Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

67 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmid, Dirk

Titel/Untertitel:

Religion und Christentum in Fichtes Spätphilosophie 1810–1813.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995, X, 230 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 71. Lw. DM 168,-. ISBN 3-11-014758-0.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Johann Gottlieb Fichtes Spätwerk wird nicht nur seitens der einschlägigen philosophischen Forschung zunehmend als eine eigenständige Ausprägung des deutschen Idealismus geschätzt, so daß der bekannte Dreischritt von Fichte über Schelling zu Hegel nur unzureichend die differenzierten Wege idealistischen Systemdenkens noch über Hegel hinaus markieren kann. Auch seitens der systematischen Theologie, sofern sie religionsphilosophische Interessen verfolgt, wird Fichtes Spätwerk, das Sch. verkürzt und nur äußerlich begründet mit dem Jahr 1810 (Fichtes Berufung nach Berlin) anstatt aus inneren Gründen einer Revision der transzendentalen Grundlegung mit Fichtes "Be-stimmung des Menschen" (1800) beginnen läßt, als möglicher Bezugspunkt für eine fundamentaltheologische Neubesinnung entdeckt.

Sch.s Studie, die als theologische Dissertation an der Universität Kiel angefertigt wurde, zeigt in diesem Zusammenhang sehr eingängig die mögliche Relevanz insbesondere von Fichtes "Tatsachen des Bewußtseins" (1810/11) und seiner "Staatslehre" (1813) auf, um aus den unbefriedigenden Alternativen eines "Offenbarungspositivismus", einer "hermeneutischen" und einer an der religiösen "Erfahrung" orientierten Theologie herauszukommen: Fichtes Theorie des Christentums (re-)konstruiere den Glauben durchaus kritisch innerhalb des weiten Horizonts einer Kultur- und Religionsgeschichte (213), wobei nach Sch. der Dreh- und Angelpunkt Fichtes Christologie sei, die eine konstitutive Bedeutung nicht nur für seine Geschichtsphilosophie, sondern für die Grundlegung der "Wissenschaftslehre" generell erhalte (5-12). Daher stellt Sch. die zentrale, an Schleiermachers fünfte seiner "Reden über die Religion" erinnernde These auf: "Fichtes Theorie des Christentums läßt sich so interpretieren, daß in ihr das Christentum als die geschichtliche Verwirklichung des Begriffs von Religion thematisiert wird" (12).

In sehr luziden Interpretationen, die von einem souveränen Durchdringen der nicht immer leicht verständlichen Texte Fichtes zeugen, arbeitet Sch. Fichtes Begriff von Religion heraus, der aus dem Paradigma der "Sittlichkeit" als Selbstbestimmung aus Freiheit hergeleitet werde und insofern einen Bezug zum Unbedingten eröffne (9). Religion kommt somit als transzendentale Möglichkeitsbedingung von Sittlichkeit in den Blick (40). Die Spannung zu dieser These, die darin besteht, daß Fichte andererseits auch das "Sittengesetz als notwendige Bedingung der Möglichkeit des expliziten Gottesbewußtseins" (52) verstehen kann, erklärt Sch. als eine wechselseitige Verschränkung von Sittlichkeit und Religion (55) dergestalt, daß nach Fichte Religion Anschauung der Sittlichkeit, und Sittlichkeit Begriff der Religion sei (119).

Die Stärke eines solchen am (aufklärerischen) Ideal der Sittlichkeit orientierten Religionsverständnisses liegt sicherlich darin, daß so ein Kriterium zur Unterscheidung etwa zwischen Glaube und Aberglaube gefunden wird (47), das auch in Zeiten eines "postmodernen" Relativismus wieder bedenkenswert wäre. Andererseits stellt sich dennoch die Frage, ob so noch zentrale Inhalte des christlichen Glaubens zur vernünftigen Einsicht gebracht werden können, wie es Sch. in Aufnahme von Fichte intendiert (9). Insbesondere Fichtes Auffassung (besser: Ablehnung) von "Sünde" und "Rechtfertigung" könnten hier bedenklich stimmen.

Diese Bedenken wollen ganz und gar nicht die mögliche Relevanz von Fichtes Spätwerk für die Theologie bestreiten, aber darauf aufmerksam machen, daß deren Bedeutung weniger, wie Sch. meint, in Fichtes Christologie zu suchen wäre, die gerade vor dem Hintergrund des Paradigmas der sittlichen Selbstbestimmung aus Freiheit letztlich doch nur eine episodische sein kann (177, Anm. 162; 216), sondern eher in Fichtes Depotenzierung des "Ich" als Prinzip aller Realität (also, wenn man so will, in der Anthropologie), wie sie als Resultat einer durchreflektierten Analyse menschlichen "Wissens" vor allem in Fichtes "Bestimmung des Menschen" und in seiner "Wissenschaftslehre" aus dem Jahre 1804 eingesehen wird. Eine solche "kritische Selbstbegrenzung des Wissens" (86), das sich Fichte zufolge nur als "Bild" des Absoluten und nicht als dieses selbst verstehen kann, könnte den Weg zu einer vernünftigen "Anthropo-Theo-Logie" (117) eröffnen, die gerade für eine den Grund-überzeugungen der Reformatoren gegenüber verpflichteten Theologie anschlußfähiger wäre, als es das Paradigma der Sittlichkeit sein kann.

Wenn Sch. daher zum Ende seiner Studie, die sich nicht nur durch ihre klare Sprache und ihren folgerichtigen Aufbau, sondern auch durch konstruktive Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschung in den Anmerkungen auszeichnet, zu dem ­ freilich unausgeglichen mit seiner Favorisierung von Fichtes Christologie vor dem Hintergrund des Paradigmas der Sittlichkeit ­ Ausblick kommt, daß Fichtes Reflexion "über das sittliche Phänomen hinweg zur Selbsterfassung der Vernunft als solcher" (211) dränge, und in dieser Selbsterfassung, die be-zeichnenderweise eine Selbstbegrenzung im Sinne einer cusanischen "docta ignorantia" sei (87), der "Ort der Religionsbegründung" liege (211), kann ihm nur zugestimmt werden.