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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

64–67

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kruttschnitt, Elke

Titel/Untertitel:

Ernst Bloch und das Christentum. Der geschichtliche Prozeß und der philosophische Begriff der "Religion des Exodus und des Reiches".

Verlag:

Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1993. 425 S. 8° = Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie, 7. Kart. DM 52.­. ISBN 3-7867-1722-2.

Rezensent:

Bernd Jaspert

Diese bei Max Seckler in Tübingen entstandene und dort 1992 angenommene katholisch-theologische Dissertation erfüllt endlich ein immer wieder beklagtes Desiderat: eine Untersuchung der Rolle des Christentums in Leben und Werk Ernst Blochs. Zwar gab es bisher eine Fülle von Einzeluntersuchungen zu Teilaspekten des Themas, aber keine so gründliche biographische Gesamtschau und fundamentaltheologisch-kritische Darstellung, wie sie K. vorlegt.

Mit Recht unterscheidet K. drei Phasen der theologischen Blochforschung bzw. -rezeption, besonders im deutschsprachigen Raum. Die erste Phase ist durch Namen gekennzeichnet wie J. Moltmann, G. Sauter, W.-D. Marsch, W. Pannenberg, H. Kimmerle, A. Jäger, F. Manthey auf protestantischer und J.B. Metz auf katholischer Seite.

Nach dieser vor allem unter theologisch-systematischem Interesse von verschiedenen Ansätzen her geführten Diskussion mit Bloch setzte in der zweiten Phase eine stärker exegetisch orientierte Auseinandersetzung ein (C. H. Ratschow, H. Sonnemans, F. Gradl, B. Lang, H. Gollwitzer). Der Vorwurf, den sich die meisten dieser frühen Blochrezeptoren Ende der siebziger Jahre z. B. von R. Schaeffler und sogar noch Mitte der achtziger Jahre von L. Weimer gefallen lassen mußten, lautete, die Theologen hätten keine angemessene Antwort auf die philosophische Herausforderung Blochs gegeben. Im übrigen sei man ihm nicht gerecht geworden, da man sein Werk wie einen Steinbruch benutzt habe, aus dem man sich die besten Brocken für das je eigene Verständnis von Christentum herausgesucht habe.

Erst im Aufbruch und Neueinsatz der dritten Phase ­ mit ersten Anzeichen schon in den siebziger Jahren, vollends dann seit H. Deusers und P. Steinackers Sammelband "Ernst Blochs Vermittlungen zur Theologie" (1983) ­ sieht K. den Versuch, eine Mitte zu suchen, in der sich die christliche Theologie mit Blochs Philosphie abseits der herkömmlichen Kategorien von Theismus und Atheismus in einem adäquaten Verstehensprozeß treffen könnte, ohne daß dabei wieder ein theologisches Beerbungsinteresse im Spiel wäre. Jetzt kamen einzelne Aspekte von Blochs Christentumsverständnis, vor allem bei G. M. Martin, P. Steinacker, Th. Pröpper, K. Kreiner, M. Seckler, klarer in den Blick. "Mittels neuer Optionen, die der Blochschen Philosophie und seiner Sicht des Christentums angemessener waren, las man Bloch neu; man versäumte es aber, die Vorredner zum Thema im Rahmen der Forschungsgeschichte zur Kenntnis zu nehmen, und beschränkte sich darauf, einzelne Aspekte von Blochs Sicht zu erheben, so etwa sein Jesusbild... oder sein Verhältnis zur Mystik ..." (26).

Für ungenügend hält K. nach wie vor die theologische Aufarbeitung von Blochs Religions- und Reichsverständnis. Beiden Problemkreisen ist i. E. nur mit einer Strukturanalyse der Philosophie Blochs beizukommen, wie sie ansatzweise Seckler versucht hat, und zwar "jenseits und unterhalb der Oberfläche des bisweilen lärmenden Atheismus" (ebd.). Hier setzt die vorliegende Arbeit an, und zwar aus der Überzeugung, "daß Blochs Unternehmen, das Christentum zum Thema des Denkens zu machen, im ureigensten Interesse des christlichen Glaubens selber liegt", insofern er selber zu denken gibt, "und daß damit Blochs Sicht des Christentums bereits ohne vorgängige christliche Beerbung oder Überbietung als vgenuiner Beitrag zur Selbsterfassung des christlichen Glaubens und des Christentums zu lesen ist" (29). Das Herzstück von Blochs Christentumstheorie ist nach K. "die Entwicklung eines inhaltlichen Begriffs des Christentums" (ebd.). Sie ist zu bezeichnen mit der Formel "Religion des Exodus und des Reiches". Von daher will die Vfn. Blochs philosophische Theorie des Christentums als ein Ganzes verstehen und ihn weder theologisch vereinnahmen noch fundamentaltheologisch überbieten. Sie will schlicht und einfach deskriptiv-rekonstruktiv den einschlägigen Befund bei Bloch erheben und analysieren und mit den bereits vorliegenden Ergebnissen der früheren Forschung vergleichen. Am Ende soll klar sein, was Bloch als Christentum begriff. Was er am Christentum begriff, mag sich der Leser dann selber denken.

In drei Teilen wird das Thema behandelt: 1. Das Christentum in der Biographie Ernst Blochs; 2. Die geschichtliche Erscheinung des Christentums; 3. Der philosophische Begriff des Christentums. ­ Gleich im ersten Teil betritt die Vfn. Neuland. Denn die bisherige Forschung hat es für müßig gehalten, "nach der möglichen Präsenz des Christentums in der konkreten Lebenswelt Ernst Blochs zu fragen" (30), zumal dieser Jude gewesen sei und sich seit früher Jugend für einen dezidierten Atheisten gehalten habe. Hier kann K., z. T. durch Auswertung bisher unbekannten Archivmaterials und einer Fülle von brieflichen Zeugnissen, nun zeigen, welch starke Wirkungen das Christentum durch Personen und Ereignisse nicht nur in der Jugend, sondern auch in späteren Jahren auf Bloch hatte. Vor allem die Grenzgänger zwischen den Konfessionen und Religionen hatten es ihm angetan, so z. B. seine erste Frau, Else Bloch-von Stritzky, eine philosemitische, evangelische Christin mit einer "Spiritualität mystischen Zuschnitts" (91), oder Otto Klemperer, Max Scheler, beide katholisch und halbjüdischer Herkunft, auch Blochs Freundin Margarete Susman, eine jüdische Schriftstellerin, deren profunde Bibelkenntnis ihn ebenso stark beeindruckte wie ihre Tendenz zum religiösen Sozialismus eines Ragaz. Schließlich ist Paul Tillichs Einfluß auf Bloch nicht zu unterschätzen, besonders hinsichtlich der Überzeugung, daß Christentum und Sozialismus keine Gegensätze sind. Erhellend sind K.s Darlegungen über Blochs Beurteilung des Verhältnisses der Kirchen zum Nationalsozialismus, speziell der katholischen, die er weitaus differenzierter beschrieb als ein Großteil der professionellen katholischen Kirchenhistoriker. Auch Blochs Engagement im christlich-marxistischen Dialog der sechziger Jahre versteht die Vfn. zurecht als Ausfluß seines Kirchenverständnisses, das zwar die Institution Kirche durchaus kritisch im Blick hatte, aber gleichzeitig ihren wesensmäßig befreienden Impetus gegenüber den Verkrustungen des institutionellen Marxismus ins Spiel bringen konnte.

Im zweiten Teil untersucht die Vfn., wie Bloch das geschichtliche Phänomen Christentum zu begreifen und als Philosoph darzustellen versucht hat. Dabei geht sie völlig sachgemäß von Blochs Bibelverständnis aus. War die Frage nach dem methodischen Zugang und der hermeneutischen Erschließung der Bibel durch Bloch in der früheren Forschung schon mehrfach behandelt worden, so bislang kaum die andere, "wie Bloch die Bibel als ganze beurteilt hat, welche Qualität und Dignität sie für ihn von der Warte des Philosophen hat, der die Option des christlichen Glaubens nicht teilt" (96). Für Bloch sind die Bibel und das Biblische nicht identisch. Das Biblische reicht weit über die Bibel hinaus in Zeit, Geschichte, Volk, Welt. Das Biblische hat transzendierenden Charakter. Es ist visionär. Insofern spricht K. mit Recht von Blochs "Vision des Biblischen", ohne die sein philosophischer Begriff des Christentums einfach nicht zu verstehen ist. Auch auf diesem Feld ist das Buch ein erheblicher Fortschritt in der Forschung, die die Vfn. gerade in diesem Teil (z. B. 120 ff., 199 ff., 252 ff.) ausführlich zu Wort kommen läßt. Dabei zeigt sich, wie eklektisch die Forschung bisher z. B. in der kritischen Darstellung von Blochs Kirchen- und Ketzergeschichtsbild verfuhr.

Hatte sie den Themenkreisen Mystik und Thomas Müntzer bei Bloch breite Aufmerksamkeit geschenkt, so wurde seine für seinen Utopie- und Reichsbegriff durchaus entscheidende Beachtung der Ophiten, Marcions und des Joachim von Fiore völlig übersehen. Ein besonderes Verdienst K.s ist es, auf Blochs nach dem Vorbild Gottfried Arnolds erfolgte intensive Beschäftigung mit dem christlichen Mönchtum und seiner Wirkungsgeschichte hingewiesen zu haben. Denn gerade an diesem Punkt bleibt noch einiges zu entdecken, etwa daß Blochs Kommunismusbegriff weit mehr dem alten Mönchtum als Karl Marx verpflichtet ist, oder daß die Wurzeln von Blochs Geistbegriff weit über die frühbürgerliche Freiheitsgeschichte zurück im Mönchtum der frühen Christenheit liegen. Auch Blochs Katholizismusauffassung dürfte auf der Basis der vorliegenden Untersuchung noch einmal neu in den Blick genommen werden. Jedenfalls sind Korrekturen gegenüber der bisherigen Forschung notwendig, wie auch schon J. P. Miranda in seinem Buch über Blochs Religionskritik (Frankfurt a. M. 1987) hat erkennen lassen.

Im dritten Teil stellt die Vfn. den philosophischen Begriff des Christentums, wie Bloch ihn entwickelt hat, in einer Präzision dar, wie sie bisher in der Blochforschung kaum erreicht wurde. Nach Bloch liegt die Aufgabe der Philosophie darin, was das Christentum sozusagen auf un-begriffene Weise über das Wohin und Wozu von Mensch, Welt und Geschichte wußte, in ein bewußtes, utopisch-kontemplatives Verstehen zu überführen, "so daß um das Eschaton nun in begriffener-begrifflicher Weise gewußt wird" (385). Damit ist Blochs Philosophie des utopischen Begriffs als "docta religio" zu bezeichnen. Sein berühmtes, kontrovers interpretiertes Atheismusdiktum ("Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein. Nur ein Christ kann ein guter Atheist sein") wird nun verständlicher. Denn für Bloch ist und bleibt das Christentum historisch und sachlich "die schlechthinnige Voraussetzung für den ’guten’ Atheismus; denn erst das Christentum brachte die Idee des Reiches in Gestalt der ’religiösen Reichsintention’ in die Welt. Diese religiöse Reichsintention involviert aber eo ipso den von Bloch gemeinten ’guten’ Atheismus" (386).

Blochs großes Interesse am Christentum ­ das konnte die Vfn. überzeugend zeigen und dabei seine Intentionen gegen manche Fehlinterpretation klar herausstellen ­ gründet zum einen in seiner grundsätzlich positiven Einstellung zum Phänomen der Religion(en). Darin unterscheidet er sich ganz wesentlich von den Klassikern marxistischen Denkens. Denn in der Religion geht es um die Frage nach dem Lebenssinn, nach dem Woher, Wohin und Wozu des Menschen. Genau darum aber ging es auch dem Philosophen Bloch. Zum andern entdeckte der Philosoph in der Religion des Christentums ein Sinn-Wissen um und über den Menschen und seine Bestimmung, das von hoher philosophischer Bedeutung sei.

Neben einer gründlichen Relecture Blochs bietet das Buch K.s auch einige überzeugende Bestätigungen und Korrekturen der bisherigen Blochrezeption. Bestätigt und bekräftigt wird Peter Stauders These, daß Blochs Philosophie auf einem lebensphilosophischen Element aufruhe. Die Ausführungen der Vfn. über mögliche Prägungen Blochs aus dem Simmelkreis und seine Nähe zu Bergson (318 ff.) bedürfen allerdings noch weiterer Detailuntersuchungen. Den Vorwurf, Bloch sehe den Sozialismus als Endzweck der Geschichte und erkläre das "Reich der Freiheit" zu dessen Endziel, weist die Vfn. mit guten Gründen als nicht länger haltbar zurück ­ ebenso die Ansicht, Blochs Reichsverständnis sei gottlos. Bloch denkt vielmehr Gott ähnlich wie Tillich als Macht und Tiefe des Seins "unter der Struktur des Reiches, die Gott ist". Denn sein Atheismus ist keine säkularisierte, reduktionistische und autosoterische Erlösungstheorie, sondern vielmehr die Zurückweisung des Theismus und der Theismen, die das wahre Reich der Freiheit so oft versperrten und den utopischen Blick der Hoffnung hinderten, das Reich zu schauen. Damit liegt ein Buch vor, das in seiner Solidität und Klarheit die Blochforschung auf eine neue Höhe gebracht und der Theologie eine neue Aufgabe gestellt hat: Ernst Bloch besser zu verstehen als bisher.