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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

222–224

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Christine

Titel/Untertitel:

Freiarbeit - ein Lern-Weg für den Religionsunterricht? Eine Untersuchung von selbständigem Lernen im Horizont kritisch-konstruktiver Didaktik.

Verlag:

Münster: LIT 1997. 299 S. 8 = Religionspädagogische Kontexte und Konzepte, 1. Kart. DM 49,80. ISBN 3-8258-3183-3.

Rezensent:

Herbert Ulonska

Es liegt eine Dissertation vor, die von Ulrich Becker und Harry Noormann in Hannover betreut worden ist. Um es vorweg zu sagen: Der Reiz der Arbeit besteht einmal darin, daß eine erfahrene Praktikerin ihre tägliche Arbeit in der Schule theoriefähig reflektiert. Dieses ist immer wieder nötig, weil sonst die Theoretiker die Bodenhaftung verlieren.

Zum anderen hat die Vfn. sich von Anfang an biographischhermeneutisch eingebracht und ihre eigenen Lern-Wege mitbedacht. So ist nachvollziehbar, wie eine "Annäherung" an eigene erlebte und erlittene Probleme des Religionsunterrichts in der Schule von heute aussehen könnte. Unter "Annäherung" erläutert die Vfn. zuerst ihre Arbeitsschritte, wobei sie erfreulich erfahrungsorientiert arbeitet, indem sie ihre eigene Lehrerinnenkariere einbringt. Die vorangestellte Begriffserklärung von "Offenem Unterricht" und "Freiarbeit" macht die Fragestellung deutlicher.

Unter 1.4 erweitert sie den Fragehorizont, indem sie drei Stichproben von vergleichbar betroffenen LehrerInnen auswertet. Die angefügte kurze Analyse des zur Zeit auf dem Markt angebotenen Materials zur Freiarbeit macht den marktschreierischen Dilettantismus recht deutlich. Wer das Methodische höher schätzt als qualifizierte Inhalte, kann jeden Unsinn auf dem Markt verkaufen. Ihrer Unterscheidung zwischen Vermittlung und Aneignung ist voll zuzustimmen.

Wie die Vfn. ihre Praxis theoriefähig machen will, zeigt sich an ihrem weiteren Vorgehen, indem sie im Dialog mit der interpretativen Hermeneutik, der kritisch-konstruktiven Didaktik (vor allem Klafkis) und vergleichbaren Publikationen wie deren methodischem Vorgehen ihre eigenen Untersuchungsmethoden entwickelt. Die Vfn. nennt sie (mit Lämmermann) "Konstruktiv-kritische Religionsdidaktik", wobei ihr der Bildungsbegriff (nach Klafki) als zu leistende "Selbst-Arbeit" des Individuums wichtig ist (65 f.). Nach der Erarbeitung der Untersuchungsmethode geht die Vfn. ihre Hypothesen an - bezogen auf die heutige Praxis von Freiarbeit -, um sie kritisch-konstruktiv zu analysieren.

Mit dem 3. Kap. beginnt eine weitere Annäherung an das zu untersuchende "Selbständige Lernen". Die Vfn. nennt diesen Schritt interessanterweise den "Versuch eines umkreisenden Verstehens" auf dem Hintergrund ihrer kritisch-konstruktiven Methode. Sie beginnt, wie könnte es als erfahrene Praktikerin anders sein, mit der Bedarfsanalyse als Frage nach den Adressaten. Verschiedene kleinere Arbeiten zu "Jugend und Religion" werden referiert und der Bedarf an religiöser Sinn- und Wertorientierung festgestellt. Zwingend fragt dann die Vfn. weiter, ob denn im RU am Lernort Schule in einer multikulturellen und -religiösen Schulwirklichkeit ein entsprechendes Angebot vorhanden ist. In ihrer Zusammenfassung stellt die Vfn. einen ersten Anforderungskatalog an Freiarbeitsmaterialien (83-86) auf und zeigt überzeugend, wie sie sich aus den Erfahrungen ihrer Praxis ein selbständiges Lernen als notwendige Konsequenz aus der schulischen Wirklichkeit des RUs vorstellt.

In einem etwas umfangreichen historischen Begründungsverfahren, das wohl zu Dissertationen gehört, zeigt die Vfn. von Martin Luther ausgehend bis zu Helmuth Kittel auf, wie das Wechselspiel von Ermutigung zur Selbständigkeit und dem nachfolgenden Rückschritt in erneute Abhängigkeiten immerhin über 400 Jahre verlief, eine typische Wellenbewegung, die sich auch in der Theologiegeschichte beobachten läßt. Den Schwerpunkt historischer Begründung legt die Vfn. auf die Reformpädagogen zu Beginn unseres Jahrhunderts, die zur Zeit "Hochkonjunktur" haben. Wieder zeigt sich in der Zusammenfassung die Gabe der Vfn., die Fülle des Materials kritisch-konstruktiv auswerten zu können, was das Lesen sehr vereinfacht.

Nach dem historischen Rückblick werden dann noch die Unterrichtskonzeptionen nach 1945 auf Entwicklungen zu selbständigem Lernen befragt. Die Vfn. beobachtet eine stete Zunahme von Emanzipationstendenzen, die in der Symboldidaktik annähernd dem Gedanken der Freiarbeit entspricht. Hier setzt dann die Vfn. mit ihrer Weiterarbeit an.

Nach dem historischen und konzeptionellen Durchgang folgt nun eine bildungstheoretische Begründung, weil zur Menschwerdung des Menschen prozeß- und inhaltsorientiertes Lernen gehören mit dem Ziel des selbstverantworteten Handelns. Daß die von der Vfn. (185 f.) vorgeschlagenen Kriterien der Freiarbeit dieses Ziel ermöglichen, überzeugt; denn Freiarbeit kann in einer Zeit gesellschaftlicher und biographischer Übergänge der SchülerInnen kompensatorisch wirken. Die Vfn. erarbeitet die augenblickliche gesellschaftliche Situation nicht nur anklagend sondern sieht auch die vielen Chancen einer Übergangsgesellschaft. Am Ende dieses sehr ausführlichen Teils steht ein ausgezeichneter Katalog an Orientierungs- und Analysekriterien, weit über die Freiarbeit hinaus. Er könnte genauso für den gesamten RU gelten.

Da die Arbeit aus der Praxis entwickelt wurde, ist es der Vfn. zu danken, daß sie an einem exemplarischen Beispiel eines renommierten Religionspädagogen, der ein Modell für Freiarbeit entwickelt hat, eine kritische Analyse vornimmt. Behutsam geht die Vfn. vor, zählt erst alle Vorteile auf, doch zeigt sie dann, wie bei einem Theoretiker Theorie und Praxis weit auseinanderfallen. H. K. Berg sollte sich diese Kritik gefallen lassen. Um so wichtiger scheint es für uns Hochschullehrer zu sein, daß wir den Spiegel der Praxis vorgehalten bekommen.

Im letzten Kap. kehrt die Vfn. zu ihrer Ausgangsfrage zurück: Ist Freiarbeit ein Lern-Weg für den RU? Kritisch bis selbstkritisch reflektiert die Vfn. ihren eigenen argumentativen Lern-Weg. Das spricht für ihr Selbstbewußtsein und erübrigt die übliche akademische Rechthaberei, die sich auch in den Besprechungen der ThLZ fast schon wie ein Ritual am Ende findet.

Ihre 10 Thesen zur Integration von Freiarbeit in ein Gesamtkonzept des RUs sind ein ausgezeichnetes Material zur Weiterarbeit. Auch die als Repetitorium für ExamenskandidatInnen geeignete Synopse von Martin Luther bis Helmuth Kittel werde ich gerne weiterreichen. Ich habe die Arbeit mit großem Gewinn gelesen und wünsche mir, daß die Vfn. ihren vielen KollegInnen Mut macht, es mit der Freiarbeit zu versuchen. Schön wäre es, wenn sie die Zeit fände, ihre eigenen Entwürfe zu veröffentlichen.