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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

57–59

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bonß, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne.

Verlag:

Hamburg: Hamburger Edition 1995. 357 S. 8°. Pp. DM 48,­. ISBN 3-930908-20-4.

Rezensent:

Matthias Heesch

I. Ein wesentlicher Auftrag großer Körperschaften in demokratischen Gesellschaften besteht darin, an der Willensbildung für wichtige politische Entscheidungen mitzuwirken. Die Kirchen als institutionelle Träger von Orientierungsgewißheiten, die von weiten Kreisen unserer Gesellschaft als diskussionswürdig wahrgenommen werden, haben hier eine besondere Verantwortung. Nun ist aber auch deutlich, daß man einer solchen Verantwortung nur gerecht werden kann, wenn man über sachliches und methodisches Wissen verfügt, das es ermöglicht, zu anstehenden Fragen kompetente Vorschläge zu machen. Daß "Betroffenheit" nicht reicht, kirchlichen Überlegungen Gehör zu verschaffen, wird immer deutlicher. Seitens der für das Theologiestudium verantwortlichen Stellen hat das dazu geführt, allgemeinbildende, insb. sozialwissenschaftliche, Studien als wünschenswerten Anteil des Theologiestudiums zu begreifen. In diesen Rahmen könnte auch die Lektüre des nachfolgend zu besprechenden Buches fallen, das einer theologisch relevanten Klärung der Gesamtsituation dienen kann, in der Kirche und Theologie heute ihrem Auftrag gerecht werden müssen.

II. Der Hamburger Soziologe Wolfgang Bonß geht von dem im allgemeinen Bewußtsein verankerten Begriff der "Risikogesellschaft" aus (17). Dieser Begriff ergibt sich aus der soziologischen Reflexion der Tatsache, daß gegenwärtige Industriegesellschaften auf Technologien basieren, die bei Unfällen Schäden erheblichen bzw. sogar unkalkulierbaren Ausmaßes anrichten können. Der Begriff des "Risikos" ist jedoch vielschichtig, weil er in umgangssprachlicher Verwendung kalkulierbare und mithin handhabbare Schadensmöglichkeiten sowie solche Schäden umfaßt, die unkalkulierbar, also nicht handhabbar sind. B. arbeitet nun heraus, daß zwischen solchen Ereigniskategorien Übergänge bestehen, die durch unterschiedliche Definitionsweisen zustandekommen (291-307). Es ist nämlich wesentlich, an welchem Konzept von Sicherheit man sich bei der Risikoeinschätzung orientiert. Statistisch erarbeitete Konzeptionen von Sicherheit legen einen absoluten Sicherheitsbegriff als Grenzwert zugrunde und erstreben mit numerischen Verfahren einen Durchschnittswert über die Intervalle möglicher Schadensereignisse (292). Dabei geht man davon aus, daß mehr Wissen über Unfallursachen in Zukunft zu deren Vermeidung beitragen wird (295), mithin also die ohnehin geringe Schadenswahrscheinlichkeit im Lauf des Betriebs eines gefährlichen Systems gegen den Grenzwert Null tendiert. Dieser Sichtweise stellt B. die Risikowahrnehmung qua "sozialer Rationalität" gegenüber (301-307). Um diese in ihrer Berechtigung aufzuweisen, muß man sich klarmachen, daß die Kategorie der Wahrscheinlichkeit auf bestimmten Übereinkünften beruht, deren Grundlage statistische Verfahren sind, die die europäische Moderne entwickelt hat, die aber nicht unmittelbar lebensweltlich verankert sind (276). Über die Beschaffenheit des anstehenden Ereignisses besagt die Wahrscheinlichkeit nämlich nichts, mit diesbezüglichen Antizipationen hat es aber die soziale Kommunikation von Risikowahrnehmung zu tun (302). So sagt die statistische Berechnung nicht, ob ein bestimmtes Ereignis am Beginn oder am Ende des Zeitintervalls eintritt, für das das Eintreten dieses Ereignisses als sicher angenommen wird. Genau mit dieser Frage hat es aber die soziale Kommunikation von Risiken zu tun, die außerdem sehr viel stärker als die hiervon absehende (rein quantifizierende) versicherungsmäßige Interpretation von Un-fällen (170) den erlebnismäßigen Aspekt solcher Ereignise zum Inhalt hat. Das Konzept einer "absoluten Rationalität" (294-297) erweist sich also als defizitär, wenn es darum geht, einigermaßen vollständig diejenigen kommunikativen Abläufe zu be-schreiben bzw. ins Werk zu setzen, die zur tatsächlichen Ak-zeptanz bestimmter zivilisatorischer Risiken innerhalb einer Gesellschaft führen (302 f.).

III. B. erreicht das skizzierte Ergebnis auf dem Weg über eine umfangreiche historisch-systematische Rekonstruktion des Ri-sikobegriffs. Dabei macht er deutlich, daß das Risiko ein Strukturmerkmal moderner Gesellschaften des westlichen Typs ist. Das Risiko gehört als sozial konstruiertes Phänomen der ihm übergeordneten Phänomengruppe der Unsicherheiten an (43). Das Wesen dieser sozialen Konstruktion besteht nun darin, daß das Risiko die um bestimmter Ziele willen bewußt gesuchte Unsicherheit ist, wobei Nutzen und Gefahr kalkulierend gegen einander abgewogen werden (50). Das Risiko ist also die Unsicherheit, für die man sich entschieden hat (53). Genau hier liegt aber auch die Schwierigkeit, vor allem dann, wenn man daran festhält, daß das Risiko definitionsgemäß jene Wahrnehmungs- und Kommunikationsabläufe voraussetzt, die oben angedeutet worden sind. Das Wesen riskanter Technologien macht nämlich die Kalkulation des Risikos schwierig (76, 78 u. ö.) und bringt nicht hervorsehbare "Gefahren zweiter Ordnung" hervor (80-84), d. h. solche negative Möglichkeiten, die nicht auf dem Wege bewußten Risikohandelns beeinflußt werden können (82). Diese werden also nicht durch risikoförmig handelnde Subjekte bewußt übernommen, sondern stellen vielmehr eine diffuse Bedrohung der Gesellschaft oder von Teilen der Gesellschaft dar.

IV. Der Ertrag von B.s Buch besteht also einerseits in der Analyse der kommunikativen Strukturen für die Definition und Übernahme von Risiken (II.), dann aber auch in der Rekonstruktion der Schwierigkeiten, denen sich diese Kommunikation insb. angesichts des kontinuierlichen Übergangs von zivilisatorischen Risiken in "Gefahren zweiter Ordnung" ausgesetzt sieht (III.). Der Übergang von dieser soziologisch-formalen in eine theologisch-inhaltliche Behandlung des Themas Risiko scheint nun dort möglich zu sein, wo bestimmte Werte die Ausgangsposition der Überlegungen bilden. Im Rahmen einer solchen Argumentation läßt sich dann B.s differenzierte formale Beschreibung des sozialen Phänomens Risiko anwenden. Das überschreitet natürlich den Rahmen dieses Berichts. Zwei materiale Aspekte seien nur andeutungsweise erwähnt: Einerseits muß ­ etwa im Sinne von H. Jonas’ "Prinzip Verantwortung" ­ die Geschöpflichkeit von Mensch und Welt als Voraussetzung der Übernahme von Risiken verstanden werden, damit auch als Grenze ethisch legitimen Risikohandelns. Andererseits muß klar sein, daß Risiken von Subjekten für Subjekte eingegangen werden und daß damit intersubjektive Verantwortung inhaltlich bestimmendes und begrenzendes Prinzip bleiben muß. Die theologische Lektüre von B.s hervorragendem Buch kann helfen, daß solche Einsichten mit der gebotenen argumentativen Deutlichkeit vorgebracht werden können und nicht im Stimmengewirr des von allzu vielen Gutgemeintheiten überschwemmten Diskurses unserer Zeit untergehen.