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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

769–782

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Neugebauer, Fritz

Titel/Untertitel:

Wer war Adolf Schlatter?

Werner Neuer, ausgewiesener Schlatter-Kenner und bestens vertraut mit dem Stuttgarter Schlatter-Archiv, legt uns die erste große Schlatter-Biographie vor.(1) Riesig ist der Umfang dessen, was zu sichten, aufzunehmen, wiederzugeben und zu bewerten war: die über 400 Publikationen Schlatters (832 ff.), Stellung-nahmen und Rezensionen dazu (841 ff.), sonstige Sekundärliteratur (853 ff.), Ungedrucktes wie Briefe, Manuskripte und Ar-chivarisches (823 ff.), mündliche Mitteilungen und manches andere.(2) Demgegenüber sind biographische Vorarbeiten nicht gerade zahlreich (XII, 4 u. 5). Hinzu kommen einzelne Arbeiten zu Schlatters Theologie (XII, 3). Immerhin gibt es Autobiographisches von ihm selbst.(3)

Eine Biographie muß den ganzen Menschen zu erfassen suchen, den Heranwachsenden, den Sohn seiner Eltern, den Bruder seiner Geschwister, den Mann seiner Frau, den Vater seiner Kinder usw. Es ist einsichtig, daß sich unser Blick auf den Theologen konzentriert, und es kann gar nicht anders sein, daß auch die Biographie an dieser Stelle immer wieder ihren Mittelpunkt findet.

Die Lebenszeit Schlatters umgreift den Zeitraum von 1852 bis 1938, eine Zeitspanne voller Ereignisse in Kirche, Gesellschaft und Politik und nicht zuletzt gefüllt mit Bewegungen der Theologie. Neuers Biographie ist in diesem Sinne viel mehr als die Lebensbeschreibung eines Einzelnen. Sie ist auch ein Stück Theologiegeschichte, und da Schlatter in enger Verbindung zu den mannigfaltigen Lebensäußerungen der Kirche lebte und wirkte, auch ein Stück Kirchengeschichte. An den Nöten der Gesellschaft nimmt er teil, und die großen politischen Um-brüche ragen in sein Leben hinein. Neuers Biographie ist dar-über hinaus ein Schlatter-Almanach. Sie ist erschlossen nicht nur durch ein Personenregister, sondern auch durch ein Sachregister. Spezielle Texte und differenzierte theologische Erläuterungen werden im Kleindruck gebracht, und es bleibt dem nicht akademisch gebildeten Theologen überlassen, diese zu überspringen. Die Biographie trägt damit der Tatsache Rechnung, daß Schlatter wie kaum ein anderer auch für die Gemeinde schrieb und wirkte und auf große Resonanz stieß. Muß nicht seine Biographie Gemeindegliedern zugänglich sein?

Achten wir auf den Theologen Schlatter, so tritt uns eine in unserem Jahrhundert kaum erreichte Vielseitigkeit vor Augen. Schlatter war niemals nur Neutestamentler (XI), und die Spannweite seines Wahrnehmens, Denkens und Wirkens ist mehr als erstaunlich. Die schon früh erkennbare außergewöhnliche Sprachbegabung (38 ff.) bringt es u. a. mit sich, daß er im Se-mitischen ebenso zuhause ist wie im Griechischen und mühelos von dem einen ins andere übersetzen kann (35). Eine Römerbriefvorlesung wird er später ohne das griechische Neue Testament halten, da er den Text im Kopf hat (603). Seine Arbeiten und Kommentare leben aus einer Fülle sprachlicher Beobachtungen, und in der Wahrnehmung semitischer Vorgegebenheiten im griechischen Text leistet er Bahnbrechendes (407 f.; 635; 690 f.). Dies ist möglich, weil er sich schon zu Beginn seiner Lehrtätigkeit 1881 entschloß, den Pharisäismus aus dessen eigenen Zeugnissen wahrzunehmen, ein damals ungewöhnlicher Vorgang; denn der Blick der Fachkollegen beschränkte sich auf Josephus, Philo und die Apokalyptiker (180).

Schlatter ist Historiker. Er verkürzt Geschichte nicht auf Ide-engeschichte, sondern Individuen und Gruppen bewegen Ge-danken und Zustände und umgekehrt. Er hält Vorlesungen zur Geschichte von Alexander dem Großen bis Hadrian, woraus ein gleichnamiges Buch entsteht (257; 411; 623). Er porträtiert eindrucksvoll Rabbi Jochanan ben Zakkai (410 f.). Seine Josephusmonographien bleiben eine Fundgrube (513; 697). Ein nicht vorhandenes Josephus-Wörterbuch erarbeitet er sich selbst (698). Zeitweise war er mit dogmengeschichtlichen Vorlesungen befaßt (171).(4) Das hier gewonnene Wissen und sein enger Umgang mit der Schrift machen ihn scharfsichtig für Verengungen in der reformierten und lutherischen Orthodoxie, und zur Eröffnung der von ihm mit H. Cremer gegründeten "Beiträge zur Förderung christlicher Theologie" erscheint 1897 von ihm die wichtige Abhandlung "Der Dienst des Christen in der älteren Dogmatik" (341 ff.).(5)

Wir stoßen an dieser Stelle auf die konfessionelle Spannweite Schlatters, der in den geschichtlich gewordenen Kirchen die Kirchtümer der einen Christenheit wahrnimmt. Von dem katholischen Philosophen Franz von Baader ist er fasziniert, zumal von dessen Ernstnahme der sozialen Frage, und er widmet ihm 1884/85 ein eigenes Kolleg (173). In einem 1881 gehaltenen Vortrag über den katholischen Reformtheologen und Kardinal Contarini, der 1541 auf dem Reichstag zu Regensburg mit Me-lanchthon und Bucer verhandelte, stellt er mit Erstaunen fest, wie Contarini gegen die Wittenberger die uns von Jesus gegebene Berufung zur Liebe verteidigte (178). Provozierend konnte er, die erneuernde Kraft der Rechtfertigung hervorkehrend, in der Vorlesung ausrufen: "Meine Herren, wir müssen katholisch werden!" (328). Er hat keine Probleme, "Marien-Reden" zu veröffentlichen (630; 838), und gibt in dem Büchlein eine bemerkenswerte Darstellung der Mutter Jesu. Es ist seine Überzeugung, daß sich die Wege der Christenheit, die sich auch an der Schrift trennten, an der Schrift wieder zusammenfinden müssen.

Intensiv beschäftigt er sich mit äußerst speziellen Fragen, und daraus erwachsen bemerkenswerte Studien, die an einer Stelle in die Tiefe graben und Wesentliches zutage fördern. Zumeist sind es historische Untersuchungen, so zu den Tagen Trajans und Hadrians und zur Kirche Jerusalems vom Jahre 70 bis 130 (409), zur korinthischen Theologie (511), über den Märtyrer in den An-fängen der Kirche (837)(6) oder zum Wort von den beiden Schwertern in Lk 22,35-38 (837), aber auch eine dogmatische und dogmengeschichtliche Untersuchung ist zu nennen: "Jesu Gottheit und das Kreuz" (416 f.), wo Origenes, Anselm und Luther in ein Gespräch mit den Kreuzesaussagen des Neuen Testaments zusammengeführt werden. Hier könnte noch manches hinzugefügtwerden. Wichtiger aber ist die Tatsache, daß Schlatter in erstaunlichem Umfang große Gesamtdarstellungen verfaßt hat, und hier ist an erster Stelle dasjenige Buch zu nennen, welches die akademische Theologie 1885 auf ihn aufmerksam machte: "Der Glaube im Neuen Testament" (184 ff.). Nach dem Tod seiner Frau im Jahre 1907 (440 ff.) stand er unter dem Eindruck, seine Lebensarbeit abschließen zu sollen, und es entsteht eine Theologie des Neuen Testaments in zwei Teilen (464ff.), "Das Wort Jesu" als erster Teil, in der 2. Auflage umbenannt in "Die Geschichte des Christus", und als zweiter Band "Die Lehre der Apostel" (475 ff.), in der zweiten Auflage "Die Theologie der Apostel" (836). Er verfaßt eine Dogmatik (480 ff.), auf Drängen Karl Holls eine Ethik (498 ff.)(7) und später eine Geschichte der ersten Christenheit (631).

Aus philosophiegeschichtlichen Vorlesungen erwächst 1906 ein Buch mit dem Titel: "Die philosophische Arbeit seit Cartesius nach ihrem ethischen und religiösen Ertrag" (397 ff.), ein ebenso einfühlsamer wie kritischer Nachvollzug der neuzeitlichen Geistesgeschichte. Ein aufmerksamer Zuhörer wie Karl Holl bedauerte die radikalen Kürzungen in der Buchfassung und wünschte sich die zweite Auflage doppelt so dick (405). Allein in vier Abschnitten beschäftigt sich Schlatter mit Kant, und so sehr er ihm gerecht zu werden versucht, so ernst und borstig ist seine Kritik.(8) Immerhin, der Geschäftsführer der Kant-Gesellschaft, der Philosoph Liebert, hält Schlatter auf Grund dieser Arbeit für prädestiniert, Mitglied dieser Gesellschaft zu werden (406). - Mitten in den schweren Erfahrungen, die der l. Weltkrieg mit sich bringt, und getroffen von einer großen Niedergeschlagenheit, entwickelt Schlatter, einer an ihn gerichteten Bitte folgend, eine "Metaphysik" (532) und legt das Manuskript nach einem Jahr beiseite, nachdem er, wie er Lütgert mitteilt, alle Welträtsel bei sich zu Gast geladen hatte (534) und ihre Beherbergung in seinem Kopf übel gelang.(9) Erst 1987 wurde das Manuskript von W. Neuer veröffentlicht. Es zeigt, wie Schlatter das Anliegen der antiken Metaphysik, aber auch die Kantschen Kategorien eigenständig aufnimmt, nämlich die Suche nach einem Wissen, das auf die Erkenntnis des Natürlichen folgt und "alles von uns Ge-schaute und als wirklich Bejahte einheitlich auffaßt, das, was uns als Ding gegenübersteht, zusammen mit dem, was unser Ich anfüllt"(10). Ziel ist die Überwindung des ontologischen Reduktionismus. Im übrigen ist die metaphysische Fragestellung, nachdem sie von der Theologie verabschiedet wurde, in der Physik neu entdeckt worden.(11)



Verdeutlichen wir uns die Reichweite des Wirkens, so begegnet uns bei Schlatter eine mannigfach gelebte Verbindung von Lehrstuhl einerseits und Kirche, Gemeinde und Diakonie andererseits. Er schreibt Erläuterungen zum Neuen Testament, eine schließlich das gesamte Korpus umfassende allgemeinverständliche Auslegung, die in Männerbibelstunden seiner Berner Zeit, 70 bis 80 Teilnehmer zählend, ihren Ursprung haben (216) und 1910 zum Abschluß kommen (509 f.). Zwei Andachtsbücher entstammen seiner Feder, das erste 1927 auf Bitten eines jungen Verlegers geschrieben (629 f.), das zweite im Jahre 1937 aus eigenem Antrieb. Es will angesichts eines verführerischen Hitlerkultes zum unvergleichlichen Licht Jesu Christi führen (779 f.). Wer das Buch zur Hand nimmt, spürt die Konfrontation auf jeder Seite, doch so, daß der sich aufblähende Götzendienst vor der Erkenntnis Jesu zusammensackt.

Da er in bibeltreuen Gruppierungen großes Vertrauen ge-nießt, ist er hier ein oft geladener Referent und gegebenenfalls zur Parteinahme bereit.(12) Er hält eine Evangelisationswoche vor Handwerkern (460), geht zu Lehrlingen, Schülern, Gehilfen, Kaufleuten (544), übernimmt den Vorsitz des CVJM in Tübingen (541), arbeitet mit Eva von Thiele-Winkler auf einer Studentinnenfreizeit zusammen (669) und so fort.

Doch den pietistischen Verengungen widerspricht er deutlich und mitunter vehement, hält dem Bekehrungsschematismus entgegen, es könne doch nicht sein, "daß sich die Botschaft Jesu an die Jugend erst dann wende, wenn sie gescheitert sei" und "daß Mannheit und Tatkraft als ein Hindernis für den Glauben mißachtet werden" (333). An Lütgert schreibt er: "Die Hoffahrt der extra Bekehrten ruiniert alle Wahrhaftigkeit und Freiheit" (515). Gegenüber einer Erlebnisfrömmigkeit, welche sich mit der Bezeugung geistlicher Erfahrungen begnügt, verteidigt er die Wahrheitsverantwortung und wendet sich leidenschaftlich gegen die Furcht vor dem Denken (413 f.). Dem mitunter frommen Hang zur Unnatürlichkeit setzt er die freudige Be-jahung des Natürlichen entgegen und will, daß in der christlichen Studentenschaft "der reiche Inhalt, mit dem die Natur das jugendliche Leben ausrüstet, froh und mutig gepflegt" wird (516). "Es durfte nie der Schein entstehen, der Kreis bestehe aus einer Gemeinschaft von Seelen, denn Jesus ist zum Menschen gekommen..." (516).

Durch die Mitarbeit im Vorstand der Ostafrikamission (348) kommt er mit Friedrich von Bodelschwingh zusammen (348ff.) und gewinnt einen überwältigenden Eindruck vom elementaren Dienst des Christen angesichts von Not und Elend. Im Rückblick konnte er schreiben: "Ist nicht die Mehrung unseres wissenschaftlichen Besitzes eine Kinderei neben den riesigen Aufgaben, die uns das Versinken unseres Volkes in Siechtum und Gottlosigkeit vorhält?" (352). Die lebenslange Freundschaft der beiden Männer, aus der auch die Betheler Theologischen Wochen hervorgingen (355; 434 ff.), vertiefte sich in einem heftigen Streit. Als Bodelschwingh für ein staatlich garantiertes Recht auf Arbeit votierte, erwiderte Schlatter: "wenn wir das Recht auf Arbeit in der Gesetzgebung haben, dann schützt uns nichts mehr vor dem sozialistischen Staat" (353). Schlatter wußte, wovon er sprach; denn so sehr er die soziale Verantwortung beherzigt und sich später sogar im Christlich-sozialen Volksdienst engagierte (675 ff.; 679 ff.),(13) so eindeutig mußte er jeder ideologischen Entmündigung entgegentreten, die am Ende auch die christliche Freiheit zum Dienst untergrub. Bodelschwingh, der den Einwurf schließlich akzeptierte, war für Schlatter die Verkörperung einer gelebten Theologie des Dienstes (354). Nichtsdestoweniger blieb die Aufgabe unverzichtbar, daß die christliche Liebe nicht nur den Kranken und Schwachen gelte, sondern ebenso der "Er-weckung und Stärkung des gesunden Lebens" (354).(14)

An Schlatters Verbundenheit mit Bodelschwingh dem Älteren und dann auch mit dem Sohn (355 f.; 439 f.) wird sichtbar, wie wichtig die Gemeinschaft des Gebens und Nehmens für ihn war, und dies gilt nicht zuletzt für die Gemeinschaft des Forschens und Lehrens. Überspringen wir die Berner Jahre, so empfängt er mit der Berufung nach Greifswald eine fruchtbare und bereichernde Gemeinschaft mit Hermann Cremer. Er erlebt in dessen Person - Cremer ist zugleich Hauptpastor an der Marienkirche - das Luthertum in überzeugender Gestalt (226; 236 f.), bekennt, er sei "in Bern nie so gern zur Kirche gegangen wie hier ..." (226). Ihrer beider unterschiedliche konfessionelle Herkunft, reformiert einerseits, lutherisch andererseits, ist überdeckt vom gemeinsamen Hören auf die Schrift,(15) und das, was sie unterscheidet,(16) bereichert ihr Miteinander. Als Cremer 1903 stirbt, hält Schlatter auf Bitten der Witwe die Ansprache am Sarge. An seine Tochter Christine schreibt er: "Ich meinte zuerst noch im letzten Moment, es gehe nicht, weil ich einen Anfall zum Weinen kaum unterdrücken konnte" (441). Dann aber sprach er mit fester Stimme.

Die Verbundenheit mit Cremer in Greifswald ist so stark, daß Schlatter dreimal den Ruf an eine andere Universität ablehnte, so nach Heidelberg (289 f.), nach Bonn (290) und nach Marburg (291). Den Ruf nach Berlin nahm er schließlich an als eine schmerzliche Pflicht (295). Dem war der sog. Apostolikumsstreit vorausgegangen, veranlaßt von Berliner Theologiestudenten, die angesichts der Entlassung eines das apostolische Glaubensbekenntnis verweigernden Württembergischen Pfarrers eine Stellungnahme Adolf von Harnacks erbeten hatten (292). Dessen kritische Erwägungen zum Apostolikum, die auch publiziert wurden, erzeugten eine Welle des Protestes, und Har-nack mußte sich vor dem Kultusminister verantworten (293). Um ein Disziplinarverfahren zu vermeiden, kam vom Minister der Vorschlag, durch eine zweite systematische Professur, die den kirchlichen Standpunkt vertrat, gegenüber der Dominanz der sog. liberalen Theologie Ausgewogenheit herzustellen. Wer aber sollte berufen werden? Ins Auge gefaßt wurden Martin Kähler, Reinhold Seeberg und Hermann Cremer (293). Als deren Zusage nicht zustandekam, richtete sich an Schlatter eine fast ultimative Bitte,(17) und er verweigerte sich nicht (294 f.), er, der im Streitpunkt als solchem eher moderat dachte(18) und sich aus Zeitgründen in die Auseinandersetzungen nicht eingemischt hatte (293). Nachdem die Entscheidung gefallen war, gab es für ihn angesichts der nun bevorstehenden Trennung von Cremer trostbedürftige dunkle Wochen (296).

Die Berliner Fakultät, die den ministeriellen Eingriff entschieden mißbilligte (304), übertrug ihr Mißfallen nicht auf den Berufenen. Am überraschendsten war, daß sich zwischen dem berufenen Antipoden und Harnack ein freundschaftlich-persönliches Verhältnis entwickelte (305 ff.). An seine Mutter konnte Schlatter schreiben: "Ich habe wirklich die Hoffnung, wir können einander geben und dienen, was nun einmal im Maß unserer Kraft und Stellung zwischen uns beiden möglich ist" (306),(19) und als er 1898 den Ruf nach Tübingen annahm, schrieb Harnack an den Scheidenden: "Ich vermisse Sie im Sprechzimmer und empfinde es als eine Lücke, keinen Fachgenossen mehr zu haben, der mich durch Widerspruch nachdenklich macht" (308).

Dabei war der Gegensatz in der Sache vielfältig und stark.(20) Als Har-nack im Kreise von Fakultätsangehörigen meinte: "Vom Kollegen Schlatter unterscheidet mich nur die Wunderfrage!" kam vom Angesprochenen der vehemente Zwischenruf: "Nein, die Gottesfrage!" (307). Der Gegensatz flammte auf im Streit um die Landeskirchlichen Versammlungen (308 ff.).

Schlatter, dem die Verharmlosung von Gegensätzen zuwider war, scheute sich nicht, Partei zu ergreifen und in einem leidenschaftlichen Appell zu erklären, daß Glaube und Unglaube gegeneinander stehen (319), weshalb er bekennen müsse:"Ich werde, so lang Gottes Gnade bei mir ist, mit der Kirche vor dem schlafenden Kindlein in der Krippe und vor dem von Gott verlassenen Gekreuzigten knien mit dem Bekenntnis: Mein Herr und mein Gott" (319). Sein Vorwurf, "daß die heutige Durchschnittstheologie die göttlichen Heilsthaten verkenne, teilweise direkt verleugne" (319), stieß bei Harnack auf heftigen Protest.(21) Aber es kam nicht zum Bruch. Im Ge-spräch mit Harnack erweist sich Schlatter als lernbereit. An Cremer schreibt er: "Ich glaube, wir lernen beide. Er wird lernen, daß heilige Interessen auf unserer Seite verteidigt werden, die man nicht mit sekundären Zielen auf dieselbe Stufe stellen darf. Und ich will lernen, daß die Verhältnisse, in denen ich mich bewege, komplizierter sind, als ich zunächst anzunehmen geneigt bin" (320). So bleibt auch nach dem Weggang von Berlin die Verbindung bestehen, und in der Festschrift zu Schlatters 70. Geburtstag findet sich auch ein Beitrag von Harnack (590).

Zweifellos ist die besondere Beziehung zwischen Schlatter und Harnack ein Sonderfall. Dort nämlich, wo Schlatter bei Kollegen mehr die Abkehr von der Schrift als die Hinwendung zu ihr wahrzunehmen überzeugt war, hat er deren Arbeit weitgehend ignoriert. Daß es im Verhältnis zu Harnack trotz des Gegensatzes zu einer besonderen Gemeinschaft kam, hängt wohl auch mit dem geistigen Rang auf beiden Seiten zusammen. Im übrigen wird auf eine gewisse Selbstisolierung Schlatters noch einzugehen sein.



Nichtsdestoweniger vollzieht sich Schlatters theologische Arbeit in einer Vielfalt des Gebens und Nehmens und alles andere als einlinig. Viele Namen wären zu nennen wie z. B. der schon erwähnte K. Holl, sein Vetter Th. Zahn u. a. Doch mögen jetzt die Wirkungen des Theologen auf Theologen ins Blickfeld treten. In Anbetracht seines Lehramtes, der vielen Vorträge und des literarischen Schaffens waren die Wege, auf denen er wirksam wurde, vielfältig, und vielleicht sind jedenfalls längerfristig seine Leser an erster Stelle zu nennen. Hängt es damit zusammen, daß die bemerkenswertesten Wirkungen dort zu finden sind, wo ein bewußtes Schülerverhältnis nicht gegeben war? In Dietrich Bonhoeffers späterer Bibliothek war neben Luther niemand so vertreten und studiert wie Schlatter (599). Paul Schneider erfährt bei der Lektüre von Schlatters Dogmatik eine tiefgreifende Wandlung und ist später der erste evangelische Geistliche, der unter dem Naziterror den Märtyrertod er-leidet (497). R. Bultmann hat Schlatters Sonderstellung in seiner "Theologie des Neuen Testaments" gewürdigt,(22) und wie er bereit war, von ihm zu lernen, zeigt etwa sein ÛÙÈ-Artikel im ThWNT.(23) Die Reihe der Namen ließe sich fortsetzen,(24) auch die von jenen, die einen besonderen Eindruck oder Anstoß erhielten. Der Jurastudent Ernst Fuchs wird in Schlatters Kolleg zur Theologie hingezogen (607 f.). Martin Heidegger besucht eine Vorlesung und erklärt: "Das ist Theologie" (607).(25)

Etwas anders stellt sich Schlatters Wirkung dar, wenn wir diejenigen vor Augen haben, die sich ein gutes Stück weit als seine Schüler verstanden wie W. Lütgert, G. Kittel, O. Michel, K.-H. Rengstorf, P. Althaus, W. Grundmann, Wilhelm Michaelis(26) u. a. Vermochten sie es, den Lehrer zur Geltung zu bringen?(27) Andererseits wies Schlatter jede Schulbildung von sich, und zwischen ihm und einem Schulhaupt klafft ein tiefer Graben.

Selbstverständlich konnte Schlatter auch abstoßend wirken, so auf den jungen Karl Barth, Kolleghörer schon vor dem 1. Weltkrieg (609; 638),(28) und wie kritisch mußte dieser reagieren, als Schlatter im Oktober 1914 einen Aufruf von 93 Intellektuellen mitunterzeichnete, der die deutsche Kriegserklärung eindeutig guthieß?(29) Indes, die Erfahrung des Krieges führt ihn in die Buße, und er schreibt später: "Ich mache mir mit lebhafter Reue deutlich, daß auch ich die schweren Ereignisse von 1914-1918 nötig hatte, damit mein Anteil an unserem Staat den heißen Ernst der Buße erhielt."(30) Was er schmerzlich lernen muß, schlägt sich ebenso in der Neubearbeitung seiner Ethik nieder, und zum Krieg finden sich andere und neue Sätze.

Als 1919 Karl Barths "Römerbrief" erschien, war es Karl Holl, der Schlatter brieflich mehrmals auf die Bedeutung, aber auch Fragwürdigkeit dieser Auslegung hinwies und ihn sogar 1922 bat: "Wollen Sie das Buch nicht totmachen, indem Sie selbst einen Kommentar zu Röm... schreiben?" (639). Das freilich lag dem Angesprochenen völlig fern, verfolgte er doch den theologischen Aufbruch der jungen Generation mit ausgesprochener Sympathie und bedauerte es sehr, daß Barth die zweimalige, auch von ihm selbst betriebene Einladung zur Betheler Theologischen Woche nach anfänglicher Zusage absagen mußte (642 ff.). An Barth hatte er im Blick auf die erhoffte Zusammenarbeit geschrieben, "daß unsere Einheit nicht durch Gleichmachung entstehe, sondern... durch Gleichmachung nur gestört würde" (642).

Aus der damit gegebenen Freiheit hat Schlatter kritisiert, was ihm an Barths Exegese und Theologie kurzschlüssig erschien. Der dortigen Diastase von Wort Gottes und Geschichte hält er entgegen: "Gibt es im Neuen Testament wirklich keine ,Werke Gottes'... Und was sind Werke anderes als Geschehendes, Geschichte" (647; 652)? Barths Widerspruch gegen die Vergötzung des Historischen in der Theologie stand in der Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten, und die geistige Anstrengung war unzulässig vereinfacht, wenn das wesentliche Offenbarungszeugnis vom unwesentlichen Geschichtszeugnis gelöst wurde (ebd.). Schlatters Alternative bestand in der mühsamen und besseren Wahrnehmung der Geschichte, mußte doch die in atheistische Dogmatik eingeklemmte Methode die Rückfrage nach Natur und Geschichte verstümmeln. Um der Wahrheit willen war die Got-tesfrage offenzuhalten.(31) Deswegen konnte Barths Umgang mit Röm 1,l9 f. nur als geschraubt erscheinen (765f.), und dessen Verneinung der theologia naturalis war ohnehin ein alter Hut, hatten doch bereits Schleiermacher und Ritschl die natürliche Theologie aufs heftigste verworfen.

Als Schlatter 1922 eine Besprechung von Barths "Römerbrief" verfaßte, bemängelte er gleich zu Anfang die fehlende Ernstnahme der realen Geschichte. Barth, der das Präskript des Römerbriefs unter der Überschrift "Der Verfasser an die Leser" subsumierte, machte aus Paulus einen Literaten, während der Römerbrief des Heidenapostels in der dortigen Gemeinde vorgelesen und gehört wurde, und der Barthschen Formel vom Glauben als dem Sprung ins Leere widersprach Schlatter mit dem Satz: "Paulus sprang nicht ins Leere; sondern er schloß sich Jesus an."(32)

Die nicht einfache und nichtsdestoweniger von gegenseitigem Respekt getragene Beziehung Schlatter - Barth (645; 650 f.; 652 f.) setzte sich fort in den Jahren des Kirchenkampfes. In deutlicher und scharfer Kritik am Nationalsozialismus war der altgewordene Professor weithin an der Seite des Jüngeren. Einen Aufruf, in welchem über 300 deutsche Hochschullehrer die Machtübernahme Hitlers begrüßten, hat Schlatter nicht un-terzeichnet (729) und stellte sich damit in Gegensatz zu den ihm nahestehenden H. Rückert und G. Kittel, hielt statt dessen 1933 vor der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung einen Vortrag, der zu einer scharfen Abrechnung mit der NS-Ideologie geriet, und zwar unter dem Thema: "Der Dekalog als Träger unseres Volkstums" (731 ff.). Vermutlich hat es auch etwas mit der langjährigen, prägenden Wirksamkeit Schlatters zu tun, als im Herbst 1933 auf einer von dem Württembergischen Landesbischof Wurm einberufenen Pfarrerversammlung die Deutschen Christen eine schwere Niederlage einstecken mußten. Damals traten 200 dortige Pfarrer aus der neuen Bewegung aus, und der Anteil der DC-Pfarrer sank unter 5% (743 f.).

Viel ungünstiger lagen die Dinge in den Kirchen der Altpreußischen Union. Während die Württembergische Landeskirche intakt blieb, mußte sich dort eine Gegenkirche formieren, und die Konfrontation bestimmte den Lauf der Dinge. Daß sich Schlatter im Verhältnis zu den Deutschen Christen nicht auf Konfrontation beschränken wollte, hat wohl auch etwas mit seinem Württembergischen Blickwinkel zu tun,(33) mehr aber damit, daß die suchende Hinwendung zu den Irregeleiteten dem Auftrag Jesu nicht zu nehmen war (766 f.). Daß schließlich seine Wahrnehmung von Schöpfung und Geschichte mit Barmen 1 sich reiben mußte (765 f.), ist nach allem Gesagten selbstverständlich.

So erstaunlich es ist, wie der über Achtzigjährige die Ereignisse der Gegenwart aufnimmt und Stellung bezieht, so sehr ist es geboten, an seinen Fehlleistungen nicht vorbeizugehen. Als der Arierparagraph auf die Pfarrerschaft angewandt werden sollte, tat sich Schlatter 1933 schwer, ein entschlossenes Nein zu finden (749 ff.), und erst 1936 gelangt er zu eindeutigen Aussagen (756), bekennt freilich, daß er mit seiner Mahnung, "zunächst sich ruhig zu halten... schwerlich nur mit der Weisheit, sondern auch mit der Ermüdung des Alters sprach" (753).(34) Ende 1935, als sich der Herrschaftsanspruch der Rassenideologie weiter verschärft, verfaßt er eine im Titel höchst mißverständliche, im Inhalt hellsichtige und im angezogenen Vergleich völlig abwegige Schrift mit dem Titel: "Wird der Ju-de über uns siegen? Ein Wort für die Weihnachtszeit" (757 ff.). Wird die arische Rassenideologie einer schonungslosen Kritik unterzogen, so ist die Parallelisierung der jüdischen und nationalsozialistischen Ablehnung Jesu an den Haaren herbeigezogen, und die Annahme, die Christenheit sei mehr gefährdet als die Judenschaft (759), ist ein mißglückter Sehakt. Wegen des mißverständlichen Titels konnte die Schrift zuerst verbreitet werden, wurde aber bald angegriffen und beschlagnahmt. Kein Wunder, denn die Schrift warnt in ihrem Schlußsatz vor dem deutscharischen Sieg: "Würde, wenn dieser neue Tag wirklich käme, die Sonne nicht über einem Schlachtfeld aufgehen, das voll von Leichen und Ruinen wäre?" (759).

Es war nicht Schlatters Art, seinen Anteil an Schwachheit, Schuld und Versagen klein zu machen, wie schon das dem 1. Weltkrieg folgende Eingeständnis zeigt. Seinem Schüler Hans Stroh hat er in den letzten Lebensjahren bekannt, seine größte Sünde sei sein Verhalten gegenüber den Kollegen gewesen (284; 712). Es könnte sein, daß dabei vornehmlich die unerquickliche Auseinandersetzung mit Karl Heim im Blick ist (712, 129; 708 ff.), vielleicht aber auch seine im Hörsaal beißende Kritik an der Arbeit seiner Fachgenossen (609;716ff.), die bis zu ausdrücklicher Mißachtung reicht.(35) Andererseits hat er literarisch weitgehend auf Auseinandersetzung und Polemik verzichtet, und es ist offenkundig, daß sich aus alledem eine gewisse akademische Selbstisolierung ergeben mußte. Die darin enthaltene Selbstgewißheit war - wie sollte es anders sein - dem Selbstzweifel nicht entrückt, und 1915 in seiner großen Niedergeschlagenheit konnte er an Lütgert schreiben: "Ich schließe schon jetzt schamvoll das Auge vor der schrecklichen Reihe von Büchern, die ich verbrochen habe. Eins wäre mehr gewesen als diese furchtbare Menge, wo doch jedes wieder unfertig im Anfang stecken blieb" (536).

Schlatters literarisches Schaffen hörte nicht auf, sondern gewann in den letzten Lebensjahren einen neuen Höhepunkt, als die großen Kommentare entstehen: 1929 zu Matthäus, 1930 Johannes, 1931 Lukasevangelium, 1932 zum Jakobusbrief, 1934 zu den Korintherbriefen, zum Römerbrief 1935, im gleichen Jahr zum Markusevangelium, 1936 die Pastoralbriefe und 1937 der 1. Petrusbrief. Die Kommentare folgen keinem einheitlichen Muster, jeder ist besonders angelegt. Der Matthäuskommentar berücksichtigt ausführlich das jüdische Umfeld, wobei Zitate aus den diesbezüglichen Quellen zusätzlich ins Griechische übersetzt werden. Das Lukasevangelium wird darüber hinaus aus seinen Quellen erklärt. Zwischen welchen Zielsetzungen und Hemmungen sich dabei der Verfasser bewegt, kann man ersehen, wenn man in der Einleitung zum Matthäuskommentar die S. XI mit der Seite 5 der Lukasauslegung vergleicht.

Charakteristisch ist, daß die Auslegung ein weites Stück un-abhängig bleibt von angenommener Entstehungssituation und -geschichte. Daß Matthäus das älteste Evangelium sei, daß Lukas ein komplettes Evangelium vorfand, welches weitgehend im Sondergut enthalten ist, daß die Korintherbriefe einer Überspitzung des Urevangeliums gegenüberstehen und der Jakobusbrief sich an Juden und Judenchristen wendet,(36) läßt das Eigengewicht der Texte nicht zurücktreten, so auch die an-deren Kommentare. W. Neuer hat sie alle beschrieben und vorgestellt (632 ff.; 688 ff.; 781 ff.). Am l9. Mai 1938 legt Schlatter die Feder für immer aus der Hand.

Wir haben Neuers eindrucksvolle und kenntnisreiche Schlatter-Biographie nicht als Steinbruch benutzt, sondern als Schatzkammer, aus der sich noch vieles herausholen ließe. Wer hineingeht, wird überdies entdecken, daß Neuers Biographie einen umfassenden Zugang zu dem weit gespannten Werk Schlatters eröffnet und dazu einlädt, von Schlatter unmittelbar zu lernen. Wer derart lernen will, hat freilich mit Barrieren zu tun. Schlatters Sonderstellung ist auch eine Frontstellung, die Gegenpositionen unter einem gemeinsamen Nenner subsumiert, weswegen Auseinandersetzung nur implizit oder mehr prinzipiell er-folgt. Im Nachgang zu Neuers Biographie wird es darauf an-kommen, Schlatter so zu extrapolieren, daß die Konfrontation erkennbarer und schlüssiger wird. Es genügt in diesem Zusammenhang, Schlatters Gegenüber gewissermaßen idealtypisch(37) zu entfalten, aufzuschlüsseln und zu entschlüsseln. Dies dürfte der Transparenz auf beiden Seiten zugutekommen.

Da die Sprache das Denken verrät, beginnen wir mit einem häufig gebrauchten Begriff: Quellenmaterial. Das bedeutet: Quellen sind Material des Denkens, und dies auf vielfältige Weise. Man kann sich z.B. Kriterien für die Zuverlässigkeit von Texten ausdenken, sogenannte Echtheitskriterien. Hier entsteht rasch ein einseitiges Übergewicht des Denkenden. Müssen nicht in einer Gegenbewegung unsere Schlüsse vor das Gericht der Quellen gezogen werden? Ist etwa für den Naturforscher die Natur lediglich Material des Denkens? Muß sich nicht die beste Theorie vor der Majestät Natur verantworten? In der Messung wird die Natur selbst gefragt: Stimmt der Gedanke oder stimmt er nicht? Nun sind Natur und Geschichte wohl zu unterscheiden. Nichtsdestoweniger sind die Quellen die einzigen schriftgewordenen "Erfahrungswerte", die wir haben.(38) Darf die Kritik einzig und allein aus dem Zusammenprall unserer Gedanken mit den Quellen entstehen? Oder erwächst urteilendes Unterscheiden nicht erst daraus, daß Quellen nicht nur Unterschiedliches, sondern auch Unvereinbares aussagen können?(39)

Für Schlatter waren Quellen, auch die nichtchristlichen, niemals Quellenmaterial. Er lebte in den Quellen. Sein Sehakt war immer auch ein Lebensakt, und dies gilt nicht nur für die Bibel. Nur der wird die griechische Tragödie verstehen, der sich in sie hineinlebt. Zum Leben gehören aber immer auch Spannungen, Spannweiten und sogar Widersprüche. Deswegen ist es gefährlich, einem in sich gegebenen Dokument mit trennenden Operationen so zu Leibe zu rücken, daß Spannweite in Engstirnigkeiten zerlegt wird. Noch problematischer ist es, wenn die so erzeugten Gebilde unbesorgt "Quellen" heißen. Der Zirkel ist perfekt, wenn sich die Ergebnisse einer eigenhändig konstruierten "Quellenbasis" verdanken. Anders ausgedrückt: Quellenscheidung muß, soll sie einen Erkenntniswert haben, stets durch anderweitige Quellen gedeckt sein, bedarf personunabhängiger Argumente, und über Schlatter hinaus müßten an dieser Stelle beweistheoretische Fragen eingehend diskutiert werden.

Quellen werden zum Quellenmaterial auch dann, wenn sie vorgefertigten Methoden unterworfen werden, d.h. anderweitig besorgten und immer schon beschränkten Fragestellungen, die nur das erfassen können, was sie erfragen, und nur unter dieser Einschränkung sind sie brauchbar und fruchtbar. Es ist nichtsdestoweniger unvermeidlich, daß Patentrezepte dieser Art den Quellen ihr Niveau aufdrücken. Deshalb müssen die Kernfragen des Verstehens von der Quelle aus gesucht und gefunden werden. Selbst der Mathematiker weiß, daß die Schlüsselprobleme nicht mit einer vorgefertigten Methode bewältigt werden, sondern der Schlüssel muß sich nach dem Schloß richten und nicht umgekehrt. Das gilt ebenso für unsere Texte, und E. Lohmeyer, der gleichfalls bei Schlatter hörte, traf diesen Sachverhalt, als er gegenüber H. Lietzmann einwandte: "Methoden wendet man nicht an, Methoden gewinnt man am jeweiligen Gegenstände, und so unerschöpflich der Gegenstand, so unerschöpflich und darum unendlich verschieden die Methode, ihn zu bewältigen"(40).

Ist es ein Zufall, daß die großen Kommentare Schlatters jeweils einen eigenen Weg beschreiten und eben deshalb so fruchtbar sind? Gegenüber jeglichem Methodenfetischismus hat sich Schlatter auch sehr grundsätzlich geäußert.(41) Eng verwoben mit der Quellenfrage ist die der Kausalität in der Geschichte. Ist das Phänomen der Kausalität(42) in der unbelebten Natur vielschichtig und vom Chaotischen nicht getrennt, so gilt für die Geschichte erst recht der Satz eines großen Naturforschers, nämlich I. Newtons: "Was wir wissen, ist ein Schluck; was wir nicht wissen, ist der Ozean". Selbst in der "Himmelsmechanik" sind exakte Berechnungen nur möglich, wenn sich Mehrkörperbeziehungen auf Zweierbeziehungen reduzieren lassen, wie dies auf Grund riesiger Entfernungen und extremer Massenunterschiede im Sonnensystem der Fall ist.(43)

Sind in der Geschichte Zweierbeziehungen vorhersehbar? Und wie steht es mit dem Selbstverhältnis? Kurzum: In der Geschichtswissenschaft gilt noch viel mehr als in der Naturwis-senschaft: Beschreiben kommt vor dem Erklären.(44) Trotzdem kann von der Geschichte eine entsprechende kausale Betrach-tungsweise nicht ferngehalten werden,(45) da es in ihr und auf ihrer Ebene Kräfte und Wirkungen gibt. Freilich ist Vorsicht geboten.(46) Sehe ich recht, so ist die Frage der Kausalität sehr oft unter einem seltsamen Gemisch aus Ableitungszwang und Unableitbarkeitskriterien verschüttet.(47) Hinzu kommt: Die Unableitbarkeitskriterien sollen als Echtheitskriterien auch das Wesentliche zum Vorschein bringen. Warum eigentlich?(48)

Noch schwerer wiegt die Tatsache, daß das Unableitbarkeitskriterium die erste Gemeinde von der Wirksamkeit und Wirkung Jesu entfernt. Sollen z. B. nur 10% der Wortüberlieferung in den Evangelien von Jesus gesprochen sein, ist dann nicht die sich an ihn anschließende Gemeinde nur noch zu 10% von ihm verursacht? Entsteht nicht ein seltsames Zerrbild der nachösterlichen Jüngerschaft, wenn sie mit allem, was sie lebte und glaubte, von allem anderem bewegt war und am wenigsten von dem, den sie als ihren Ursprung und Urheber bezeugt?(49) Daß sie selbst es sogar war, die Jesus erzeugte, dieser Gedanke aus dem vorigen Jahrhundert, besitzt bis in unsere Tage eine eigentümliche Macht und ist doch nicht mehr als müßige Gedankenspielerei.

Für Schlatter ist Jesus die prima causa der ersten Christenheit. Welche Wortmacht besaß der, der mit einem einzigen Ruf einen Zöllner von seinem Arbeitsplatz wegnimmt! In der Tat: Die sich an Jesus anschlossen, sind zuerst die Bewegten, die Nachfolger und Nachfolgenden. Wer die Lebensumstände der ersten Gemeinde zu primae causae emporhebt, macht aus Jesus eine causa secunda, pervertiert Gegebenheiten in Zwangsläufigkeiten und beachtet viel zu wenig die dem Wort, Weg und Willen Jesu folgende Eigenwilligkeit der jungen Christenheit.

Urheberschaft in der Geschichte führt in der Regel nie zu linearer Wirkung. Welche Streuung möglich ist, hat Jesus selbst im Gleichnis vom Säemann (Mk 14,1-9) vor Augen geführt, und sogar der gute Acker ist kein Einerlei (vgl. Mt 25,14-30 par.). Für Schlatter reicht solche Streuwirkung in den Jüngerkreis Jesu zurück, und man braucht dabei gar nicht zuerst an Judas zu denken, sondern eher daran, daß der Bewirkte Eigenes mitbringt, und zwar als Möglichkeit und als Grenze, so daß er niemals eine Kopie seines Urhebers sein kann und dessen Reichweite nicht schon ausfüllt. In diesem Sinne hat Schlatter die Unterschiede zwischen den ersten Zeugen gedeutet. Nachdem er den 1. und 4. Evangelisten in ihrer auch gegensätzlichen Besonderheit verdeutlicht hat, heißt es: "Hier findet sich nicht die Kraft und Weite nur auf der einen, die Schwachheit und Enge nur auf der anderen Seite, sondern jeder Glaubensstand hat mit seiner Beschränkung zugleich auch seine Kraft"(50).

Die Konzentration, mit der Schlatter den wirkenden Jesus wahrnimmt, läuft freilich Gefahr, das Gewicht dessen, was causae secundae genannt wurde, zu unterschätzen. Liegt es daran, daß Schlatter es nicht beachten konnte, wie sehr das Matthäus-evangelium den palästinischen Situationsbruch des Jahres 70 voraussetzt, als Urgemeinde und Pharisäer in Jerusalem nicht mehr den Sadduzäern gegenüberstehen, sondern die dortige Christenheit auf das machtvolle Rabbinat trifft? Und so wichtig es ist, wenn Schlatter die Verbindung des 4. Evangeliums zu Jesus herausarbeitet, so unbefriedigend bleibt es, wenn der johanneischen Situation nicht wirklich Rechnung getragen wird. So könnte man fortfahren.

Zum Gewicht der "causae secundae" gehört es ferner, daß selbst die vollmächtigste geschichtliche Wirkung niemals mono-kausal determiniert, vielmehr die Merkmale einer asymmetrischen Wechselwirkung behält. Man stelle sich nur einmal vor, Jesus hätte damals keinen einzigen gefunden, der seinem Nachfolgeruf gehorcht hätte! Jesu Frage an die Jünger bei Cäsarea Philippi (Mk 8,29 par.) oder Stellen wie Lk 22,28 und Joh 6,68 haben es festgehalten, welche Bedeutung die Jünger für Jesus besaßen. Hier hat Schlatter Wesentliches zu sagen. In seiner Metaphysik erörtert er die Kausalität im Kontext der Wirkung, und zwar unter der Überschrift: "Der Austausch der Wirkung".(51)

Er sagt: "Auch dann, wenn der Anfang der Bewegung mit deutlicher Überlegenheit in einem einzigen Wirker liegt, so daß er sich als der Urheber des Prozesses erweist, kommt die Aktion doch nur dadurch zustande, daß der von der Wirkung Ergriffene auch seinerseits auf den Wirkenden wirkt." Erstaunlich der nächste Satz: "Denn die Weise, wie der von der Wirkung Ergriffene die Aktivität des Anfangenden in sich aufnimmt, be-stimmt das Verhalten des zuerst Wirkenden"(52). Dem entspricht es, wenn Schlatter in seinem Matthäuskommentar zu Mt 16,21 erklärt: "Aber auch für Jesus war das Ergebnis seines Verkehrs mit den Jüngern... unentbehrlich. Zerfiel der Jüngerkreis, gab es niemand, dem der Vater offenbarte, was Jesus als sein Ziel vor sich sah, dann war seine Arbeit umsonst getan" (ebd. 515).(53)

Die sich in den Jüngern fortsetzende Wirkung Jesu macht sie ihrerseits zu Wirkenden, und der Fortgang der Geschichte in seiner räumlichen Ausdehnung und zeitlichen Erstreckung führt notwendigerweise zu Differenzierung und Transformation. Von Schlatter kann man lernen, Jesus selbst als den Ursprung der Differenzierung ernstzunehmen und ihn nicht als Teilstück in die Hand zu bekommen, ebenso aber, Transformation und De-formation sorgsam zu unterscheiden. Jedenfalls gelingt die Konstruktion eines eigenhändigen Jesus auch dergestalt, daß der geschichtlichen Wirkung das Modell der Deformation aufgenötigt wird und der Exeget, indem er die Deformationen beseitigt, den unverfälschten Zugang besitzt.

Kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt zurück! Wie wir uns verdeutlichten, enthält der Ausdruck "Quellenmaterial" die Priorität des Denkenden. Aber auch dann, wenn wir von "Quellen" sprechen, korrespondiert der Redeweise eine Denkweise. "Ad fontes" enthält den Primat der Quelle. Solange wir z. B. darum streiten, ob unsere Quellen ein zuverlässiges oder verbogenes Bild Jesu erstellen, sind wir zugleich Gefangene einer Redeweise. Was nämlich sind unsere Quellen? Stehen sie am Anfang? Ist es nicht die Wirkung Jesu, welche auch in die Evangelien einmündet? Sind sie nicht eher Mündung und Delta, und ist nicht Jesus selbst Urquell der "Quellen"?

Noch einmal wird sichtbar, wie wichtig es ist, geschichtliche Kausalität in ihrer Vielschichtigkeit ernstzunehmen. Daß dabei deren Begrenztheit nicht aus dem Auge zu verlieren ist, hat auch eine sehr grundsätzliche Seite. Warum? Das zum Menschsein gehörige unausrottbare kausale Bedürfnis übersieht oft in kurzschlüssiger und unkritischer Weise, daß derjenige Anteil der Wirklichkeit, der sich nicht kausal erfassen läßt, der also chaotisch, stochastisch, kontingent oder wie auch immer zu bezeichnen wäre, unvergleichlich weiter reicht als das von uns kausal zu Erfassende, vom Determinierten ganz zu schweigen. Daraus er-geben sich zwei Sätze: (1) Ein frei schwebender Umgang mit ge-schichtlicher Kausalität führt in die Irre, und schon gar nicht dürfen wir dem kausalen Bedürfnis freien Lauf lassen oder dem fast unwiderstehlichem Hang zu Monokausalität und Monofinalität nachgeben. (2) Auch wo wir Vorgänge nicht kausal beschreiben können, lassen sie sich nichtsdestoweniger beschreiben. Die Po-esie lebt eben und auch davon.

Indes, auch dort, wo wir in der Geschichte Kräfte und deren Wirkungen wahrnehmen, sind sie nicht bloß unverrechenbar, sondern rücken uns ebenso vor das Geheimnis der Geschichte. Daß sich an Jesus Wirkungen anschlossen, ist unübersehbar und läßt sich ein Stück weit beschreiben. Aber was oder wer hat Jesus bewirkt? War es Johannes der Täufer, Maria, Josef oder...? Als Jesus nach seiner Vollmacht gefragt wurde, reagierte er mit einer Gegenfrage (Mk 11,30 par.): "War die Johannes-taufe vom Himmel oder von den Menschen?" Auf unserer Frageebene: Ist die Johannestaufe oder überhaupt Johannes der Täufer von Gott oder von den Menschen "abzuleiten"? Atheistische Dogmatik verbindet sich leicht mit dem Zwang, eine Gestalt wie den Täufer einzig und allein von Menschen "abzuleiten", wie es denn auch geschieht. Werden wir damit den Rätseln und Geheimnissen der Geschichte gerecht? Oder ist Jesus
ein Produkt des Chaotischen in der Geschichte, was immer das sein mag? Da es gar nicht so einfach ist, Jesus aus dem Vorhergehenden "abzuleiten", hat man sich auf das Nachfolgende gestürzt und damit Wirkung und Urheber vertauscht. Rächt sich hier die Abwesenheit des Gottesgedankens?

Daß die Frage der Kausalität bis an den Gottesgedanken heranreicht, hat Schlatter gegen Kant festgehalten und eingewandt: "Weil es für Kant feststeht, daß es für die Vernunft keine Abhängigkeit gebe,... wendet sie zwar das Kausalitätsgesetz auf alles an, was sie hervorbringt, steht aber selbst nicht unter ihm."(54) Doch warum soll die menschliche Vernunft nicht gewirkt sein? "An uns nehmen wir wahr, daß wir eine gegebene Gestalt besitzen, die nicht wir machen oder ändern, sondern mit der wir ins Leben hineingestellt sind. Indem wir aber erfahren, daß wir gewirkt sind, haben wir auch erfahren, daß es einen Wirker gibt".(55) Wenn Kant behauptet: "Soll das empirisch gültige Gesetz der Kausalität zu dem Urwesen führen, so müßte dieses in die Kette der Gegenstände mitgehören; alsdann wäre es aber, wie alle Erscheinungen, selbst wiederum bedingt",(56) so orientiert er sich an einer mechanistisch eingeengten Kausalität. Welche Kausalität aber waltet zwischen einem Künstler und seinem Kunstwerk? Und warum soll in einem analogen Sinne die kausale Rückfrage vor dem Weltganzen verstummen?

Da bereits das Menschsein mit dem Gottesgedanken verbindet, hat Schlatter die Gotteserkenntnis bewußt der Christologie vorangestellt.(57) Er schreibt: "Wer seine Beobachtung sofort und einzig Jesus zuwendet, hat auch eine Gefahr abzuwehren, nämlich die, daß er die ganze Welt als dunkel und gottlos sieht und sich Gottes Schöpferherrlichkeit verbirgt. Im dunkeln Weltbild sieht er dann nur noch einen einzigen hellen Punkt, nur noch Jesus, während er in der ganzen übrigen Welt nichts von Gottes Regierung erkennt"(58). Daß der Vater den Sohn sendet,(59) der ewige Gott den Christus ermöglicht, ist ontologisch unumkehrbar, und deswegen ist und bleibt der Vater Jesu Christi der Gott Jesu Christi (Lk 11,2 par.; Mk 10,18; 15,34 par.; Joh 20,17; lKor 15,28). Eine Theologie, in der der Vater zur Linken des Sohnes sitzt, ist bei Schlatter nicht zu finden. Schöpfung und Natur behalten ihr eigenes Gewicht,(60) und theologia naturalis ist unverzichtbar, weil sie gegenüber dem wirklichkeitsfremden Reduktionismus Offenheit und Vielschichtigkeit zur Geltung bringt.(61) Vor allem aber wirkt sie dem der Gottesleugnung folgenden immanenten Erklärungszwang entgegen, da sie das Geheimnis nicht widerwillig fürchtet, sondern bereitwillig ehrt, auch und gerade das den Ursprung berührende Geheimnis der Kausalität.

Fussnoten:

1 Werner Neuer, Adolf Schlatter, Ein Leben für Theologie und Kirche, Calwer Verlag Stuttgart 1996. - In Klammern gesetzte oder in Anmerkungen sich findende bloße Zahlen verweisen im Folgenden stets auf die Seiten der Biographie, mit Komma auf die dort zu findende Anmerkung.

2 Eine übersichtliche Zusammenstellung am Schluß des Buches (823 ff.).

3 Im Jahre 1920 erscheint: Die Entstehung der Beiträge zur Förderung christlicher Theologie und ihr Zusammenhang mit meiner theologischen Arbeit... (838), 1924: Erlebtes (838), 1925 eine Selbstdarstellung in: Die Re-ligionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen (838) und aus dem Nachlaß 1952 ein Rückblick des 70jährigen auf seine Lebensarbeit (84,1).

4 1890 lehnt Schlatter einen Ruf nach Heidelberg auf den dort vakant gewordenen Lehrstuhl für Dogmengeschichte ab (289).

5 Das Kapitel, in welchem Neuer diese Schrift Schlatters darstellt, ist besonders geglückt und geradezu meisterhaft. Wer die Biographie nur einmal zur Hand nimmt und Schlatter begegnen will, lese 341 bis 347. Später zum 400-jährigen Reformationsjubiläum wurde in der Studie "Luthers Deutung des Römerbriefes" die Kritik auf den Reformator ausgedehnt (546ff., 547, 107).

6 Veranlaßt ist diese Untersuchung durch eine Arbeit von K. Holl aus dem Jahre 1914: "Die Vorstellung vom Märtyrer und die Märtyrerakte in ihrer geschichtlichen Entwicklung". Schlatter zeigt, wie wichtig die Be-rücksichtigung der jüdischen Märtyrergestalten und deren Darstellung und Wirkung ist.

7 In einem dritten Anlauf schreibt Holl an Schlatter: "Es ist meine feste Überzeugung, von der Ethik aus muß der Protestantismus sich erneuern oder er geht zu Grund. Könnte ich's, so möchte ich wie Farel zu Calvin zu Ihnen sagen, daß Sie sich der schweren Unterlassungssünde schuldig machen, wenn Sie sich dieser Pflicht entziehen" (500). - Charakteristisch für Schlatters Ethik ist z.B. der Abschnitt: "Die Belebung der Gefühle" (2. Aufl., 323 ff.) oder seine Anmerkung zur sogenannten Notlüge: "Wir heißen die Tötung in der Notwehr auch nicht Mord. Die Verpflichtung zur Notwehr schließt die zur sogenannten Notlüge ein" (ebd. 287,1) - im krassen Gegensatz zu Kant.

8 Auf Schlatters Einwände gegen Kants Kritik an den Gottesbeweisen- sie lesen sich wie die Beurteilung einer mißglückten Seminararbeit - wird noch einzugehen sein. Hier ein erstes Zitat: Bei Kant ist die Vernunft "nicht in ein Wechselverhältnis gesetzt; sie ist für sich. Und es schien vielen leichter begreiflich zu sein, daß die Vernunft denke, wenn sie allein sei und aus sich produziere, als wenn sie eine Welt sehen soll. Der gefährliche Punkt kam weder Kant noch seinen Zeitgenossen zum Bewußtsein. Geht uns nicht die Welt verloren?" (Die philosophische Arbeit seit Cartesius, Gütersloh3 o. J., 119 f.). - Es scheint, als fände Heideggers In-der-Welt-Sein hier den Anschluß.

9 A. Schlatter, Metaphysik, mit einer Einführung von W. Neuer, Beiheft zur ZThK 7, 1987, 13.

10 Ebd., 19.

11 Verweisen sollte man nicht auf F. J. Tipler, wohl aber auf J. D. Barrow, Die Natur der Natur, Wissen an den Grenzen von Raum und Zeit, Aus dem Englischen Heidelberg, Berlin, Oxford 1993. Vgl. etwa den Abschnitt: "Warum sind die Naturgesetze mathematisch?" (366 ff.). Physik drängt zur Metaphysik.

12 Zum Streit um die von A. Stoecker 1895-97 gegen die liberale Theologie initiierten Landeskirchlichen Versammlungen, bei welchen Schlatter an Stoeckers Seite trat, vgl. 313 ff. Schlatter war von Stoeckers Tatkraft be-eindruckt und seinem Mut, auf die riesig wachsenden sozialen, menschlichen und kirchlichen Nöte zuzugehen. Die Großstadtgemeinden wuchsen auf bis zu 100.000 Menschen, und manche Pfarrer hatten 300 bis 700 Konfirmanden (311 f.). Die Entkirchlichung der Großstädte hat einen wesentlichen Ursprung darin, daß auf nicht zu bewältigende Pfarrbereiche die er-forderliche Reaktion unterblieb. Demgegenüber blieb die Lage auf dem Lande wenig verändert.

13 Nach seiner Überzeugung war die Deutsch-Nationale Partei keine glaubwürdige Plattform für eine christlich motivierte Politik (677 f.).

14 Schlatter im Rückblick: "Wenn ich auch Bodelschwingh deshalb meine herzlichste Liebe gab, weil er Epileptische pflegte und Bettelnde aufrichtete, so stand mir doch fest, daß die Arbeit der Kirche nicht richtig und nicht vollständig getan werde, wenn sie sich auf die Verwundeten be-schränkt. Sie besteht nicht nur aus den Kranken, sondern auch aus den Ge-sunden und hat diesen die Gemeinschaft zu bereiten, die sie untereinander verbindet; und unter den Gesunden gebührt unserer Jugend von unserer Liebe der größte Teil" (542).

15 Cremers Lebenswerk "Biblisch-theologisches Wörterbuch der neutestamentlichen Gräzität" und Schlatters frühes Hauptwerk "Der Glaube im Neuen Testament" sind nicht zufällig die grundlegenden Vorgänger des "Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament" (230).

16 Unterschiede zu Cremer bestanden nach Schlatter darin, daß jener für eine Überwinterung des Evangeliums arbeitete, während er selbst auf die Erneuerung der Kirche zu hoffen wagte (228), und daß Cremers Konzentration auf die Soteriologie der Weite theologischer Herausforderung nicht wirklich gerecht wurde. "Cremers Regel, daß der Glaube an der Erkenntnis der Sünde entstehe, hatte meine volle Zustimmung; gab sie aber alles, was unsere Dogmatik jetzt nötig hat? Sie verteidigte den Besitz, den wir von der Reformation her haben; führt sie aber die Kirche so weiter, daß sie sich auch das aneignete, was uns seit der Reformation unsere Geschichte erworben hat?" (259).

17 Ganz anders lagen die Dinge in einer vergleichbaren früheren Lage, nämlich als der junge Schlatter, noch Pfarrer in Keßwil, von den Männern des Evangelisch-kirchlichen Vereins in Bern aufgefordert wurde, sich mit ihrer Unterstützung an der dortigen Fakultät zu habilitieren (133 ff.). Da-mals weigerte sich der dortige Regierungsrat Bitzius entschieden, ihn an eine Professur gelangen zu lassen, und erst nach dessen Tod konnte der Privatdozent zum außerordentlichen Professor ernannt werden (154).

18 In einem 1907 gehaltenen Vortrag (425 ff.) wollte Schlatter ein Lehrzuchtverfahren erst angestrengt wissen, wenn ein Geistlicher entschlossen war, nicht mehr das Vaterunser zu beten (428), war jedoch froh, solche Entscheidungen nicht treffen zu müssen. Vgl. noch A. Schlatter, Erlebtes, Berlin 1925, 61 f.

19 Die vernichtende Kritik, die E. Schürer an Schlatters Untersuchung "Zur Topographie und Geschichte Palästinas" geübt hatte, hat Harnack brieflich aufrichtig bedauert, da er sie trotz gewichtiger Bedenken mit Freude und Nutzen gelesen habe, und Schlatters als Antwort an Schürer ge-dachte Arbeit "Der Chronograph aus dem l0. Jahre Antonins" erschien in einer von Harnack herausgegebenen Reihe (305).

20 Gegensätzlich war der Umgang mit dem Neuen Testament (307) oder die Bewertung des altkirchlichen Dogmas, bei Harnack unter dem Verdikt der Hellenisierung des Christentums, während Schlatter die dortige Ernstnahme der Gotteserkenntnis würdigte (307 f.).

21 An seine Geschwister schreibt Schlatter: "Im freundlichen Zusammenleben werden die scharfen Gegensätze leicht vergessen, und dann auch bald verleugnet" (320).

22 Tübingen 21954, 588 ff.

23 Vgl. Bd.VI, 198 ff. - zu Bultmanns Wirkung auf Schlatter vgl. Neuer, 655 ff.

24 Vgl. z. B. 588 f.; 497; 507, 278; 508, 279.

25 Eine besondere Wirkung ging von Schlatters offenen Abenden aus (612 ff.).

26 Der Berner Neutestamentler Wilhelm Michaelis und der Leiter des Gnadauer Verbandes Walter Michaelis werden im Register nicht unterschieden (888).

27 Erschwerend kommt hinzu, daß G. Kittel, der der NSDAP beitrat, W. Grundmann zu den sogenannten Deutschen Christen stieß, und auch Wilhelm Michaelis war ein Hitler-Verehrer (729; 729, 221; 763).

28 Weiter zu dieser Seite der Wirkung Schlatters 609 f.

29 Vgl. 563 f.; 563, 175. - Zum Widerstand Schlatters gegen die in den Kriegsjahren anschwellende Welle des Hasses 564 ff.

30 Erlebtes (s. Anm.18), 22.

31 Ein "Weltbegriff, der der Welt die atheistische Verschlossenheit in sich selber gibt, so daß im ganzen Bereich des Geschehens nirgends etwas anderes sichtbar werden darf und kann als die Welt, ist selbst eine Dogmatik" (A. Schlatter, Atheistische Methoden in der Theologie, BzFchrTh IX, 1905, 539-560, 549). Vgl. noch ebd. 544; 546.

32 Vgl. Die Furche 12, 1922, 228 u. 232, auch in J. Moltmann [Hg.], Anfänge der dialektischen Theologie 1, ThB 17, München 21966, 142 u.146.

33 Als Martin Fischer, Mitglied der Vorläufigen Kirchenleitung der Be-kennenden Kirche, Schlatter wenige Monate vor dessen Tod besuchte und sich Kritik am Konfrontationskurs anhören mußte, verdeutlichte er ihm die Lage, worauf Schlatter antwortete: "Vielleicht haben Sie recht, vielleicht ist doch vieles evangelisch, was wir nur für berlinisch gehalten haben" (769).

34 Müßig zu erwähnen, daß Fehleinschätzungen dieser Art nichts Aus-sergewöhnliches sind. Die Klarheit, mit der z. B Karl Barth den braunen Terrorsozialismus entlarvte, war gegenüber dem roten Terrorsozialismus weniger gegeben. Schlatter sah beides in großer Nähe (741; 128 f.).

35 Schlatter liest 1933 den Kommentar von Wendland zu den Korintherbriefen, um - wie er seinem Sohn Theodor schreibt - über die "Torheiten der Kollegen" unterrichtet zu sein (284).

36 Vgl. das Geleitwort von F. Mußner zur 3. Auflage des Jakobuskommentars (Stuttgart 1985).

37 Im Sinne von Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51985, 10.

38 Natürlich gibt es auch in unseren Tagen eine nicht geringe Arbeit am Neuen Testament, die der Priorität der Quellen verpflichtet ist. Stellvertretend für nicht wenige seien der siebzigjährige Martin Hengel und der fünf-undsechzigjährige Peter Stuhlmacher genannt.

39 Auch in der Naturwissenschaft gibt es fehlerhafte oder unseriöse Messungen.40 Offener Brief an Hans Lietzmann, ThBl 11, 1932, 19.

41 Zum Wert einer vorzuschaltenden Erkenntnistheorie (bzw. Hermeneutik) heißt es: Gäbe ein Naturforscher "die Erklärung ab, er könne nicht mehr sehen, weil es rätselhaft sei, wie der Sehakt zustande komme,... so wäre er sofort kassiert" (Briefe über das christliche Dogma, Stuttgart 21978, 9).

42 Zum Problemspektrum vgl. M. Bunge, Kausalität, Geschichte und Probleme, Tübingen 1987.

43 Die von H. Poincaré um 1900 bewiesene Unlösbarkeit des sog. Dreikörperproblems wurde in der sog. Chaostheorie von maßgeblicher Bedeutung. Dieser Problemkomplex bleibt bei M. Bunge (s. Anm. 42) unbeachtet.

44 Eigenartigerweise besitzt die Psychologie in der heutigen Wissenschaftslandschaft vermutlich den größten Erklärungsoptimismus, jedenfalls viel stärker, als dies z. B. in der Physik der Fall ist. Es ist kein Zufall, daß derart infizierte Theologen wie E. Drewermann oder G. Lüdemann so gut wie alles erklären können.

45 Wenn Hegel Kausalität durch Dialektik ersetzte, so ist immerhin wahrgenommen, daß zur Wirkung in der Geschichte immer auch Gegenwirkungen gehören, die von der Wechselwirkung sehr wohl zu unterscheiden sind. Im übrigen gehört zu Hegels Mißachtung der Kausalität seine Mißachtung der Natur (vgl. M. Bunge, s. Anm. 42, 225).

46 A. Schlatter: "Wo ist ein ernster Arbeiter im Bereich der Geschichte, dem nicht das Bewußtsein mit überwältigender Klarheit zu teil geworden wäre, wie schwer wir gegenüber den geschichtlichen Prozessen zum wirklichen Sehen und Beobachten kommen und wie viel Vorsicht uns in diesem Bereich gegen die Erklärerei unerläßlich ist" (Atheistische Methoden in der Theologie, s. Anm. 31, 548).

47 Noch schlimmer steht es mit der marxistischen Geschichtsbetrachtung, einem dürftigen Konglomerat aus Monokausalität und Dialektik.

48 Der auf diese Weise gewonnene Splitter-Jesus paßt in der Regel haargenau in irgendeinen Gegenwartstrend, und aus dem, der doch viel mehr war als ein trend-setter, wird ein trend-trotter, um nicht zu sagen, ein Trend-Trottel.

49 Das hiesige Problem hat H.Weder aus ganz anderer Perspektive ergiebig aufgerollt. Vgl.: Kritik am Verdacht, Eine neutestamentliche Erprobung der neueren Hermeneutik des Verdachts, ZThK 93, 1996, 59-83, besonders 72 ff.; 82 ff.

50 Die Theologie der Apostel, Stuttgart 21922, 227.

51 S. Anm. 9, 47. In der Inhaltsangabe steht: "Der Austausch der Wirkungen" (ebd. 17).

52 Ebd. 53.

53 Das Phänomen der Wechselwirkung ist auch bei M. Weber gesehen (s. Anm. 37, 140), wobei freilich der Werterelativismus Schablonisierungen begünstigt. Eine ganze Literatur hat sich daran angeschlossen.

54 Die philosophische Arbeit seit Cartesius (s. Anm. 8), 134.

55 Das christliche Dogma, Stuttgart 21923, 27 f.

56 Kritik der reinen Vernunft, Phil. Bibl. 37a, Leipzig (1930), 600.

57 "Das christliche Dogma" (s. Anm. 55) behandelt auf S. 20-277 den Menschen als Werk Gottes.

58 Ebd. 18. Die Fortsetzung des Zitats lautet: "Das widerspricht dem Urteil Jesu und seiner Boten, die an allem, was besteht und geschieht, den Anlaß hatten, Gottes zu gedenken, und erweckt den Zweifel (kursiv von mir) gegen Jesu Sendung und gegen die Wirklichkeit des Christenstands."

59 Die Aussage, Jesus Christus würde Gott ermöglichen, bedeutet eine eigentümliche Analogie zu der These, die erste Christenheit hätte den Christus erzeugt.

60 Als Anfang der siebziger Jahre die Kostbarkeit der zu bewahrenden Schöpfung neu entdeckt wurde, kam der Anstoß nicht von der damaligen Theologie, eher wurde sie auf dem falschen Fuß erwischt, hat aber rasch und vielleicht mehr als Trittbrettfahrer den Zug erreicht. Hier wäre an Hand von Schlatters Dogmatik und Ethik viel zu lernen gewesen.

61 Verheerende Engführungen in Sachen Kausalität gibt es zur Genüge. Die sogenannte Formgeschichtliche Methode hat die wirkende Kraft auf die Bedürfnisse und Interessen der Gemeinde reduziert - enger und beschränkter geht es kaum. Um ein völlig anderes Beispiel zu nennen: Ch. Darwin verengt den Antrieb der Evolution gewissermaßen maskulin auf die Zeugungskraft des Stärkeren: Living is fighting, oder: bellum pater omnium. Er übersieht, daß Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung dem Kampf ontologisch vorausgeht. Erst wenn ein junger Löwe, behütet in einem Rudel, groß geworden ist, kann er ernsthaft kämpfen, und die Katze, die alle anderen vom Freßnapf wegekelt, aber ihre Jungen vernachlässigt, scheidet dieserhalb aus dem Fortgang des Lebens aus. Ehe das Leben Antibiose ist, ist es eine gewaltige Symbiose von Pflanzen, Pilzen und Tieren, und dies nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen - man denke nur an Insekten und Blütenpflanzen! Vgl. A. Schlatter, s. Anm. 9, S.39; 42; 56,7.