artikel zu "Bekehrung und Neugeburt") liegt auf der gleichen Ebene. Schwierig ist auch die Entgegensetzung von Kirchlicher Eheberatung und "Selbstverwirklichung" (76), erst recht der (unbegründete) Satz, "daß jeder Geschlechtsverkehr außerhalb der heterosexuellen Ehe mit der Schöpfungsordnung nicht vereinbar ist" (142, Art. "Homosexualität"). Die wenigstens teilweise Anlehnung an die hermeneutisch völlig unzureichende "nouthetische Seelsorge" von J. Adams (247 f.) erweist das Defizit an systematisch-theologischer Reflexion.

Diese kritischen Punkte dürfen aber nicht dazu führen, die von der BTS formulierten Anfragen an die übrige Poimenik schon für beantwortet zu halten (dazu die drei oben genannten Punkte). Es wird sich zeigen müssen, ob die kleine Strömung der evangelikalen BTS und die große Strömung der volkskirchlichen Pastoralpsychologie streitend voneinander lernen und die biblischen und therapeutischen Grundsatzfragen gemeinsam weiter klären, oder ob sie sich nur in Abgrenzungsstrategien selbst bestätigen wollen.

3. Die fortgeführte Krankenhausseelsorge

Die Krankenhausseelsorge ist in die Jahre gekommen, und die enger werdenden Finanzspielräume gefährden die in den letzten Jahrzehnten stürmisch gewachsene Infrastruktur dieses funktionalen Dienstes. Zudem sind neue Gruppen von Kranken (Intensivmedizin, AIDS, Geriatrie u. a.) in das Blickfeld der Krankenhausseelsorge gerückt, - Gründe genug, auch hier ein "Handbuch"10 herauszugeben:

In diesem Band wird der gegenwärtige Stand der professionalisierten Krankenhausseelsorge gut greifbar. Der Herausgeber, Michael Klessmann, ist Geschäftsführer des Seelsorgeinstituts an der Kirchlichen Hochschule Bethel, zwölf der 7 Autorinnen und 16 Autoren haben hinter ihrem Namen verzeichnet "Supervisor(in) (DGfP/KSA)", hinzu kommen Namen von Wegbereitern der Krankenhausseelsorge wie Hans Christoph Piper und Dietrich Stollberg.

Von besonderem Wert - und zwar nicht nur für die Seelsorge im Krankenhaus - sind die Beiträge zu speziellen Patientengruppen. So sind die Hinweise zur Kommunikation auf dem "visuellen Kanal" bei Intensivstation-Patienten auch für Angehörige und Pfarrer(innen), die Gemeindeglieder besuchen, unmittelbar hilfreich (sehr praktisch; 55-59, Peter Frör). Einleuchtend sind auch die Warnungen vor einer Öffnung und Gespräch herbeiführenden Seelsorge nach einem Herzinfarkt: "dabei wird unterschätzt, wie massiv und lebensnotwendig die Herzwand ist" (72, Ulrike Johanns, die mit der "Herzwand" notwendige Schutzmechanismen beschreibt). Nachdenklich stimmt auch die Kritik an der im Zuge "ganzheitlicher" Betrachtung aufkommenden "Psychoonkologie" bei Krebskranken: "Schließlich ist man selbst an seiner Krankheit schuld, weil man nicht die richtige Einstellung zum Leben hatte ... Das Ganze endet in einer Psychologisierung und Moralisierung, die Krankheit wird zur Schuld" (79, Harald Stiller). Wichtig ist auch der kritische Hinweis auf eine Tendenz, bei der man festlegt, "wie ein gelungenes Sterben aussieht und wie nicht" (92, Winfried Bolay).

Dies muß an Einzelheiten aus dem Buch an dieser Stelle genügen; es sind auch Beiträge veröffentlicht zur Seelsorge in der Frauenklinik, zur Seelsorge mit AIDS-Kranken, mit psychiatrischen Patienten, mit Alten, mit Suizidanten11 - schließlich aber auch mit Angehörigen und Mitbetroffenen bzw. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Darüber hinaus finden sich wichtige Beiträge zur Krankenhaussoziologie (hier erfährt man etwa, daß der Operationssaal architektonisch im 19. Jahrhundert dort hinkam, wo bisher die Spitalkapelle stand und wie das Verhalten von Ärzten bei der Visite sich empirisch darstellt, 28-39, Johannes Siegrist) und schließlich zu "Seelsorge im Krankenhaus als kirchliches Handeln" (Teil III, 181-279 mit 9 Beiträgen etwa zu den Themen Ethik, Gottesdienst, Ökumene, Aus- und Fortbildung, auch von Ehrenamtlichen).

In dem Buch sind demnach alle Fragen, die zum Thema interessieren, angesprochen - wie man dies von einem guten Handbuch erwartet. Praktisch-theologisch sind vor allem zwei Problembereiche herausgearbeitet: A. Die Institutionalität der Krankenhausseelsorge zwischen Kirche und Krankenhaus und (damit zusammenhängend) B. das kirchliche und theologische Profil der Krankenhausseelsorge.

Ihrem Selbstverständnis nach übernimmt die "Krankenhausseelsorge eine grenzgängerische Funktion für die Kirche insgesamt" (26, Michael Klessmann). Institutionell umstritten sind dabei eine stärkere oder völlige Einbindung in das Krankenhaus-Team (wie in den USA) oder eine erneute stärkere Anlehnung an Kirchengemeinden/Kirchenkreise. Die Sparmaßnahmen einzelner Landeskirchen bei der Krankenhausseelsorge (etwa: Berlin-Brandenburg 1996) lassen jedoch mindestens die Forderung nach der weiteren "Differenzierung der funktionalen kirchlichen Dienste" (270, M. Klessmann) als unrealistisch erscheinen.

Die Frage nach dem Profil der Krankenhausseelsorge macht offensichtlich den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren erneut wichtig; durchgängig wird in dem Band die Notwendigkeit von Ritualen, Gebet, Segnung, Salbung betont (etwa 113, 129, 175, 187, 211, 268). Auffällig ist die Formulierung von Dietrich Stollberg, der seinerzeit die Seelsorge als "Psychotherapie im kirchlichen Kontext"12 definierte (206): "Der konkrete Ort, wo sich Kirche darstellt ..., sind das Kirchengebäude und der darin vollzogene Gottesdienst ... Daß sie psychohygienische, gleichsam therapeutische Wirkung hat, ist dabei sekundär".

Wichtig dürfte darüber hinaus die hermeneutische Funktion der Krankenhausseelsorge für die gesamte Theologie sein: In der "Theologie" der Kranken sind religiöse Entwicklungen greifbar, die im parochialen Feld eher übersehen werden. Die Sehnsucht nach religiöser Erfahrung als vertiefter Sinn-Erfahrung bis hin zu Einflüssen der Esoterik (186 f., Hans-Christoph und Ida Piper) stellen der wissenschaftlichen Theologie nachdrücklich die Frage, wie sie von Lebenserneuerung und dem Leben nach dem Tode zu reden weiß (damit ergibt sich wiederum eine Gemeinsamkeit mit der ebenfalls "grenzgängerischen" schulischen Religionspädagogik).

Ist das von Klessmann herausgegebene "Handbuch" ganz aus dem Geist der "Klinischen Seelsorgeausbildung" (KSA) heraus geschrieben, so vertritt der Titel von Wiedemann den psychoanalytischen Zweig der Krankenhausseelsorge.13 Anders als der Titel vermuten läßt, geht es nicht um die Seelsorge in der Psychiatrie, sondern um "verrückte" Reaktionen verschiedenster Patienten oder auch des Seelsorgers, welche mit dem Instrumentarium von Übertragung und Gegenübertragung gedeutet werden. Hintergrund ist der von Wilfried R. Bion (1897-1979)14 geprägte Begriff des "containment" bzw. "contain(er)". Wenn ein Patient zu starke Angst empfindet, als daß er sie in seiner Persönlichkeit halten (contain) kann, spaltet er sie ab und legt sie in den Therapeuten/Seelsorger hinein. So berichtet Wiedemann, wie ihm beim Gespräch mit Patienten in der Krankenhausaufnahme der Schweiß am Rücken ausbricht, wie er schwindelig wird und wankt oder einen Krampf im Fuß bekommt (28-35). Entsprechend findet sich immer wieder die Unterscheidung von Patienten, die "gegen mich reden" und solchen, die "in mich hinein" reden (56, 87 f., 117, 152): Etwa über eine Patientin, die ihn, den Pfarrer, mit einer vorgehaltenen Zeitung (wie ein Schutzschild) abwehrt wie den Teufel, bemerkt Wiedemann, daß derlei "psychotische" Reaktionen oftmals der begriffenen realen Gefahr entsprechen: etliche der "psychotisch" reagierenden Patienten stellten sich später "als besonders reif, sympathisch, sensitiv und intelligent" heraus (43). Theoretisch liegt der Gewinn des Buches darin, daß Regressionen in frühe Muster nicht notwendig als "Unreife" der Persönlichkeit gewertet werden müssen (dazu s. die beiden Reifungsschemata "Stufen" bzw. "Ring/Baum", 41 ff.). Praktisch liegt der Gewinn in einem Zuwachs von Akzeptanz bei der Seelsorge an Kranken mit "verrückten" Reaktionen. Dem Nicht-Analytiker sei allerdings die Frage erlaubt, ob dazu wirklich (immer) das geballte analytische Instrumentarium richtig ist (verstiegen fand ich die ödipal-psychotisch-narzißtische Deutung der Bitte an den Pfarrer, eine Tasche zu tragen, 142 f.).

In einer zweiten Auflage erschien nach mehr als 20 Jahren der Titel von Glaser und Strauss.15 Das Buch behandelt die - auf dem Hintergrund amerikanischer Krankenhäuser - auch in der deutschen Medizin und Poimenik immer wieder diskutierte Frage der "Wahrheit am Krankenbett" bei sterbenden Menschen.16 Dabei beschäftigen sich die Autoren aber nicht mit dem Prozeß des Sterbens und weniger mit dem Patienten selber, sondern vor allem mit der Interaktion zwischen dem Sterbenden und dem Krankenhauspersonal. Es handelt sich um eine eher soziologische Zugangsweise, die auf Feldstudien (Beobachtungen und Interviews in sechs Krankenhäusern in der Bucht von San Francisco) beruht. Dabei wird eine soziologische Theorie von "Bewußtheits-Kontexten" (238) beschrieben (man könnte ebenso von einer systemischen Betrachtungsweise sprechen). Als Typisierung werden vier "Bewußtheits-Kontexte" beschrieben:

1. Der geschlossene Bewußtheits-Kontext: Ärzte, Pflegepersonal und Angehörige "zielen darauf ab, den Patienten irrezuleiten" (27).

2. Der Kontext "Argwohn": Es findet ein Kampf um die entscheidende Information statt - die Autoren vergleichen die Situation mit der organisierten Spionage (41). Der Patient stellt Gesprächsfallen, der Stab ergreift Abwehrmaßnahmen. Das Gegenteil dazu ist:

3. Das rituelle Spiel wechselseitiger Täuschung: Patient und Stab wissen um den bevorstehenden Tod, handeln und reden aber übereinstimmend so, als werde der Patient weiterleben. Dabei ist "die Stimmung meist heiterer als wenn offener Argwohn vorherrscht" (65).

4. Der Kontext offener Bewußtheit.

Mit Hilfe dieser vier Interaktionsmuster werden mehrere systembedingte Phänomene besser beschreibbar: die Tatsache, daß Patienten, die Mut und Haltung beim Sterben bewahren, "ihren Betreuern das Gefühl professioneller Nützlichkeit vermitteln" (75); die "Objektverlagerung" der Anteilnahme von dem sterbenden Patienten auf Angehörige oder auch andere im Team (etwa 193 u. ö.); der Zwang für die Schwestern, "eine bessere Stimmung zu beweisen als der Patient" (218). Am Rande: Höchst nachdenklich stimmen muß die Bemerkung betr. der nötigen Benachrichtigungen: "Ist der Sterbende katholisch, muß ein Pfarrer geholt werden" (221).

Die Neuauflage dieses inzwischen in Einzelheiten gewiß zu modifizierenden Buches zeigt auf jeden Fall an, daß sich ein Wechsel von der analytisch-humanistischen Betrachtungsweise des Individuums hin zu systemischen Denkweisen vollzieht und daß es in der deutschen Poimenik in nächster Zeit wahrscheinlich Veröffentlichungen aus diesem Bereich geben wird - so steht jedenfalls zu hoffen: eine wirkliche Fortführung der Krankenhausseelsorge.

4. Blick über die Grenzen gängiger Poimenik:

Notfallseelsorge - Bundesgrenzschutz - Religionsunterricht - Beratung.


Von den vier hier vorzustellenden Büchern verdiente vor allem das erste eine stärkere Hervorhebung als dies bei einem Literaturüberblick möglich ist. Die "Notfallseelsorge" ist ein noch wenig bekanntes, aber gerne angenommenes, höchst notwendiges Angebot in einer Zeit, da Leiden und Sterben immer weniger zu Hause stattfinden, aber auch nicht nur im Krankenhaus, sondern auf der Straße als drittem Ort und dort völlig unvorbereitet "senkrecht von oben" in den Alltag hereinbrechen. Sehr praktische Hilfestellungen dazu gibt das von Fertig und Wietersheim17 herausgegebene Buch.

Ausgegangen wird von der erstaunlichen Tatsache, daß es schon seit langem Seelsorge speziell für Polizisten und Soldaten gibt, aber kaum für den Rettungsdienst (bzw. die Feuerwehr). Liegen die Aufgaben bei Polizei und Militär eher im unterrichtlichen oder auch allgemein pädagogischen Bereich (statt "Seelsorge" an Soldaten ist eher das umfassende Wort "Gemeindearbeit" mit Soldaten [und ihren Familien] passend), so ist in Notfällen die "Seelsorge" im Sinne von seelischer Unterstützung in aussichtsloser Lage wohl kaum weniger wichtig.

Das Buch informiert über diese neue Form der Seelsorge, ist aber zugleich eine Sammlung von Praxismaterial für Rettungsassistent(inn)en in der Ausbildung. Theoretischer Hintergrund ist auch hier die Methode der "klientenzentrierten Gesprächsführung" in der Tradition von Carl Rogers (87-110). Die angesprochenen Situationen sind neben Verkehrsunfall und Wohnungsbrand aber auch die Krisenintervention bei Gefahr der Selbsttötung ("Brückenspringer", 122 ff.), das Überbringen einer Todesnachricht (193-205) und die Intervention bei Gewalt gegen Frauen und Kinder (231-260). Alles dies zeigt, daß die hier gesammelten Erfahrungen nicht nur für die Mitarbeitenden im Rettungsdienst hilfreich sein können, sondern auch für Gemeindepfarrer(innen), welche in derartigen Situationen um Hilfe gebeten werden.

Als die "Werkzeuge der Seelsorge" werden dabei beschrieben: "körperliche und geistige Nähe, Gespräche, Berührung, Gebet" (31). Bemerkenswert im Hinblick auf die Poimenik insgesamt sind dabei zwei Punkte: Wie schon in der Krankenhausseelsorge liegt ein verstärktes Gewicht auf den nonverbalen Sprachen, dabei besonders auf religiösen Ritualen; und da das Unglück nicht nach religiösen Grenzen hereinbricht, ist die Notfallseelsorge interkonfessionell, ja sogar interreligiös offen (als Gebete erscheinen u. a. Vaterunser, Ave Maria und aaronitischer Segen, als Handlungen u. a. Salbung, Segnung, das In-die-Hand-Nehmen eines Kreuzes oder Rosenkranzes, 157; aber auch Gebete für Muslime sind abgedruckt unter dem Hinweis, daß diese möglichst von einem anwesenden Muslim oder einer Muslima gesprochen werden sollten, 167). Die rituelle und interreligiöse Kompetenz dürfte in der Seelsorgepraxis insgesamt künftig wichtiger werden - einer von mehreren Impulsen dieses wichtigen (sehr praktischen, weniger reflektierenden) Buches.

Aus einem anderen Sonderbereich von Seelsorge entstammt die Festschrift für R. Sauerzapf.18

Die Seelsorge beim Bundesgrenzschutz (BGS) hat es mit jungen Menschen zu tun, bei denen fern vom Elternhaus "eine Persönlichkeitsbildung mit berufsbezogenen Einflüssen statt(findet), die nicht frei von Anfechtungen und Versuchungen ist", so daß es gilt, "die jungen Menschen sensibel zu machen für inhumane Entwicklungen in der Gesellschaft" (145). Schon dieses Zitat zeigt, daß es um eine Aufgabe im Überschneidungsbereich von Poimenik und Bildungstheorie geht. Poimenisch geht es darum, den Beamten den Umgang mit den eigenen Gefühlen ("Zorn, Haß, Gleichgültigkeit und Ablehnung", 12) zu ermöglichen. Pädagogisch geht es um die Erarbeitung eines beruflichen Selbstverständnisses im "berufsethischen Unterricht" (BEU), der in Zusammenarbeit mit kirchlichen Amtsträgern gestaltet wird. Sorgfältig zur Kenntnis zu nehmen ist dabei die gegenwärtige Entwicklung, die die Herausforderung an die Kirchen zu staatskirchenrechtlicher Argumentationsfähigkeit unterstreicht. Aus staatlicher Sicht ist die Beauftragung von Theologen mit dem BEU zwar wünschenswert (22), bei den Berufsanfängern findet dies aber immer weniger Akzeptanz. Es erhebt sich bei ihnen die Forderung, Polizeipraktiker mit dem Unterricht zu betrauen und diesen mehr polizeipraktisch und weniger "auf Religion abgestellt" durchzuführen (167). Daß hier eine professionelle adressatenorientierte Fachdidaktik vonnöten ist, liegt auf der Hand.

Den Überschneidungsbereich von Religionsunterricht und Seelsorge enthält schon im Titel die Dissertation von Büttner.19

Die Arbeit stellt explizit die Frage "Wie können Seelsorge und Religionsunterricht zusammenkommen?" (1) und ist ein Dokument für das Hineinwirken der "Seelsorgebewegung" auch in den Unterricht und weitergehend ein Beispiel für die sich durchsetzende Einsicht, daß die Grenzen zwischen den klassischen Disziplinen (Poimenik/Religionspädagogik) zwar ihren (vor allem arbeitsökonomischen) Sinn behalten, aber überschritten werden müssen im Sinne von oft recht bedeutenden Bereichsüberschneidungen. In diesem Verständnis ist Unterricht auch "Seelsorge durch die Gruppe", ebenso wie Seelsorge durch die Gemeinde nicht ohne gemeindepädagogische Reflexion auskommt.

Inhaltlich ist Büttners Arbeit dem pastoralpsychologischen Symbolbegriff J. Scharfenbergs und der "Themenzentrierten Interaktion" R. Cohns verpflichtet, und religionspädagogische Konzeptionen werden damit im Hinblick auf ihr seelsorgerliches Potential untersucht.20 Ferner entwickelt Büttner eine "Check-Liste", mit deren Hilfe die seelsorgerlichen Möglichkeiten, aber auch Gefährdungen von (alltäglichen 45-Min.) Unterrichtsstunden geprüft werden sollen (199 f., 17 Fragen, zum Teil noch untergliedert). Dort heißt es etwa: "12. Enthält der Stundenverlauf regressionsfördernde Elemente? 14. Welche Übertragungen/Projektionen von Seiten der Schüler und Schülerinnen sind dem/der Unterrichtenden bekannt? ... 15. Welche Gegenübertragung hat der/die Unterrichtende?"

Analytische Kenntnisse vorausgesetzt liegt der praktische Gewinn darin, Störungen im Unterricht besser einordnen zu können, welche mit der eigenen Person zusammenhängen oder auch solche, welche durch die verhandelten Inhalte unerwartet starke Gefühle auslösen (dazu die Unterrichtsbeispiele 21, 83 f.).

Dies zeigt, daß der Titel des Buches präziser "Pastoralpsychologische Aspekte des Unterrichts" lauten könnte (wobei dieser Fachterminus vielleicht vermieden wurde, da sich Lehrer und Lehrerinnen an dem Wort stoßen könnten). Diese Beschränkung ist jedoch eher positiv zu werten, da die Sicht eines "therapeutischen Unterrichts" schultheoretisch nicht haltbar ist und inzwischen auch nicht mehr ernsthaft vertreten wird. Der Unterschied zwischen einer Klasse und einer freiwilligen Therapiegruppe ist kaum zu überbrücken.

Kritischen Umgang mit den pastoralpsychologischen Denkweisen der letzten Jahrzehnte und den Versuch einer revidierten Standortbestimmung bietet der von Beckers und Wittrahm herausgegebene Band.21

Offensichtlich sehen (katholische) Theoretiker der professionellen Beratung schon das schärfer, was an den gängigen psychotherapeutischen Ansätzen aus heutiger Sicht kritisiert werden muß. Von einer naiven Erikson-Rezeption wird ebenso Abstand genommen (9) wie von den humanistisch-psychologischen Theorien: "Das Modell der ,voll funktionierenden Person’, das sich vor allem über amerikanische Therapiethemen in den letzten Jahrzehnten in unseren Köpfen eingenistet hat, ist das Modell eines Menschen in der Lebensmitte, der zur Mittelschicht gehört und ein Recht hat auf persönliche Erfüllung" (83, Rosemarie Welter-Enderlin). Anstelle einheitlicher psychologischer Grundbilder (etwa von "Identität") sind "Grenzverschiebungen" in den Lebensläufen und in den Lebensformen Gegenstand verstärkten Interesses. Kann man dieser Reflexion gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nur zustimmen, so gilt das erst recht für die Kritik an dem Idealbild von "Authentizität", welches den Menschen bedroht mit dem "ewigen Regreß des Zweifels an sich selbst und an seinen Beziehungen" (67, Eva Jaeggi).22 Es könnte allerdings noch begrifflich klarer darüber gesprochen werden, was Seelsorge in der "Postmoderne" (65. 70.73) bedeutet (dazu s. u.). Auch in dieser Veröffentlichung ist ein systemisches Krisenverständnis auf dem Vormarsch (73f.). Ist dies bei Überlegungen zur Paar-, Familien- und Erziehungsberatung nicht verwunderlich, so könnte daraus längerfristig eine veränderte psychotherapeutische Grundorientierung der Poimenik insgesamt erwachsen (dazu s. a. unter 7). Ein in der Seelsorge bisher nicht diskutierter Ansatz ist der kognitionspsychologische, der religionspädagogisch vielfach rezipiert wird und in dem Band durch einen Beitrag von Fritz Oser23 über entwicklungsorientierte Beratung (37-48) vertreten ist. Wiederum erfolgt demnach ein Blick über die Grenzen der zunehmend verselbständigten Teildisziplinen der Praktischen Theologie.

5. Von "Therapie" und "Verkürzung" zum Alltag:

Eine soziolinguistische Revision poimenischer Paradigmen


Einen eigenen Abschnitt verdient ein Buch, das weder von dem klaren Setting der Beratung ausgeht noch von den institutionell bestimmten Seelsorgesituationen, sondern vom Pfarramtsalltag und dort von dem nicht sonderlich geschätzten Kasus Geburtstagsbesuch.24 - Hauschildts Münchener Habilitationsschrift behandelt ein Arbeitsgebiet, das bisher kein poimenisches Interesse fand (jedenfalls was die Lehrbücher und Spezialuntersuchungen betrifft). Der Begriff "Alltagsseelsorge" ist aber nicht auf den untersuchten Kasus beschränkt, sondern durchaus programmatisch gemeint.

In dem Buch werden Gesprächsprotokolle analysiert, im Unterschied zur Krankenhausseelsorge aber keine "Verbatims", bei denen die subjektive Erinnerung des Seelsorgers bekanntlich gerade wichtiger ist als die völlig exakte Wiedergabe eines Gespräches (weil die persönlichen Anteile als Material zur Besprechung in der Supervisionsgruppe dienen). Hauschildt hingegen arbeitet mit exakten Transkriptionen von Tonbandmitschnitten (um die er Pfarramtskolleg(innen) gebeten hat). Diese Protokolle sind mühsamer zu lesen als die "Verbatims", weil sie auch das Durcheinander im Gespräch, jedes Lachen, Räuspern und "hm-eh" etc. verzeichnen: Ein vollständig wiedergegebener Geburtstagsbesuch umfaßt auf über 30 Seiten (409-440) 1.609 Zeilen.25

Die im Hintergrund stehende sozialwissenschaftliche Theorie ist die "Conversation Analysis" von Harvey Sacks/Emanuel Schegloff/Gail Jefferson (98-105). Diese ist an Alltags-Telefonaten entwickelt worden und lehnt es bewußt ab, eine Klassifikation von Gesprächsordnungen vorzunehmen, denn "Die Ordnung des Gespräches ist nicht einfach da ... Sie wird stattdessen eigens im Gespräch selbst hergestellt, und zwar gemeinsam von den Akteuren selbst" (99). Es handelt sich demnach um eine linguistische Methode mit pragmatischem Akzent, unter Berücksichtigung der durch Gruppen von Personen konstituierten sozialen Wirklichkeit (dafür verwenden die Konversationsanalytiker den nicht sehr glücklichen Ausdruck "Ethnomethodologie", 98). Die Methode achtet besonders auf die Mikrostrukturen im Gespräch, und ihre entscheidende analytische Frage ist das "turn-taking", die Verteilung des Rederechts im Gespräch.

Hauschildt beschreibt drei interaktive Gesprächsebenen in den von ihm untersuchten (neun) Geburtstagsbesuchen: 1. "Handlungsbegleitende Dialoge", die sich etwa beim Kommen und Gehen ergeben - diese sind nicht eigentlich Gespräch, weil sie durch nonverbale Zeichen ersetzbar sind; 2. "Small talk", der mit einer Strategie von Höflichkeit und Demonstration von Harmonie das Zustandekommen des Gespräches überhaupt garantiert; 3. "Darstellendes Gespräch", bei dem berichtet und diskutiert wird und ein permanentes "Darstellungsaushandeln" geschieht (153-208).

Das Interesse der Arbeit ist im Rahmen poimenischer Theoriebildung anspruchsvoll, gerade weil die analysierten Gespräche eher "banal" und "trivial" sind (so die immer wieder vom Autor verwendeten Qualifizierungen). Hauschildt will den Alltag jenseits der hohen kerygmatischen oder therapeutischen Seelsorgekonzepte in den Blick bekommen. Die therapeutisch-kerygmatische Latte werde dort so hoch gelegt, daß in der Praxis von Geburtstagsbesuchen stets Defizite zu verzeichnen seien.

Aus dem Buch ergibt sich zunächst eine entlastende Sicht: Alltagskommunikation ist ein eigenes, nicht notwendig ein minderwertiges Genus. Auf der anderen Seite ergibt sich eine neue Herausforderung jenseits von Verkündigung und Therapie, eine alltagstheologische Diskussionskompetenz, die darin besteht, "auch unter den Bedingungen des Alltags offensiv und populär die christliche Lehre zu vertreten" (356). An einem eindrücklichen Gesprächsausschnitt zum Thema "Reinkarnation" zeigt Hauschildt, wie sich der Pfarrer als schlecht vorbereitet für theologische Alltagsdisputationen erweist. Daran werde ein strukturelles Defizit deutlich: In der Regel könnten Pfarrer nur "die biblische Sicht" trotzig-apologetisch gegen die Alltagstheologie von Laien setzen, oder sie zögen sich (wie in dem Beispiel) gleich zurück.

Ob die wenigen dokumentierten Gespräche einen solch weitgehenden Schluß zulassen, sei dahin gestellt. Der große Wert der Arbeit liegt aber darin, die "Alltagstheologie"26 als einen spezifischen Gegenstand empirischen und hermeneutischen Interesses herauszustellen und damit Empiriedefizite der Seelsorgebewegung aufzuweisen. Die Rückbesinnung auf die Theologie erschließt wieder die spezifische Professionalität des Pfarrers/der Pfarrerin, ohne den Aporien der "Verkündigungs"-Konzeptionen zu erliegen.

Damit liegt ein weites Forschungsgebiet vor der Praktischen Theologie, und die Überschneidungen von Poimenik und Religionspädagogik liegen nicht nur im Deskriptiven, sondern auch im Konzeptionellen: Ob nicht die Poimenik die Kategorie des Lernens neu zu bedenken hätte im Hinblick auf zielorientierte Interventionen im "alltagstheologischen" Gespräch? Die beiden Disziplinen der Praktischen Theologie, in denen die Theologie von Laien zur Sprache gebracht wird, sollten darüber hinaus in der Reflexion der benutzten sozialwissenschaftlichen Methoden enger kooperieren, um eben diese Alltagstheologie zu erheben und zu verstehen.

6. Differenz und Moderne: Zur Grundlegung der Poimenik

An dieser Stelle sind zwei fundamentalpoimenische Dissertationen zu besprechen, welche Moderne bzw. Postmoderne als Hintergrund von Seelsorge bedenken. Zuvor ist jedoch noch auf eine kleine Schrift hinzuweisen, welche einen Schlüsselbegriff der Postmodernediskussion ("Differenz")27 aufgreift und poimenisch zu erschließen sucht:28 In Aufnahme von Richard Sennett29 wird an der Seelsorgebewegung ihr Interesse kritisiert, das "psychische Interieur zu pflegen" (33). Dabei drohe die theologische Differenz von Gott und Welt in eine Innen-Außen-Differenz verkehrt zu werden - und daraus wiederum folge die Schwierigkeit, Erfahrungen des Unterschieds als positiven Wert zu begrenzen. Demgegenüber formuliert Grözinger als Aufgabe der Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft, diese solle "die Menschen dazu befähigen, befreiende und produktive Differenz-Erfahrungen zu machen" (27).

Die Vertreter psychoanalytischer Identitätskonzepte in der Tradition Eriksons (oder auch C.G. Jungs) werden heftig widersprechen: Gerade darum sei es auch ihnen gegangen, erst die innere Identität ermögliche die Wahrnehmung und das Aushalten von Differenzen, und das eine dürfe nicht gegen das andere ausgespielt werden. Könnte man sich dabei vermutlich (zu!) schnell einig werden, so liegt trotzdem eine beträchtliche Akzentverlagerung vor. Das Leitbild der Seelsorge ist nicht mehr die identische,30 zur persönlichen Ganzheit befähigte Individualität, sondern die Kompetenz, Differenzen auszuhalten bzw. auch erst wahrzunehmen oder sogar zu fördern.

In diesem Zusammenhang ist zuerst an die geschlechtsspezifischen Differenzen zu denken, und es ist nicht verwunderlich, daß die beiden hier anzuzeigenden Dissertationen von Frauen geschrieben wurden, die die geschlechtsdifferenten Aspekte betonen, jedoch weit darüber hinausgreifen in einer Theorie der Moderne.31 Die beiden Bücher behandeln dasselbe Thema, jedoch auf unterschiedlichen Theoriehintergründen, wobei die gesellschaftliche und geschlechtsspezifische Ausrichtung beiden gemeinsam sind und sich die Ergebnisse in manchen Punkten decken, vor allem die kritische Einschätzung der Dominanz psychotherapeutischer Orientierung in der Seelsorge.

Isolde Karle untersucht exemplarisch den psychoanalytischen Seelsorgeansatz von Joachim Scharfenberg (wobei der Kritisierte dem Buch ein hochnobles Vorwort beisteuerte - wenige Monate vor seinem Tod am 11.3.1996). Theoretischer Gewährsmann ist Niklas Luhmann mit der Systemtheorie.

Treffender wäre es gewesen, wenn Uta Pohl-Patalongs Buch demgegenüber schlicht den Titel getragen hätte "Seelsorge in der Postmoderne". Denn die Autorin will explizit die Theorie der Postmoderne als philosophisches Deutungsmuster heranziehen, um schließlich zu einer "Relecture" von Seelsorgelehren aus postmoderner Perspektive fortzuschreiten (158-244); bevorzugte Gesprächspartner dabei sind Jean-François Lyotard und Wolfgang Welsch.32 Zunächst zu diesem Buch.

Neben der Theorie der Postmoderne ist das Individualisierungstheorem von Ulrich Beck33 ein wichtiger Bezugspunkt. Damit grenzt sich Pohl-Patalong gegen eine "Verfallsthese" ab, als bedeute die gegenwärtige Individualisierung den "Niedergang des Sozialen überhaupt" (85). Demgegenüber will die Autorin "das Modell einer individualistischen Vergesellschaftung vertreten" (85, dort kursiv). Sozialität sei zwar nicht mehr automatisch gegeben, könne aber durch das "aktive Arbeiten am eigenen Beziehungsnetz" als Leistung des Individuums durchaus erwartet werden.

In Anlehnung an Manfred Frank wird ferner eine wichtige Differenzierung (in Kritik an Lyotard) vorgenommen. Mit der Eliminierung des (transzendentalen) Subjekts drohe in der postmodernen Philosophie zugleich die Auslöschung des Individuums, an dessen Besonderheit der Postmoderne doch andererseits gelegen sei. Mit Wolfgang Welsch wird - gegen das "transzendentale" Subjekt wie gegen die "Subjektdekonstruktion" der Postmoderne - die "schwache Subjektivität" propagiert (111 ff.).

Den Grad der hier erreichten Differenzierung werden Poimenik und Praktische Theologie künftig nicht mehr unterschreiten dürfen. Eine naiv-programmatische Rede von "Subjektivität" und "Individualität" ist im Zuge der Widersprüchlichkeit dieser Konzepte in der (Post-)Moderne obsolet geworden, geht es doch nicht darum, "für oder gegen das Subjekt zu sein. Entscheidend ist vielmehr, für oder gegen welches Subjekt man ist" (112, Zitat von Welsch). Das neue Grundbild ist nicht mehr das mit sich selbst identische, monadische, sondern das in sich selbst plural verfaßte Subjekt, das durch die Überschneidung mit den Gehalten anderer Subjekte und Kommunitäten charakterisiert ist.34 Das schwache Subjekt besitzt keine "Zentralinstanz", sondern es verfügt eher über eine "Kohärenz, die aber nicht fixiert ist" (113), kurz: das "schwache Subjekt entwickelt Sensibilität für Differenzen, Umbrüche und Verlagerungen" (114).

Mit diesem Theoriehintergrund wird in der Arbeit die poimenische Literatur gesichtet und der Versuch einer Neukonzeption der Seelsorgelehre unternommen (245-281). Dabei werden aus postmoderner Perspektive Wege beschrieben, die die Seelsorge aus ihrer "Defizitperspektive" im Zuge therapeutischer Ansätze herausführen sollen. Der Andere soll in seiner Andersheit wahrgenommen werden, was die Defizite einschließt. Die Seelsorge hat sich vor einem normierenden Menschenbild der "Ganzheit"35 zu hüten und den Menschen mehr von den Möglichkeiten als von den Defiziten her zu sehen.

Ist der Grundtendenz dieser reichhaltigen Arbeit, die hier nur in einigen Grundzügen vorgestellt werden konnte (höchst anregend sind auch die Differenzierungen bezüglich eines postmodernen Feminismus-Konzepts36, 116-123), nur zuzustimmen, so seien einige Fragezeichen kurz angefügt. Ist der Begriff von "Selbstreflexivität" genügend durchdiskutiert? Mir scheinen ein systemtheoretischer (95) und ein kultursoziologischer (58 f.) einem bewußtseinsphilosophischen Begriff zu widersprechen. Meines Erachtens kann man nicht Selbstreflexivität als neues Kennzeichen der Gegenwart bestimmen. Mit der Kritik an Luhmanns Systemtheorie, diese sei "affirmativ" (66, Anm. 58) und das Individuum sei "machtlos" (78, Anm. 111), wird m. E. das Deskriptive dieser Theorie normativ kurzgeschlossen.

Gänzlich verfehlt scheint mir die Periodisierung in der Folge Kerygmatische Seelsorge - Therapeutische Seelsorge - Pastoralpsychologie zu sein (170-181) - zumal dann auch noch Scharfenberg (!) als Vertreter der Postmoderne beschrieben wird!37 Hier scheint ein Systematisierungszwang vorzuliegen, der zudem die schlichte Tatsache verdeckt, daß der Begriff "Pastoralpsychologie" seit 1950 programmatisch verwendet wird (damals gründete S. Hiltner die Zeitschrift "Pastoral Psychology").38 Ebenso verfehlt erscheint mir die undifferenzierte Kritik an der kerygmatischen Seelsorge, die als Beispiel "traditioneller Kirchlichkeit" (221, sic!) apostrophiert und der gar ein "monistisches Weltbild" (240) vorgeworfen wird.

Manche Fehleinschätzungen beruhen wohl darauf, daß eine Unmenge von Theorien und Literatur bearbeitet wurde. Insofern ist der große Wert dieser postmodernen Seelsorgetheorie gleichwohl hoch zu veranschlagen.

Isolde Karle ist in ihrem theoretischen Zugriff bescheidener. Ihre Arbeit steht auf den drei Fundamenten Psychoanalyse, Systemtheorie (Scharfenberg, Luhmann) und gender studies (Zweigeschlechtlichkeit als soziale Konstruktion). Geschlecht wie Identität werden als Konstruktion begriffen und der Mensch als eine Zusammenfügung mehrerer autopoietischer Systeme. Wenn also das psychische System autopoietisch gedacht wird, dann gilt, "daß es keine direkte Einsichtnahme in die Interna psychischer Systeme gibt" (135, dort kursiv). Es liegt auf der Hand, daß damit das Grundmodell von Übertragung/Gegenübertragung, Interpretation und Durcharbeitung aus der Psychoanalyse nicht mehr vereinbar ist. Dieser wird vorgeworfen, daß sie den Konstruktcharakter ihrer Grundannahmen leugne und davon ausgehe, "daß Bewußtes und Unbewußtes tatsächlich existieren" (130, dort kursiv).39 "Identität" ist demzufolge keine Eigenschaft der Person, sondern eine Eigenschaft der Beobachtung (wobei die Beobachtung als Sache nach Luhmann den "blinden Fleck" qua Tätigkeit der Beobachtung impliziert, was wiederum für den Beobachter des beobachtenden Beobachters ad infinitum gilt). "Identität" entspricht demnach einer Landkarte, nicht einer Landschaft, und wer beides nicht unterscheidet, "der läuft große Gefahr, eines Tages eine Speisekarte aufzuessen" (128).40 Jede Form von Selbstbeobachtung führt damit zur Beobachtung von Differenz. Selbstthematisierung ist nur als Selbstsimplikation denkbar und "Identität ist letztlich nur in Form von Differenz zu haben" (152, im Rückgriff auf Luhmanns Theorie des re-entry des Bewußtseins).

Aus diesem Konzept ergeben sich neben 1. einer Kritik an der Psychoanalyse und 2. dem Plädoyer für die Sicht des Geschlechts als soziale Konstruktion 3. eine Option für die systemische Therapie und - man lese und staune - 4. eine begrenzte Rehabilitierung kerygmatischer Elemente in der Seelsorge. Ich muß mich an dieser Stelle auf wenige Anmerkungen zu den vier Gesichtspunkten beschränken.

1. Im Scharfenberg-Teil (Die Pastoralpsychologie Joachim Scharfenbergs, 62-126) wird an dessen widersprüchlichem Symbolbegriff richtig herausgearbeitet, daß dieser in die Moderne (nicht in die Postmoderne!) gehört, weil er "Psychologie und Theologie letztlich aus einer gemeinsamen Quelle stammen sieht" (91, dort kursiv) und Bibel, Mythen und Gegenwart bedenkenlos mit "seiner einheitlichen Hermeneutik" verbindet (96) und so "Entdifferenzierung" und "Reflexivitätsverluste" in Kauf nehmen muß. An dieser Stelle wird prägnant formuliert: "Gleiches wird eben nicht nur durch Gleiches erkannt, Erkenntnis gewinnt man aus ... Differenz" (115).

2. Das Kapitel "Geschlecht als Konstruktion" (166-205) betont die "gender"-Perspektive überaus stark (bisweilen hat man den Eindruck, die Differenz von "sex" existiere gar nicht mehr),41 wendet aber (wie die Arbeit von Pohl-Patalong) dies auch kritisch auf einen gynozentrischen Feminismus selbst: Die "typisch männliche Rationalität" beruhe auf der ungleichzeitigen Individualisierung von Männern und Frauen in der Moderne (200). E. Schüssler-Fiorenzas "Hermeneutik des Verdachts" werden ideologisierende "Reflexivitätsverluste" bescheinigt (202 f., Anm. 182).

3. Leider nicht mehr ausgearbeitet sind die Hinweise auf die systemischen Therapieformen, die für ein Konzept "Seelsorge als Störung" (214-218) im einzelnen zu reflektieren wären.

4. Theologisch rehabilitiert die "Störung" wieder die Kategorie des "Bruchs" im seelsorgerlichen Gespräch (216). Diese offensichtlich immer autoritär und gesprächsmethodisch mißverstandene Kategorie müßte demgemäß vielmehr als fundamentalpoimenische Kategorie verstanden und methodisch von der Semiotik her weiterentwickelt werden.42

An den beiden letzten Gesichtspunkten lohnt es sich, weiterzuarbeiten, wozu Karle nicht mehr der Raum zur Verfügung stand. Karle aufnehmend müßten Impulse aus zwei völlig unterschiedlichen Büchern berücksichtigt werden, die jetzt noch kurz vorzustellen sind.

7. Differenz, Bruch und System: Künftige Aufgaben

Die Weiterführung der kerygmatischen Seelsorge im erwähnten systemisch-semiotischen Sinne könnte einen Ausgangspunkt nehmen bei der kleinen Schrift des Tacke-Schülers P. Bukowski.43

In Anlehnung an den wichtigen Aufsatz von Wolfram Kurz44 widerspricht Bukowski der verbreiteten Sicht, den "Bruch" im Seelsorgekonzept Thurneysens als "Gesprächsabbruch" zu diskriminieren (40 f.). Die biblischen Inhalte sollen nicht das Gespräch abbrechen, sondern vielmehr einen neuen "Spiel-Raum" eröffnen: Eine biblische Geschichte kann "Neuheit und Überraschung" ins Gespräch bringen und "festgefahrene Erlebnis- und Handlungsmuster ... unterbrechen" (61), vgl. die These 62 (dort kursiv): "Wir können mit einer Geschichte eine neue Sichtweise ins Gespräch bringen, aber wir dürfen nicht das Thema wechseln!" Durchaus praktische Beispiele, auch "paradoxe Interventionen" wie in der systemischen Therapie werden dazu angedacht (84).

Am Schluß steht ein Buch, das den systemischen Ansatz von Therapie sowohl systematisch, als auch gut lesbar bis vergnüglich darzustellen weiß - aber nicht aus der Seelsorge stammt, sondern aus der klinischen "systemischen Therapie".45

Systemische Therapieansätze ("die" systemische Therapie gibt es nicht, es werden zehn Modelle in einer übersichtlichen Tabelle aufgelistet, 24) erobern die Praxis und konzeptionelle Diskussion seit den achtziger Jahren. Ihre Plausibilität liegt in den Grenzen bisheriger therapeutischer Modelle: Diese waren sehr auf die Innerlichkeit des Individuums konzentriert und dauerten vor allem sehr lange. Demgegenüber ist das Prinzip systemischer Ansätze: Das Entscheidende findet nicht in der therapeutischen Sitzung statt (in der das bisherige Leben in der Therapeutenbeziehung neu "durchgearbeitet" wird), sondern außerhalb der Therapie, im normalen Lebensumfeld. Kurz: Die Therapiesitzung gibt lediglich Impulse für das soziale System der Klienten. Die Impulse sollen gut gesetzt sein, um "Störungen" oder "Brüche" in das System zu bringen. Sehr nahe an Bukowskis Rede von den zu eröffnenden Spiel-Räumen durch biblische Texte ist der "ethische Imperativ" systemischen Handelns, welcher den Praxisteil des Buches ("III. Praxis: Zwischen Wissenschaft, Handwerk und Kunst", 116-215) eröffnet: "Handle stets so, daß du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!" Das Buch reflektiert nicht auf seelsorgerliches Handeln, aber die angefügte Bemerkung (ebd.) verdient es, von der Intervention mit Hilfe biblischer Traditionen durchbuchstabiert zu werden: "Gleichzeitig kann es viel Spaß machen, das Gewußte in Frage zu stellen, das kaum Gedachte zum Thema zu machen".

Die Plausibilität systemischer Ansätze beruht nicht zuletzt darauf, daß dabei nicht eine neue therapeutische Existenz in das Leben des Klienten tritt (bekannt sind hingegen die Beispiele, dem Analytiker in den Urlaub nachzureisen, aus Angst, ohne ihn die nächsten Wochen nicht zu überstehen) - therapiert wird das "System" in wenigen Sitzungen mit großen Zeitabständen (dies ist eine Art Markenzeichen). Dauern analytische Beziehungen 80, 240 oder noch mehr Sitzungen (274 - bei Freud waren es noch drei Monate!), so rühmte sich die Mailänder systemische Therapeutin Mara Selvini Palazzoli in den 80er Jahren: "Und jetzt heile ich Schizophrenie in fünf, sechs Sitzungen" (27).

Das Prinzip ist die "Verstörung" im "System", das die Krankheit ausmacht und nicht die Heilung einer "tieferen, ,dahinter liegenden’ individuellen Störung oder Pathologie" (216 f.). Bei der Lektüre mußte ich immer wieder an Thurneysens Rede vom "Bruch", (ich würde eher vom "radikalen Perspektivenwechsel" sprechen) denken.46 Dies heißt hier "Reframing" - "in einen anderen Rahmen ..., der die Bedeutung des Geschehens verändert", stellen (177, dort kursiv), - es gilt die Maxime "Anstoßen statt Durcharbeiten" (205). Wichtig dazu sind "paradoxe Verschreibungen" (etwa: einem entscheidungsschwachen Mann die Aufgabe geben, in nächster Zeit Entscheidungen bewußt hinauszuzögern, aber viel darüber zu sprechen; einem Paar mit Sexualproblemen für eine Zeit verbieten, miteinander zu schlafen, 187ff.). Geradezu vergnüglich ist die Anleitung "Tips zur Chronifizierung eines Problems" (112: "Betrachten Sie sich grundsätzlich als Opfer, nie als Täter/Akteur vergangener Geschehnisse ... Beschreiben Sie sich ihr gegenwärtiges Verhalten möglichst als Ausdruck von Defiziten, nie etwa als sinnvolle oder gar kreative Reaktion ...").

Theoretisch - so würde ich es formulieren - beruht das Konzept auf einer Verflüssigung von Seins-Zuständen in Perspektivität, aus der Ontologisierung wird eine Semiotisierung: "Wir mußten uns dazu zwingen, das Verbum sein systematisch zu vermeiden und durch das Verb scheinen zu ersetzen" (30, Zitat von Palazzoli u. a. 1977, dort kursiv).

Ich breche hier ab und kann die Lektüre des Buches und dessen poimenisches Durchspielen nur nachdrücklich empfehlen. Was bei Karle und Bukowski nur angesprochen, bei Schlippe/ Schweitzer durchgeführt, aber nicht auf die Seelsorge bezogen ist - dies verdiente es, zusammengeführt zu werden. Darin sehe ich (neben Hauschildts Hinweisen auf den theologischen Alltagsdiskurs) eine wirklich Neues eröffnende Perspektive der Poimenik, die auf konkrete Füllung wartet.47

Damit möchte ich am Schluß nur noch kurz Aspekte wiederholen, die beim Durchgang der Literatur auffielen und die für die künftige Poimenik wichtig sein dürften:

1. (Stichwort "Differenz") Das psychotherapeutische Paradigma muß durch ein modernisierungstheoretisches mindestens ergänzt werden, ohne Individualisierung einseitig als Verfallserscheinung (negativ) oder als Möglichkeit zur "Selbstverwirklichung" (positiv) zu bewerten.

2. (Stichwort "Bruch") Eine "Krisen- (und Defizit-)Theologie" sollte ergänzt/ersetzt werden durch eine "Möglichkeits-Theologie", weiter aber auch durch die Befähigung zum theologischen Alltagsdiskurs.

3. (Stichwort "System") Mit der Systemtherapie ist eine zielgerichtete Intervention in den Blick zu nehmen, die Krisen nicht verlängert, sondern neue Möglichkeiten eröffnet. Es liegt auf der Hand, daß damit auch Gesprächsfäden zur Religionspädagogik neu geknüpft werden sollten.

Fussnoten:

1 E. Hauschildt, Ist die Seelsorgebewegung am Ende? Über alte und neue Wege zum Menschen, in: WzM 46, 1994, 260-273. Schön formuliert Hauschildt (272): "Als Totalisierungsprogramm ist die Seelsorgebewegung in der Tat am Ende". Zu Hauschildts Begriff der "Alltagsseelsorge" s. u.

2 Schon Christian Möller, Wie geht es in der Seelsorge weiter? Erwägungen zum gegenwärtigen und zukünftigen Weg der Seelsorge, in: ThLZ 113, 1988, 409-422 konstatierte die enge Verbindung der "Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie" mit der kirchlichen Aus- und Fortbildung (a. a. O., 413 f.).

3 Chr. Möller (s. letzte Anmerkung), 415 f. mit einem Zitat von J. Bopp: "Im Psychokult wollen die Therapeuten Priester/Propheten sein ... Sie wollen ihre Patienten erlösen. Ihre Rede von den Therapiezielen ist eine Liturgie der großen, guten, dunklen Worte". Ausdrücklich vermerkt sei, daß sich dieses Zitat jedoch auf eine allgemeine Form von "Psychokult" bezog und nicht auf die Seelsorgebewegung.

4 Außer den hier besprochenen Büchern vgl. dazu Rolf Schieder, Seelsorge in der Postmoderne, in: WzM 46, 1994, 26-43.

5 Winkler, Klaus: Seelsorge. Berlin-New York: de Gruyter 1997. XIII, 561 S. gr.8 = de Gruyter Lehrbuch. Geb. DM 118,-. Kart. DM 68,-. ISBN 3-11-015161-8 u. 3-11-013185-4.

6 Unverständlich ist für mich eine Formulierung betr. Asmussen über "die reformatorische Sicht einer Trennung (sic) von Gesetz und Evangelium" (158).

7 Dieterich, Michael, u. Jörg Dieterich [Hrsg.]: Wörterbuch Psychologie & Seelsorge. Haan: Brockhaus 1996. 407 S. 8. ISBN 3-417-25658-X.

8 Dafür steht etwa die Kritik von Ernst-Rüdiger Kiesow an der BTS (ThLZ 118, 1993, 1070): "Die Affinität zu diktatorischen Systemen macht betroffen; Faschismus und Marxismus behinderten oder unterdrückten die Psychoanalyse, ließen die Verhaltenspsychologie aber gewähren oder förderten sie sogar, weil man mit ihrer Hilfe meinte, Menschen manipulieren zu können." Eine ganz andere Einschätzung mit überzeugenden klinischen Beispielen (etwa von enuretischen Kindern) findet sich bei Walter Rebell, Psychologisches Grundwissen für Theologen. Ein Handbuch, München 21992. Vgl. ferner das in scharfer Kritik an der Pastoralpsychologie ge-schriebene Buch von Gerhard Besier, Seelsorge und Klinische Psychologie. Defizite in Theorie und Praxis der ,Pastoralpsychologie’ Göttingen 1980.

9 An dieser Stelle besteht eine Parallele zu den systemischen Therapieansätzen, dazu s. u. unter 7.

10 Klessmann, Michael [Hrsg.]: Handbuch der Krankenhausseelsorge. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 295 S. gr.8. Kart. DM 48,-.ISBN 3-525-62347-X.

Vg. dazu vgl. auch das 1995 von Jörg Wieners hrsg. "Handbuch der Telefonseelsorge" (ThLZ 122, 1997, 290 ff.).

11 Hier sei die Frage am Rande gestattet: Muß der Ausdruck "Suizidant-Innen" (154) wirklich sein? Klingt er nicht schon a) steril genug, hat er nicht b) diskriminierende Anklänge ("Asylant", "Querulant", "Denunziant" etc.), und muß dann c) noch beim Schreiben über diese Menschen das große "I" als Ausweis der political correctness plaziert werden?

12 Dietrich Stollberg, Wahrnehmen und Annehmen. Seelsorge in Theorie und Praxis. Gütersloh 1978, 29.

13 Wiedemann, Wolfgang: Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen. Das Heilsame an psychotischer Konfliktbewältigung. Göttingen-Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 197 S. 8. Kart. DM 39,-. ISBN 3-525-45785-5.

14 Bion war Schüler von Melanie Klein (1882-1960), die wiederum ihre Lehranalyse bei (dem Freud besonders eng verbundenen) Karl Abraham (1877-1925) in Berlin absolviert hatte.

15 Glaser, Barney G., u. Anselm L. Strauss: Betreuung von Sterbenden. Eine Orientierung für Ärzte, Pflegepersonal, Seelsorger und An-gehörige. Aus dem Amerik. von G. Bischof-Elten. 2., überarb. Aufl. Göttingen-Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 255 S. 8. Kart. DM 44,-. ISBN 3-525-45790-1.

16 Dazu vgl. schon E. Ansohn, Die Wahrheit am Krankenbett, 1965. Zitiert wird bisweilen der Satz Chr. W. Hufelands (1762-1836, der Arzt Goethes, Schillers, Herders): "Den Tod verkündigen, heißt den Tod geben". Wichtig bleibt der Hinweis von H.-Chr. Piper, Gespräche mit Sterbenden, Göttingen 41990 (1977), 67: "Schon in der biblischen Sprache meint der Begriff der ,Wahrheit’ weniger eine korrekte Information als vielmehr ,Treue’ und ,Zuverlässigkeit’".

17 Fertig, Bernd, u. Hanjo von Wietersheim [Hrsg.]: Menschliche Begleitung und Krisenintervention im Rettungsdienst. Ein Arbeitsbuch für Ausbildung und Praxis. Edewecht: Stumpf und Kossenday 1994. 398 S. 8. ISBN 3-923124-44-9.

18 [Sauerzapf, Rolf]: Berufsethik - Glaube - Seelsorge. Evangelische Seelsorge im Bundesgrenzschutz Polizei des Bundes. Hrsg. von J. Heu

bach, u. K.-D. Stephan. Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1997. 190 S. 8. ISBN 3-374-01638-3.

19 Büttner, Gerhard: Seelsorge im Religionsunterricht. Pastoralpsychologische Untersuchungen zum Zusammenhang von Thema und Interaktion in der Schulklasse. Stuttgart: Calwer 1991. IX, 230 S. 8 = Arbeiten zur Pädagogik, 27. Kart. DM 58,-. ISBN 3-7668-3013-9.

20 Insgesamt geht das Buch allerdings zu unkritisch mit dem schillernden "Symbol"-Begriff um, aber meine anderenorts geübte Kritik (dazu s. meine Schrift: Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, Hannover 1995) ist hier nicht zu wiederholen.

21 Beratung auf neuen Wegen: Grenzen im Wandel. Hrsg. von Hermann-Josef Beckers und Andreas Wittrahm im Auftrag der Kath. Bundesarbeitsgemeinschaft für Beratung. Stuttgart: Kohlhammer 1996. 126 S. 8. ISBN 3-17-014296-8.

22 Die erhellendsten Bemerkungen dazu stammen nach meiner Kenntnis von Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt/M. 21983 (1982), 211: "Soll man aufrichtig sein auch in Stimmungslagen, die ständig wechseln? Soll der andere wie ein Thermometer an die eigene Temperatur angeschlossen werden? Vor allem aber: wie soll man jemandem gegenüber aufrichtig sein, der sich selbst gegenüber unaufrichtig ist? ... Kann man überhaupt eigene Aufrichtigkeit kommunizieren, ohne allein schon dadurch unaufrichtig zu werden?"

23 Am bekanntesten ist das religionspädagogische Werk: Fritz Oser/Paul Gmünder, Der Mensch - Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz, Gütersloh 41996 (1984).

24 Hauschildt, Eberhard: Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuches. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 461 S. gr.8. DM 88,-. ISBN 3-525-62346-1.

25 Eine gewisse Nähe ergibt sich von daher zu der "Objektiven Hermeneutik" Ulrich Oevermanns. Diese Methode qualitativer Sozialforschung wird wiederum in der Religionspädagogik rezipiert, vgl. dazu Albrecht Schöll/Dietlind Fischer, Deutungsmuster und Sinnbildung, Ein sequenzanalytischer Zugang nach der "objektiven Hermeneutik", in: Religion in der Lebensgeschichte: interpretative Zugänge am Beispiel der Margret E., hrsg. vom Comenius-Institut Münster, Gütersloh 1993, 19-49 und 186-221 (dazu s. ThLZ 119, 1994, 708 ff.). Es könnte weiterführen, Konversationsanalyse und objektive Hermeneutik methodologisch ins Verhältnis zu setzen.

26 Dazu s. auch Reinhold Bernhardt [Hrsg.], Alltagstheologie. Glauben im Alltag junger Pfarrerinnen und Pfarrer, Neukirchen-Vluyn 1993.

27 Dazu s. etwa Jacques Derrida, Die différance, in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, hrsg. von Peter Engelmann, Stuttgart 1990, 76-113.

28 Grözinger, Albrecht: Differenz-Erfahrung. Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft. Ein Essay. Waltrop: Spenner 1995. 60 S. DM 7,80. ISBN 3-927718-52-1.

29 Dazu vgl. die These von R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 1986 (amerik. 1974), 427, es sei "die Besessenheit von der Intimität das Kennzeichen einer unzivilisierten Gesellschaft." Eine gewisse Parallele liegt auch in der Kommunitarismus-Debatte, welche an der liberalen Tradition kritisiert, daß sie Gesellschaft nur als eine Assoziation von Individuen denken kann, "von denen ein jedes seine oder ihre Konzeption eines guten oder wertvollen Lebens ... hat": So Charles Taylor, Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Axel Honneth [Hrsg.], Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/New York 31995 (1993), 103-130, Zitat 109. Die Seelsorgebewegung gehört eher auf die Seite des Liberalismus, während deren Fortführung stärker die soziale Konstitution von Individualität und damit die Differenzen betont, vgl. dazu auch den Abschnitt "Streit ums Subjekt: Individualität und Differenz", in: Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst, Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993, 273-361.

30 An dieser Stelle macht sich über die Postmoderne-Debatte auch eine Rezeption französischer Denkansätze bemerkbar. So hatte Claude Lévi-Strauss schon 1977 formuliert: "Ich habe nie ein Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht... Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich Verschiedenes ereignet. Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv". (Mythos und Bedeutung, Frankfurt/M. 1995 [1980], 11 f.)

31 Karle, Isolde: Seelsorge in der Moderne: eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre. Neukirchen-Vluyn: Verlagsgesellschaft des Erziehungsvereins 1996. 261 S. Kart. DM 48,-. ISBN 3-7887-1563-4.

Pohl-Patalong, Uta: Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft. Elemente zu einer Neukonzeption der Seelsorgetheorie. Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1996. 302 S. gr.8 = Praktische Theologie heute, 27. Kart. DM 59,-. ISBN 3-17-014414-6.

32 Einführend dazu vgl. meinen Aufsatz: Praktische Theologie und Postmoderne. Ein Dialog mit Wolfgang Welsch, in: PTh 85, 1996, 225-238.

33 Kritisch ist die Autorin hingegen gegenüber G. Schulzes Theorie von der "Erlebnisgesellschaft", weil diese mit der Unterscheidung von nur fünf Milieus die Pluralisierung nicht wirklich ernstnehme.

34 Insofern ist Welschs "schwache Subjektivität" auch im Hinblick auf den Streit zwischen Liberalismus und Kommunitarismus (s. o. Anm. 29) zu bedenken, in dem sich manche Beschreibungen isolierter Individuen als Fiktion oder Karikatur erweisen könnten.

35 Dazu vgl. auch schon die Kritik am Identitätskonzept bei Henning Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 150-182 und 224-238 ("Alltagssorge und Seelsorge. Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens").

36 So wird angemerkt, daß das Strukturmerkmal "Patriarchat" wohl kaum die Veränderung gegenwärtiger Geschlechterrollen erfaßt (51) und daß nicht zugleich die soziale Konstruktion von Wirklichkeit und die feministische Theorie als Schlüssel für das gesamte Verständnis sozialer Realität behauptet werden könne (122, mit einem Zitat von Jane Flax).

37 Die Berücksichtigung von "Emotion" und "Symbolen" (178) ist vielmehr Inbegriff der Moderne als eines Ganzheitskonzepts, wie im Rekurs auf C. G. Jungs (in der Theorie des kollektiven Unbewußten fußenden) Symbolbegriff leicht zu zeigen ist.

38 Dazu s. Dietrich Stollberg, Therapeutische Seelsorge. Die amerikanische Seelsorgebewegung. Darstellung und Kritik, München 31972, 60-65.

39 Schon Freuds Rede vom "psychischen Apparat", von "Verdrängung" und "Widerstand" zeigt bekanntlich die Herkunft aus den Naturwissenschaften des 19. Jh.s.

40 Mit einem Zitat des systemischen Therapeuten Fritz B. Simon.

41 Abstrus erscheint mir die Bewertung, die Unterscheidung verschiedener Ohrläppchen könne kulturell ebenso relevant werden wie diejenige der Genitalien (177) - ist doch der Unterschied im Hinblick allein auf die Selbstreproduktion des Systems Mensch signifikant.

42 Dazu s. meine wenigen Anmerkungen in dem Aufsatz: Der Ertrag semiotischer Theorien für die Praktische Theologie, in BThZ 14, 1997, 190-219, dort 204 ff.

43 Bukowski, Peter: Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge. 3. Aufl. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1996. 109 S. 8. ISBN 3-7887-1498-0.

44 W. Kurz, Der Bruch im seelsorgerlichen Gespräch. Zum Sinn einer verfemten poimenischen Kategorie, in: PTh 74, 1985, 437-451.

45 Schlippe, Arist von, u. Jochen Schweitzer: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. 2., durchges. Aufl. Göttingen-Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 333 S. gr.8. Kart. DM 54,-. ISBN 3-525-45659-X.

46 Aus Platzmangel notiere ich dazu hier nur Seitenzahlen: von Schlippe/Schweitzer, 33, 39, 42, 63, 65, 67-69, 77, 85, 177 ff.

47 Dies könnte auch eine offensive Gesprächshaltung gegenüber therapeutischen Methoden eröffnen und nicht nur die Alternative von kirchlicher "Sektenmentalität" oder weiterer "Auslieferung" an die Humanwissenschaften, welche Klaus Winkler am Ende seines Forschungsberichtes befürchtet (K. Winkler, Bericht von der Seelsorge, in: ThR 62, 1997, 301-334, dort 333 f.)

Das Manuskript wurde am 15.11.1997 abgeschlossen.