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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

223–240

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Peter Cornehl

Titel/Untertitel:

Liturgiewissenschaft im Aufbruch. Zum neuen "Handbuch der Liturgik" *

Sachen gibt’s, die gibt’s eigentlich gar nicht, zum Beispiel eine evangelische Liturgiewissenschaft in Deutschland. Das Fach Liturgik spielt im Theologiestudium und im Ersten Theologischen Examen nur eine marginale Rolle. Es gibt an den deutschsprachigen Theologischen Fakultäten und Fachbereichen immer noch keinen einzigen liturgiewissenschaftlichen Lehrstuhl; nicht einmal dort, wo mehrere praktisch-theologische Professuren existieren, ist gewährleistet, daß einer davon einen liturgiewissenschaftlichen Schwerpunkt hat. Auch im kirchlichen Bereich steht es nicht besser. Die liturgische Aus- und Fortbildung liegt im argen. In einem Memorandum von 1994 hat die Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Liturgikdozenten mit dramatischen Worten den liturgischen Notstand ausgerufen: "Die Realität gottesdienstlicher Praxis in Deutschland, dem Ursprungsland der Reformation, ist gegenwärtig auf einem Tiefpunkt angelangt ­ wie er weder in der Geschichte noch auch weltweit je erlangt wurde." Und nun dies: ein "Handbuch der Liturgik" im Umfang von 1023 Seiten. Welche eine Paradoxie!

In der Tat: die liturgische Lage ist widersprüchlich. Denn es ist ja durchaus einiges in Bewegung geraten. Das neue Evangelische Gesangbuch ist 1994 erschienen und erfolgreich eingeführt worden. Der Vorentwurf der "Erneuerten Agende" von 1992 wird zur Zeit in den Landeskirchen breit diskutiert. Erste liturgiedidaktische Arbeitshilfen sind auf dem Markt, die zu phantasievollem Umgang mit der EA anleiten(1). Die VELKD hat ein Liturgiewissenschaftliches Institut gegründet und an der Theologischen Fakultät in Leipzig eröffnet ­ zwar mit begrenzten Kapazitäten, aber kompetenter Besetzung. Vor allem aber regt sich etwas auf dem Buchmarkt. Selbst wenn man die laufend erscheinenden praxisorientierten Publikationen nicht berücksichtigt(2), ist die Zahl der im engeren Sinne wissenschaftlichen Veröffentlichungen in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Dazu gehört eine ganze Fülle liturgiegeschichtlicher Untersuchungen zu Gottesdienst und Kirchenmusik, die teils fertiggestellt, teils schon veröffentlicht worden sind (J. Cornelius-Bundschuh (3), J. Conrad (4), J. Kampmann (5), H. E. Kellner (6), H. Kerner (7), M. Kießig(8), K. Klek(9), G. A. Krieg(10), Chr. Krummacher(11), M. Meyer-Blanck(12), J. Chr. Salzmann(13), H. v. Schade(14), K. Wiefel-Jenner(15), U. Wüstenberg(16), außerdem Quellenbände (hrsg. von W. Herbst(17) und H. Kerner/M. Seitz(18)), ein Kompendium (Chr. Grethlein(19)), diverse Aufsatzsammlungen (von F. Merkel(20), H.-Chr. Schmidt-Lauber(21), K.-H. Bieritz(22)) und Festschriften (für F. Schulz(23) und Fr. Wintzer), vor allem aber einige theologisch gewichtige Monographien zu Wesen und Gestalt des Gottesdienstes (M. Josuttis(24), Th. Müller(25), R. Volp(26)). Und jetzt also ­ gleichsam als Summe und Krönung ­ das voluminöse "Handbuch der Liturgik". Allein das Zustandekommen dieses Unternehmens ist ein kleines Wunder. Für die immense editorische Leistung gebührt den beiden Hgg., Hans-Christoph Schmidt-Lauber (Wien) und Karl-Heinrich Bieritz (Rostock) große Anerkennung.

Doch es bleibt eine Irritation. Muß man sich nicht wundern über das ’Wunder’? Bedeutet diese erstaunliche literarische Hausse, daß die beklagte gottesdienstliche Misere gar keine ist, sondern wenig mehr als das interessebedingte Lamento einer blühenden Branche, die ihren Einfluß verbreitern will? Davon kann keine Rede sein. Aber was signalisiert dann die so auffällige Diskrepanz zwischen üppiger Buchproduktion, akademischer Marginalität, eklatanten Ausbildungsmängeln, agendarischem Reformeifer und praktischer Stagnation? Auf das "Handbuch" bezogen, sind zwei Antworten denkbar. Die pessimistische würde lauten: Hier nimmt sich ein kleines Fach wichtig, zu wichtig. Wer soll diesen Wälzer lesen (und wer wird ihn gar kaufen)? Die optimistische Antwort wäre: Die Sache, um die es geht, ist in der Tat so wichtig, daß eine derart ausführliche Darstellung angemessen ist. Und das wiederum wird und muß Auswirkungen auf die Praxis haben, es wird und muß dazu beitragen, daß der Gottesdienst in Lehre und Forschung, Aus- und Fortbildung endlich den ihm zukommenden Stellenwert erhält. Voraussetzung ist allerdings, die Qualität des Geleisteten kann überzeugen. So verdient das Buch sorgfältige Beachtung. Es kann als Seismograph dienen für die anstehenden Probleme und die bereits gefundenen Lösungen.

1. Konzept und Traditionen

Das "Handbuch der Liturgik" ist ein Versuch, zwei Verlagstraditionen zu verbinden (12 f.). Der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht dachte zunächst an eine Neufassung des bei ihm erschienenen Klassikers evangelischer Liturgiewissenschaft, Georg Rietschels "Lehrbuch der Liturgik" (I 1900, II 1909). Nachdem die Überarbeitung, die Paul Graff unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg (1951/52) vorlegt hatte, aus begreiflichen Gründen nicht befriedigen konnte, der "Rietschel/Graff" im übrigen längst vergriffen ist, lag es nahe, das Werk neu zu schreiben und auf den heutigen Stand der Forschung zu bringen. Rietschels "Lehrbuch" ist ganz und gar historisch angelegt. Es enthält eine Fülle verläßlicher Informationen zum Gemeindegottesdienst, zu den Kasualien, zu Kirchenbau und Kirchenmusik. Sein Manko: Rietschel hatte kaum systematisch-theologische Interessen. Die andere Tradition wird von der Evangelischen Verlagsanstalt (früher Ost-Berlin, heute Leipzig) repräsentiert. Hier sind in den letzten zwei Jahrzehnten eine Reihe praktisch-theologischer Handbücher erschienen, die sich bewährt haben: zuerst das dreibändige "Handbuch der Praktischen Theologie" (1974-78) (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen westdeutschen Pendant des Gütersloher Verlagshauses), ein "Handbuch der Seelsorge" (1983) und zuletzt ein "Handbuch der Predigt" (1990). Es fehlte noch ein "Handbuch des Gottesdienstes". Die ostdeutschen Handbücher sind vor allem praxisbezogen. Sie liefern wissenschaftlich fundierte Darstellungen der aktuellen Praxisfelder. Sie sind handlungsorientiert, benutzerfreundlich und gemeindenah. Die Autoren stammten ausschließlich aus der DDR. Die kirchliche und gesellschaftliche Wirklichkeit der DDR war auch der primäre Lebensraum, auf den sich die Beiträge bezogen. Beide Verlage haben schon vor der politischen Wende eine Kooperation ins Auge gefaßt, die dann nach 1990 realisiert wurde. Es war ein kühner Entschluß, sich an ein derart ambitioniertes Projekt heranzuwagen. Daß dabei viele Schwierigkeiten überwunden werden mußten, kann man sich denken.

Der Rückblick zeigt auch, welches Unternehmen hier dezidiert nicht Pate stand. Das "Handbuch der Liturgik" ist keine Neuauflage der alten "Leiturgia". Dieses fünfbändige "Handbuch des evangelischen Gottesdienstes", das im Auftrag der Lutherischen Liturgischen Konferenz ab 1954 erschienen (und unvollendet blieb), war als Gemeinschaftswerk zugleich ein Werk aus einem Guß. Die einzelnen Abhandlungen ­ teilweise umfängliche Monographien ­ folgten einem einheitlichen Konzept. Die "Leiturgia" repräsentierte den theologischen und liturgischen Konsens der Nachkriegszeit. Sie lieferte dem Agendenreformwerk der fünfziger Jahre die wissenschaftliche Fundierung und förderte dadurch zugleich seine innerkirchliche Rezeption. Obwohl eine Auseinandersetzung mit "Leiturgia" als ganzes in der forschungsgeschichtlichen Einleitung von H.-Chr. Schmidt-Lauber (15-39) nicht geschieht(27) (lediglich Peter Brunners dogmatische Grundlegung aus Bd. 1 wird in ihrer Bedeutung gewürdigt, 27f.), ist doch offenkundig: Die Hgg. haben eine andere Leitvorstellung. Sie steht nicht mehr im Zeichen agendarischer Einheit. Der liturgische Pluralismus, wie er sich seit den sechziger Jahren entwickelt hat, wird bejaht. Die Ausrichtung ist ökumenisch, das Programm heißt: Einheit in der Vielfalt. Das "Handbuch" ist ein Dokument inszenierter Vielfalt.

Das zeigt sich in der Gliederung des Buches und in der Aufteilung der Artikel auf eine Vielzahl von Autoren (genau gezählt, sind es 59 Beiträge von 53 Verfassern(28)). Bei der Auswahl sind die wichtigsten Gesichtspunkte möglichst ’gerecht’ berücksichtigt worden: unterschiedliche kirchliche Verhältnisse, volkskirchliche (Noch)-Normalität und alte Diaspora- bzw. neue Minderheitensituationen, das konfessionelle Erbe und die ökumenische Breite (katholische, orthodoxe, freikirchliche Autoren sind reichlich vertreten). Verfasser aus Ost- und Westdeutschland, wissenschaftliche Praktische Theologen und liturgische Praktiker aus Gemeinden und übergemeindlichen Einrichtungen kommen in gleichen Anteilen zu Wort, Männer wie Frauen ­ nein, das nicht! Unter den 53 Verfassern sind nur 2 Frauen (davon eine Katholikin). Ist das Absicht oder Zufall oder Ausdruck der noch nicht ausgeglichenen Nachwuchslage? Wie auch immer, überdeutlich wird auch im neuen "Handbuch": Liturgik ist Männersache, und das ändert sich nur langsam. Gerade deshalb hätten die Hgg. hier energischer gegensteuern sollen.

Die Gliederung des Handbuchs belegt eine bemerkenswerte und erfreuliche Schwerpunktsetzung: Auf einen ersten systematisch-normativen Teil ("Grundlagen des christlichen Gottesdienstes"), folgt ein zweiter historisch-morphologischer ("Geschichte und Gestalt des Gottesdienstes") und drittens ein ausführlicher praktischer Teil ("Die Gestaltung des Gottesdienstes"), der fast die Hälfte des Buches umfaßt.

Der erste Teil wird eingeleitet durch einen exegetischen Abschnitt (Jürgen Roloff: "Der Gottesdienst im Urchristentum", 43-71). Es folgen zwei Grundlegungen, eine systematisch-theologische (von Geoffrey Wainwright, 72-95) und eine anthropologische (von Karl-Heinrich Bieritz, 96-127). Daran schließen sich unter der Überschrift "Gottesdienst in ökumenischer Perspektive" sieben kurze Skizzen an, in denen die wichtigsten konfessionellen Gottesdiensttraditionen vorgestellt und ihre ökumenischen Konvergenzen (v. a. im Lichte der Bemühungen von Faith and Order) reflektiert werden (128-206).

Die historische und morphologische Darstellung im zweiten Teil ist in drei Unterabschnitte gegliedert. Zuerst werden die Traditionen des sonntäglichen Gemeindegottesdienstes behandelt: Eucharistie (Hans-Christoph Schmidt-Lauber, 209-247) und Predigtgottesdienst (Eberhard Winkler, 248-270), danach das Stundengebet (Ingrid Vogel, 271-293) und die Taufe (August Jilek, 294-332). Der zweite Abschnitt befaßt sich mit den "Gottesdienstlichen Handlungen". Dazu gehören Konfirmation (Günther Kehnscherper, 333-353), Buße und Beichte (Hermann Leins, 354-370), Ordination (Ulrich Kühn, 371-391), Trauung (Hans-Hinrich Jenssen, 392-414), Bestattung (Ottfried Jordahn, 415-431) sowie Benediktionen und Krankensalbungen (Christian Grethlein, 432-452) ­ die Reihenfolge ist etwas willkürlich und wird nicht näher begründet. Ein letzter Abschnittträgt den Titel "Raum-zeitliche Sprachformen" des Gottesdienstes und thematisiert Kirchenjahr (Karl-Heinrich Bieritz, 453-489), Kirchenbau und Kirchenraum (Rainer Volp, 490-509), die gottesdienstliche Musik (Christoph Albrecht, 510-536) sowie die nonverbalen Gebärden, Haltungen, Gewänder, Geräte und Elemente der Dramaturgie des Gottesdienstes ("Das Zeremoniale") (Ottfried Jordahn, 537-562).

Der dritte Teil ist der aktuellen Gestaltung des Gottesdienstes gewidmet. Hier kommen zunächst eine Reihe von Kontexten zur Sprache: Gottesdienst und Öffentlichkeit (Karl-Fritz Daiber, 565-579), Gottesdienst und Kultur (Jens Langer, 580-595), Gottesdienst und Frömmigkeit (Manfred Seitz, 596-612), Gottesdienst und Gemeindeaufbau (Jürgen Ziemer, 613-625). Außerdem werden die enzyklopädischen Fragen des Zusammenhangs des gottesdienstlichen Handelns mit den anderen Bereichen kirchlicher Praxis erörtert: Gottesdienst und Religionspädagogik (Roland Degen, 626-636), Gottesdienst und Seelsorge (Manfred Haustein, 637-645), Gottesdienst und Evangelisation (Gotthart Preiser, 646-653), Gottesdienst und Diakonie (Hans-Christoph Schmidt-Lauber/Klausjürgen Heinrich, 654-665). Der nächste Abschnitt thematisiert die bei der Vorbereitung des Gottesdienstes zu berücksichtigenden Gestaltungsfaktoren: Planung (Henning Schröer, 666-676), Strukturierung (Manfred Kießig, 677-688) und Einzelelemente des Gottesdienstes (Berthold W. Köber, 689-714), außerdem die textlichen Grundlagen, die Perikopen (Peter C. Bloth, 715-727) sowie die Bedeutung der Predigt (Klaus-Peter Hertzsch, 728-739). Er wird abgeschlossen durch zwei Beiträge zur liturgischen Partizipation: gottesdienstliche Rollen (Michael B. Merz, 740-745) und Gemeindebeteiligung (Gustav Roth, 746-760) und einen über die Sprache der Liturgie (Teresa Berger, 761-770). Unter dem Stichwort "Zielgruppen" behandelt ein weiterer Abschnitt spezielle Gottesdienstangebote: Kindergottesdienst (Ernst Hofhansel, 771-785), Familiengottesdienst (Wolfgang Ratzmann, 786-800), Jugend- und Schulgottesdienst (Reinhard Kirste, 801-817) ­ die Frauen fehlen! ­, "Gottesdienst in geschlossenen Bereichen" (Krankenhaus, Altenheim, Militär, Gefängnis ­ ob der Sammelbegriff glücklich ist, sei dahingestellt: Karl-Friedrich Wiggermann, 817-829). Im lockeren Anschluß daran folgen "Sonderformen" wie der kirchenmusikalische Gottesdienst (Christian Bunners, 830-842), Gottesdienste bei Großveranstaltungen (Herbert Lindner, 843-848) und mit Kleinstgemeinden (Peter Sauer, 849-855), Gesprächsgottesdienst (Konrad Müller, 856-873), Feierabendmahl (Herbert Lindner, 874-884), Ökumenischer Gottesdienst (Helmut Kornemann, 885-897), Andachten und "kleine Formen" des Gottesdienstes (Friedemann Merkel, 898-903), Gottesdienstübertragungen im Rundfunk (Wilm Sanders, 904-915). Der letzte Abschnitt widmet sich der Gestaltung der im historischen Teil vorgestellten Kasualgottesdienste: Taufe (Christian Bunners, 916-924), Konfirmation (Karl Dienst, 925-936), Trauung (Werner Horn, 937-946), Bestattung (Eberhard Winkler, 947-958) und noch einmal Benediktionen und Krankensegnung (Christian Grethlein, 959-970). Ein abschließender Artikel bündelt die sich bei alledem ergebenden Grundsatzfragen: "Die Erneuerung des Gottesdienstes ­ Gottesdienst als Gestaltungsaufgabe" (Hanns Kerner, 971-984).

Man sieht: Alle wesentlichen Aspekte des Phänomens Gottesdienst kommen in den Blick: Ursprung, Bedeutung, Geschichte, Formen, Medien, Orte, Zeiten, ästhetische Codes und kulturelle Kontexte, Zielgruppen und Trägergruppen, die diversen ’Sitze im Leben’ auf den verschiedenen Ebenen des kirchlichen Handelns und des Alltags der Christen sowie die daraus resultierenden Aufgaben homiletisch-liturgischer Gestaltung. Die Weite und Komplexität des Gegenstandes wird jedem deutlich, der auch nur die Gliederung studiert. Wer sich auf den Gottesdienst einläßt, begegnet einem reich differenzierten, bedeutungsvollen Ganzen. Kein Zweifel: Der Gottesdienst ist ein "Gesamtkunstwerk".

Man kann darüber streiten, ob die Gliederung in allen Teilen plausibel ist, vor allem, ob die Hgg. in dem Drang, nichts und niemanden zu vergessen und nur ja keine Differenzierung auszulassen, nicht des Guten zu viel getan haben. Einiges im Aufbau wirkt unmotiviert, manches scheint überspezialisiert und entbehrlich. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man das Werk als ganzes gelesen hat.

In der Beschreibung der Hgg. (10 ff.) ist der Aufriß des Buches ein konsistenter Zusammenhang. Die Durchführung wirft Fragen auf. Um nur einige herauszugreifen: Ist die "Sprache der Liturgie" (761 ff.) ein Element der Gottesdienstvorbereitung? So, wie Teresa Berger das Thema angeht, gehört der Beitrag in den letzten Abschnitt des zweiten Teils. War es zwingend, die Frage der liturgischen Rollen und der Gemeindebeteiligung in zwei getrennten Artikeln zu behandeln? Daraus ergeben sich unnötige Doppelungen (zumal der Beitrag von M. B. Merz allzusehr die typisch katholischen Restriktionen spiegelt und in seinem skeptischen Urteil für den evangelischen Gottesdienst heute nicht zutrifft). Sind wirklich zwei Artikel zum Thema "Gottesdienst und Öffentlichkeit" bzw. "Gottesdienst und Kultur" nötig? Natürlich läßt sich dazwischen differenzieren, doch man hätte auch beides zusammen behandeln und sich dann jeweils lange Anmarschwege ersparen können. Muß neben den Gottesdiensten bei Großveranstaltungen auch der quantitative Gegenpol der Gottesdienste in "Kleinstgemeinden" in einem eigenen Artikel bedacht werden? Auch wenn der Beitrag von P. Sauer eine gelungene liturgische Miniatur ist, ergeben sich zu anderen Artikeln reichlich Überschneidungen. War ein eigener (mit 18 Seiten überlang geratener) Abschnitt über "Gesprächsgottesdienste" (K. Müller) erforderlich und nicht im Kapitel Gottesdienst und Gemeindeaufbau oder Beteiligung der Gemeinde im wesentlichen bereits enthalten? ­ Umgekehrt vermißt man, daß dem doch sehr wichtigen Thema Kirchenjahr (K.-H. Bieritz) im dritten Teil ein entsprechender Artikel folgt, der sich mit der aktuellen Gestaltung der Festzeitpraxis beschäftigt (wie das etwa bei der Kirchenmusik der Fall ist).

Es gibt also viele Wiederholungen, und sie werden durch die kleinteilige Anlage des Buches mitproduziert. Das macht die Lektüre streckenweise mühsam und dürfte dazu verführen, daß sich viele Benutzer auf den Verzehr eher kleinerer Häppchen beschränken werden. Auch wenn der Gegenstand in seiner Relevanz mit Recht breiten Raum beanspruchen darf: Ein Viertel bis ein Drittel des Umfangs hätte sich auf diese oder andere Weise einsparen lassen. Und das wäre kein Schade gewesen.

Das neue "Handbuch" ist ein Sammelwerk. Das hat manche Vorteile, aber auch einige Nachteile. Die Vorteile liegen auf der Hand und werden von den Hgg. hervorgehoben (13): Abgesehen davon, daß heute kaum ein einzelner auf allen Gebieten der Liturgik kompetent ist, ermöglicht eine pluralistische Anlage, jeweils die besten Fachleute zu gewinnen. Die Vielfalt der Sichtweisen, Perspektiven und ’Lesarten’ der Sache kommen zur Geltung. Unterschiede müssen nicht nivelliert, Schwächen können ausgeglichen werden. Die Chance, durch Eigenbeiträge die unterschiedlichen Profile der konfessionellen Gottesdiensttraditionen sichtbar zu machen, wird genutzt. Die liturgischen Farben sind bunt. Das sichtbar zu machen, ist im ökumenischen Zeitalter von einigem Reiz. Das Buch vermittelt Reichtum und Charme der Vielfalt.

Zugleich stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang des Ganzen. Jeder Artikel steht für sich. Verknüpfungen herzustellen, ist Sache der Benutzer. Die Hgg. vertrauen auf deren kombinatorische Intelligenz (die sie mit Hilfe des detaillierten Sach- und Personenregisters unterstützen). Doch die in Szene gesetzte Pluralität hat einen hohen Integrationsbedarf zur Folge, damit das Ganze nicht auseinanderfällt. Vom Sammelwerk zum Sammelsurium ist nur ein kleiner Schritt. Und hier vermißt man ein größeres Maß an "editorischer Regie". Die Hgg. sprechen zwar davon, daß Diskurse zwischen den widerstreitenden Positionen nötig seien (13), aber sie tun wenig, um sie als solche kenntlich zu machen. Die Ansätze zu Kontroversen, die durchaus vorhanden sind, werden nicht ausgetragen. Die Umgangsweise ist konziliant, aber nicht konziliar. Sicher wäre es mit vielen Schwierigkeiten verbunden gewesen, im Rahmen eines solchen Handbuchs auftauchende Differenzen noch einmal eigens zum Thema zu machen. Eine "konziliare Liturgik" anzustreben, hätte vermutlich Verzögerungen mit sich gebracht, vielleicht sogar das Zustandekommen des Werkes gefährdet. Dennoch ist es schade, daß man es nicht etwas mehr versucht hat. Es wird somit die Aufgabe der Rezensionen sein, nicht nur Lob zu spenden (wofür reichlich Anlaß ist), sondern auch Defizite zu markieren und Diskussionbedarf anzumelden.

Folgt man der Projektbeschreibung der Hgg. (10), dann geht es im "Handbuch" um zwei wesentliche Verbindungen: einerseits um die Verbindung der geschichtlichen Entwicklung des Gottesdienstes mit den Aufgaben gegenwärtiger liturgischer Gestaltung, andererseits um die Verknüpfung des genuin theologischen Gottesdienstbegriffs mit anthropologischen Einsichten.

2. Theologische und anthropologische Grundlegung

Dabei ist die Bemühung, zwischen Norm und Empirie, theologischem Wesen und geschichtlichem Ursprung keine falschen Gegensätze aufzubauen, zunächst für den ersten, den Grundlagenteil, maßgeblich.

Er wird durch einen Artikel von Jürgen Roloff eröffnet, der die biblische Fundierung des christlichen Gottesdienstes zum Thema hat (43 ff.). Er enthält ein knappes, prägnantes Referat des exegetischen Befundes, in einer wohlüberlegten Mischung von deskriptiven und normativen Aspekten. R. vermeidet einseitige Urteile und Festlegungen. Die urchristliche Praxis ist, soweit sich in den Quellen erkennen läßt, gekennzeichnet durch eine erhebliche Variationsbreite, durch Flexibilität und Offenheit in den liturgischen Formen und Abläufen, aber auch im Verständnis dessen, worum es im Gottesdienst inhaltlich geht. "Jeder Versuch, wie er sich speziell vom Schriftprinzip reformatorischer Theologie her nahelegen könnte, so etwas wie eine verbindliche neutestamentliche Urgestalt der Herrenmahlsfeier zu erheben, ist durch diesen Befund von vornherein zum Scheitern verurteilt." Das hat prinzipielle Bedeutung: "Schriftgemäß wäre auch für uns heute eine diese Faktoren reflektierende Flexibilität bei der Gottesdienstgestaltung." (57) Daraus folgt jedoch keine theologische Beliebigkeit. Denn ebenso klar erkennbar sind nach R. eine Reihe von Übereinstimmungen im Blick auf das, was den urchristlichen Gottesdienst essentiell bestimmt. R. nennt sie dezidiert: "Theologische Konstanten" (ebd.). Sie finden sich in allen Variationen und haben eben dadurch einen hohen Grad von Verbindlichkeit. Es sind vor allem vier Grundmerkmale: 1. das Dankgebet und die b’rakah-Struktur des Gottesdienstes; damit eng zusammenhängend, 2. die Anamnese. Gedenken ist biblisch gesehen "ein Sich-Festmachen in den vergangenen Taten göttlichen Heilshandelns und ein Sich-Unterstellen unter die von ihnen ausgehenden geschichtlichen Heilswirkungen". D. h. für den eucharistischen Gottesdienst: "Die Gemeinde unterstellt sich dabei der Heilswirkung dessen, was Jesus damals, in seiner letzten Nacht, tat, im Vertrauen auf die Gültigkeit seiner damals gegebenen Zusage und in Befolgung seines Gedächtnisauftrags." (58) Dazu gehört 3. der Gemeinschaftsbezug und 4. die eschatologische Ausrichtung der Feier.

R. betont die zentrale Bedeutung der Mahlgemeinschaft für das frühe Christentum, auch wenn die konstitutive Verbindung von Mahlzeit und Eucharistie später (abgekürzt: nach Korinth) gelöst wird. Die Trennung von Herrenmahl und Sättigungsmahl wird von R. zwar registriert, aber nicht weiter problematisiert. Denn im Vordergrund steht für ihn die Einheit von Eucharistie und Danksagung (Eulogie), von Christus-Anamnese und sakramentaler Communio. Das führt zu zwei theologisch wichtigen Feststellungen: 1. "Die Normalgestalt" des christlichen Gottesdienstes, der wöchentlichen gemeindlichen Versammlung, ist die Herrenmahlfeier (60). 2. Für den sakramentalen Charakter der Herrenmahlfeier ist nicht die Rezitation des Stiftungsberichtes entscheidend (58), konsekratorische Wirkung haben vielmehr die Lobsprüche (50). Zwei Thesen mit weitreichenden Konsequenzen! Ihre systematische Entfaltung finden sie später im Artikel "Eucharistie" von Schmidt-Lauber (209ff.). Daß vor allem die zweite These erhebliche Spannungen zur reformatorischen, speziell zur lutherischen Abendmahlsauffassung impliziert, ist den beiden Autoren bewußt.

R. ergänzt das Bild vom urchristlichen Gottesdienst durch weitere Thesen: Neben dem eucharistischen Gottesdienst am "Herrentag" gab es unter der Woche verschiedenartige Wort- und Gebetsgottesdienste (60) nach dem Vorbild der synagogalen Morgengebete und der privaten täglichen Gebetszeiten. Davon streng zu unterscheiden sind missionarische Versammlungen, die "ausschließlich der Verkündigung an Außenstehende" dienten (61), außerdem die Taufe, der für die einzelnen Christen persönlich wichtigste Gottesdienst, in der Taufe vollzog sich ja die für sie "entscheidende lebensgeschichtliche Wende" (ebd.).

Von hier aus wird auch der Aufbau des Artikels plausibel: Die Grenzen über das NT hinaus ins 2. und 3. Jh. sind offen. Die Struktur der abendländischen Messe mit Predigt und Abendmahl, wie sie sich seit Justin und Hippolyt herausgebildet hat, erhält auf diese Weise normatives Gewicht quasiapostolischer Geltung. Der reine Wortgottesdienst ist nach R. eine Sonderentwicklung aus späterer Zeit. Er wird nicht explizit abgewertet, doch R. läßt keinen Zweifel daran, daß ihm kein gleichwertiger Rang zukommt. Auch diese Sicht ist exegetisch nicht unbestritten (abweichende Meinungen, z.B. von W. Wiefel, W. Schmithals und J. Ch. Salzmann, werden von Schmidt-Lauber 212 zumindest erwähnt). Auch sie steht in Spannung zur reformatorischen Überzeugung. Die These vom prinzipiellen Vorrang der eucharistischen "Normalform" über den bloßen Wortgottesdienst, die durch die biblische Grundlegung einen normativen Status erhält, ist im übrigen auch unter den Autoren des Handbuchs nicht unumstritten (dazu s. u.). Es wäre gut gewesen, wenn derlei unterschiedliche Auffassungen (die alles andere als marginal sind) in ihrer Strittigkeit stärker bewußt gemacht worden wären. Dennoch erfüllt der einleitende Beitrag von R. seine informierende und orientierende Funktion für das Ganze des "Handbuchs" auf eindrucksvolle Weise.

Das kann man von der folgenden "Systematisch-theologischen Grundlegung", für die der nordamerikanische Theologe Geoffrey Wainwright gewonnen worden ist, nicht sagen. Von der Anlage des Ganzen her gesehen kommt diesem Artikel eine Schlüsselrolle zu. Leider wird W. den Erwartungen, die man an ihn hat, nicht gerecht. W. hat sich im ökumenischen Gespräch durch eine Reihe von Arbeiten, vor allem durch sein Buch "Doxology" (21982) Respekt erworben (vgl. auch seinen systematisch-theologischen Gottesdienst-Artikel in der TRE 14 (1985), 85-93). So durfte man gespannt sein, wie er die im Rahmen des Handbuchs gestellte Aufgabe lösen würde, seine trinitarisch konzipierte Gottesdienstlehre in den Kontext der historisch-exegetischen, kultur- und sozialgeschichtlichen Reflexion sowie der aktuellen Gestaltungsfragen so einzuordnen, daß von der dogmatischen Grundlegung her kreative Impulse zum Begreifen der komplexen Wirklichkeit gegenwärtiger Gottesdienstpraxis ausgehen würden. Das Ergebnis ist enttäuschend. Eine solche Zuordnung findet nicht statt, ein Interesse an interdisziplinärer Kooperation ist nicht zu erkennen. In gelassener Souveränität entfaltet W. einen dogmatischen Gottesdienstbegriff, in dem die kontroverse Problematik einer angemessenen Vermittlung von Wesen und Geschichte, Theologie und Theorie, mit der sich die neuzeitliche Theologie seit zweihundert Jahren herumschlägt, schlicht nicht vorkommt. Diese heilsökonomisch konzipierte, im Medium v.a. patristischer Theologie sich entfaltende Gottesdienstlehre ist gegenüber den neuzeitlichen Herausforderungen resistent.

W. verweigert sich (von wenigen Randbemerkungen abgesehen) allen Bemühungen, die liturgische Dogmatik anschlußfähig zu halten für die "liturgische Anthropologie" (Bieritz) und für die Fragen, die im Kontext der Moderne an Sinn, Begründung, Wandel und Gestalt des christlichen Gottesdienstes gestellt werden. Sie sind für ihn offenkundig nicht relevant. W. steht damit der orthodoxen Liturgieauffassung näher als der reformatorischen oder auch der zeitgenössischen katholischen Gottesdiensttheologie. Das mag man sympathisch finden. Für das "Handbuch" ist das systematisch-theologische Defizit, das auf diese Weise entsteht, bedauerlich, ja ärgerlich. Ich vermute, die Wahl dieses Autors war ein bewußter Schritt der Hgg., um die ökumenische Ausrichtung des "Handbuchs" zu dokumentieren und den beachtlichen Konvergenzen, die sich im Blick auf den Gottesdienst im interkonfessionellen Dialog der letzten zwanzig Jahre ergeben haben, Ausdruck zu verschaffen. Das ist nun so einseitig geschehen, daß die übrigen Ziele, die das "Handbuch" verfolgt, auf der Strecke geblieben sind. Von dieser systematisch-theologischen Grundlegung gehen jedenfalls keine ­ sei es anregenden, sei es kritischen ­ Anstöße aus.

Dadurch bekommt die anthropologische Grundlegung der Liturgik, das Thema des folgenden Artikels von Karl-Heinrich Bieritz, um so größeres Gewicht. In einer komprimierten, gehaltvollen Abhandlung entwickelt B. Grundzüge einer "liturgischen Anthropologie" (96). Er nimmt den Faden dort auf, wo Wainwright ihn hat fallen lassen, beginnt mit Überlegungen, wie die "trinitarisch-eschatologische Perspektive" mit den anthropologischen Gegebenheiten verbunden werden kann und entwickelt seine Thesen im Anschluß an Poppers "Drei-Welten-Theorie" (Kosmos, Psyche, Kultur).

Gottesdienstliches Handeln unterliegt den allgemeinen "Bedingungen des Menschseins". Dabei ist zunächst die geschöpfliche Dimension zu berücksichtigen. Sie impliziert eine "Ökologie des Gottesdienstes" (99). Deren wichtigste Kategorien sind Raum, Zeit, Gegenständlichkeit und Leiblichkeit. Hinzu kommt die kulturelle Dimension des Gottesdienstes. "Christlicher Gottesdienst war in seiner Geschichte stets Ausdruck und Mittel fortwährender Inkulturation des Christenglaubens"(103). Inkulturation bedeutet nicht einfach Anpassung, sie vollzieht sich immer neu in der Spannung zwischen Kultursynthese, Kulturbruch und Aufbau einer Gegenkultur. Der Gottesdienst ist "kulturelle Hervorbringung", zugleich ein unabschließbarer "Zeichenprozeß". "So wie eine Kultur ihr Wissen von Welt und Wirklichkeit im Vorgang der ’unbegrenzten Symbiose’ ständig neu formuliert, wird auch im Gottesdienst in der Weise darstellender, symbolischer Kommunikation religiöses Wissen nicht nur vorgestellt (verkündigt) und ausgelegt, sondern immer neu begründet. Vielleicht liegt darin ­ anthropologisch betrachtet ­ die wichtigste, weil unverzichtbare Funktion, die der Gottesdienst für die Gemeinschaft der Glaubenden erfüllt." (108) Der Gottesdienst hat schließlich eine politisch-soziale Dimension, ist ein "gesellschaftliches Ereignis" (ebd.). Gesellschaftliche und politische Strukturen nehmen Einfluß auf den Gottesdienst. Umgekehrt kommt keine Gesellschaft aus ohne so etwas wie Religion, auch die moderne nicht. Zu entdecken ist jeweils neu der "dieser Kultur eigene Kult, die ihr immanenten Sinnentwürfe und Mythologien" (110). Hier ist die kritische Kompetenz der Liturgik gefordert. Schließlich gibt es eine personale Dimension des Gottesdienstes. An dieser Stelle deutet B. einen Einspruch gegen bestimmte Kulttheorien an, wie sie gegenwärtig ­ mit ganz unterschiedlicher Ausrichtung ­ z.B. von Manfred Josuttis und Richard Schaeffler vertreten werden. "Fraglich werden damit theoretische Ansätze, die den Versuch unternehmen, kultisches Handeln gleichsam unter Umgehung der hermeneutischen (tradierenden, symbolisierenden, interpretierenden, kommunizierenden) Tätigkeit selbstbewußter menschlicher Subjekte zu bestimmen" (111). Zur liturgischen Anthropologie gehört deshalb wesentlich eine Betrachtung des Gottesdienstes als Wortgeschehen (als personale, ganzheitliche Begegnung im Wort), als Beziehungsgeschehen (im Sinne von Watzlawick u.a.) sowie als Sprachhandlung (Sprechakttheorie).

In einem letzten Abschnitt beschreibt B. den Gottesdienst als Ritual (genauer: als "konstitutives Zentral-Ritual") (121). Er unterscheidet im Anschluß an neuere Ritualtheorien neben den individuellen Ritualen der Alltagswelt vor allem zwei Klassen von gruppenbezogenen Ritualen: Initiationsrituale und Partizipationsrituale. Und er konkretisiert diese Unterscheidung für den christlichen Gottesdienst einerseits an den lebenszyklischen Passageriten der Kasualien ("vielleicht" zu ergänzen durch jahreszyklische Feiern und Übergänge, 122) und andererseits an Taufe und Abendmahl. Da Rituale dem sozialen Wandel unterliegen, diskutiert B. zum Schluß Transformationen rituellen Verhaltens, wie sie gegenwärtig in den hochindustrialisierten Gesellschaften zu beobachten sind, in ihrer Auswirkung auf den Gottesdienst.

Es gelingt B. die Fülle der Aspekte übersichtlich zu referieren. Vor den Augen der Leser entsteht ein dichtes Geflecht von Bezügen, das die gottesdienstliche Kultur bestimmt. So liefert der Artikel ein plausibles Koordinatensystem zur Wahrnehmung, Beurteilung und Gestaltung der Liturgie, in das die in den folgenden Teilen behandelten Sachverhalte eingeordnet werden können. Dieser Beitrag ist die konsequente Verdichtung eines Ansatzes, den der Vf. in früheren Vorstudien und Skizzen vorbereitet hat. Er hat hier eine ausgereifte Fassung gefunden.

Um das Stichwort "editorische Regie" wieder aufzunehmen: Man hätte sich gewünscht, daß die Autoren der übrigen Teile des Handbuchs diese Grundlegung und die problemgeschichtliche Einführung von Schmidt-Lauber (zumindest in einer Rohfassung) in den Händen gehabt hätten, bevor sie an ihre Arbeit gegangen wären. Das hätte die Einzelarbeit an den historischen und praktischen Beiträgen sehr befruchten können.

3. Geschichte, Gestalt und Gestaltung des Gottesdienstes

Das Lehrbuch von Rietschel/Graff hatte einen historischen Schwerpunkt, die DDR-Handbücher einen praktischen, das neue "Handbuch" sucht die Verbindung zwischen Gottesdienstgeschichte und gegenwärtiger Gestaltung. D. h.: Die historische Liturgieforschung ist kein Selbstzweck. Die Rekonstruktion der Vergangenheit hat zum Ziel, die gegenwärtige Situation verständlich zu machen, Kontinuität und Wandel aufzuzeigen und Gesichtspunkte für die vielfältigen Aufgaben gottesdienstlicher Gestaltung zu liefern.

Bei der Durchführung zeigen sich auch hier die Stärken und Schwächen des pluralistischen Ansatzes. Die Stärken sind offenkundig. Das "Handbuch" vermittelt nicht nur eine Fülle von Informationen, sondern auch einen großen Reichtum interpretatorischer Aspekte. Der zweite, historische und morphologische Teil enthält viele exzellente Einzelartikeln, die kundig und konzentriert den derzeitigen Forschungsstand zu den Teilthemen referieren und darüber hinaus neue Einsichten vermitteln, aus denen wichtige Anregungen für den dritten, gestalterischen Teil gewonnen werden können.

Ausgezeichnet sind insbesondere die beiden großen Artikel "Eucharistie" (H.-Chr. Schmidt-Lauber) und "Predigtgottesdienst" (E. Winkler) (dazu mehr unter 4.), vorzüglich auch die Beiträge zu Kirchenjahr (K.-H. Bieritz), Kirchenbau und Kirchenraum (R. Volp), beides ebenfalls ausgereifte Darstellungen, in denen einschlägige Vorarbeiten der Vf. auf nahezu klassische Weise zusammengefaßt werden (ich schätze übrigens Volps Artikel im "Handbuch" in seiner konzentrierten Vielschichtigkeit noch höher ein als die entsprechenden Teile seiner großen Liturgik). Interessant ist auch der Artikel "Buße und Beichte" (H. Lins).

Andere Artikel scheinen mir weniger gelungen, zumal wenn man sie im Licht der komplexen Aufgabenstellung liest, wie sie von den Hgg. vorgegeben worden ist. G. Kehnscherper z.B. vertieft sich bei der Geschichte der "Konfirmation" zu lange in regionalgeschichtliche Details (bei aller Liebe zu Bugenhagen und Pommern!) und verliert andere Entwicklungen aus dem Blick. Die Beiträge zur Trauung (H.-H. Jenssen) und Bestattung (O. Jordahn) bleiben relativ blaß. Die Chancen einer mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Darstellung auf dem Gebiet der Kasualien werden zu wenig genutzt, obwohl doch die Liturgik gerade hier auf reiche volkskundliche und kulturhistorische Forschungsergebnisse zurückgreifen kann. Die Geschichte des Stundengebetes wird von I. Vogel gründlich, aber auch ein wenig trocken referiert. Ist der Stoff wirklich so spröde? Ähnliches gilt von O. Jordahns Beitrag "Das Zeremoniale", der über die exakte, ja penible Auflistung dessen, was es auf diesem Gebiet alles gibt und was unbedingt zu beachten ist, kaum hinaus kommt oder hinaus will (ein Beispiel zu den Subtilitäten der Kelchwäsche: "Wo ein Kelchlöffel zum Entfernen eventueller Korkreste oder (im Sommer) Insekten in Gebrauch ist, gehört er auf das ein wenig in die Kuppa gedrückte Kelchtuch", 554). Der Artikel "Die gottesdienstliche Musik" von Chr. Albrecht schließlich ist ebenfalls arg traditionell und vor allem dort, wo er sich mit den neueren Phänomenen allgemeiner und gottesdienstlicher Popularmusik auseinandersetzt, geradezu rührend altmodisch ("Denaturierte Töne ­ zum Beispiel die unsauber intonierten dirty tones in der afro-amerikanischen Musik ­ können in unserem Kulturbereich schwerlich Eingang in den Gottesdienst finden." (528) Ach, du liebe Güte! Man traut seinen Augen nicht, wenn man das liest ­ 1995 und nicht 1955.)

Die liturgiegeschichtlichen Artikel des zweiten Teils haben im dritten Teil ihre praktische Entsprechung. Allerdings ist die Verklammerung nicht so konsequent vorgenommen worden, wie es gut gewesen wäre. Bis auf eine Ausnahme sind nicht nur andere Autoren verantwortlich, es scheint auch keine Abstimmung über die jeweiligen Leitgedanken gegeben zu haben. Es fehlen inhaltliche Anknüpfungen, Bezugnahmen, Auseinandersetzungen. Der Mangel an Koordinierung erweist sich als beträchtlicher Nachteil.

An dem einzigen Gegenbeispiel läßt sich zeigen, wie produktiv eine solche Verbindung sein kann: Beim Thema Benediktionen, Segenshandlungen und Krankensalbung stammen sowohl der geschichtliche wie der gestalterische Beitrag von Christian Grethlein (432 ff.; 959 ff.), und das ist ein großer Gewinn. Die im historischen Teil erhobenen Zusammenhänge tauchen im aktuellen wieder auf. Sozial- und mentalitätsgeschichtliche Sachverhalte werden nicht nur liturgisch, sondern auch theologisch und vor allem frömmigkeitspraktisch dargestellt. Die Einbettung in alltägliche Lebensvorgänge gelingt, es entsteht ein lebendiges Bild. Und dies ist bei den aktuellen Überlegungen stets im Hintergrund, es hilft, bei den Gestaltungsfragen ebenfalls nicht nur die liturgisch-didaktischen Regelungen, sondern den Lebensbezug im Blick zu haben. Das hätte man sich auch bei anderen Themen stärker gewünscht.

Im übrigen ist auffallend, daß beim Vergleich zwischen Artikeln aus dem zweiten und dritten Teil die praxisbezogenen oft besser abschneiden. Sie sind vielschichtiger, interessanter, konkreter.

Das gilt z.B. für den Bereich der Kirchenmusik. Der Beitrag von Christian Bunners über kirchenmusikalische Gottesdienste (830 ff.) ist vorzüglich. Die von B. eingangs knapp resümierten historischen Aspekte vermißt man im historischen Beitrag. Die systematischen Überlegungen und die Folgerungen für Praxisaufgaben und Praxismodelle sind prägnant und weiterführend.

Es gilt in anderer Weise auch für die Behandlung der Taufe. Hier stammt der historische Teil von August Jilek. Zunächst ist es ein bemerkenswertes Signal für die ökumenische Offenheit des "Handbuchs", daß die Hgg. mit dieser so wesentlichen Thematik einen katholischen Liturgiewissenschaftler betraut haben. J.s Artikel ist in ökumenischer Hinsicht auch wirklich bemerkenswert, keineswegs ein ausgewogenes historisches Referat, sondern ein Beitrag mit pointiert kritischen Akzenten. Das Schwergewicht der Darstellung liegt auf den Ursprüngen. Maßgeblich ist die Taufpraxis der Alten Kirche. Daran werden alle späteren Entwicklungen gemessen. Das ist in diesem Fall ein besonderes Problem, da sich ja die Voraussetzungen der altkirchlichen Taufpraxis nach der konstantinischen Wende grundlegend verändert haben. Statt der Gläubigentaufe, verbunden mit dem mehrjährigen Katechumenat, ist die Säuglingstaufe die Regeltaufe geworden, ohne daß dies Auswirkungen auf die Gestalt des Taufritus gehabt hat. Bis in die Gegenwart hinein sind die Ordnungen der Kindertaufe nach dem Muster der Erwachsenentaufe gebildet. Die so aufrecht erhaltene Fiktion hat nach J. eine ritualistische Entleerung der Taufhandlung zu Folge gehabt, die sich verhängnisvoll auf die Glaubwürdigkeit des Ritus ausgewirkt hat. Scharf kritisiert J. die katholische Taufliturgie, und zwar sowohl die mittelalterliche wie die nachtridentinische. Erst die Liturgiereform des Zweiten Vatikanums hat die fälligen Konsequenzen gezogen und den Taufritus situationsgerecht neu gestaltet. Genauso hart kritisiert J. auch die Taufliturgien der lutherischen Kirche, von Luthers Taufbüchlein bis zur jüngsten Überarbeitung der Taufagende der VELKD von 1988, weil auch sie sich nicht wirklich von dieser Fiktion verabschiedet habe (im Unterschied zu den neueren Ordnungen z.B. der nordamerikanischen Lutheraner). Für die konfessionelle Unbefangenheit des Autors spricht, daß J. die reformierten Taufordnungen von Zwingli und Calvin, die mit diesem Fehler aufgeräumt haben, als einzige positiv wertet (was deren angemessene Würdigung angeht, so bestehe immer noch eine "erhebliche Bringeschuld", 316). So wichtig dieser Gesichtspunkt ist, so unbefriedigend bleibt, daß sich J. ganz auf diesen einen Punkt konzentriert. Daß Riten in neuen Situationen auch neue Bedeutungen zuwachsen, selbst wenn sie ’überholte’ Vollzugsmomente enthalten, und daß die neue Gestalt dennoch theologisch plausibel sein kann, wenn sie mit übergeordneten Vorstellungen vom Wesen der Taufe kompatibel ist, das entgeht einer solchen primär genetisch argumentierenden Liturgik. Die Fixierung auf die Formelemente des Ritus lassen die leitenden theologischen Motive etwa von Luthers Taufauffassung (oder der VELKD-Agende von 1988) nicht zur Geltung kommen. Aber auch die neuzeitliche Entwicklung in ihrer strukturellen Dynamik hat J. nicht im Blick. Daß die Kindertaufe als Kasualhandlung in den Zyklus der lebensgeschichtlichen Amtshandlungen eingefügt wird, die ihren Sitz primär in der Familie haben, hat ihre Bedeutung und ihre Funktion nicht unwesentlich verändert. Doch Aufklärung und 19. Jh. kommen in J.s Geschichtsdarstellung nicht vor. Insofern kann dieser Artikel, auch wenn er ökumenisch lehrreich ist, nur wenig beitragen, um die gegenwärtige Situation zu beleuchten, die für die volkskirchliche Taufpraxis (in beiden Konfessionen) inzwischen entstanden ist. Daß genau diese Situation im "Handbuch" reflektiert wird, ist das Verdienst von Christian Bunners, dessen Analyse des Umbruchs in der Taufpraxis gerade in dieser Hinsicht sehr erhellend ist (916 ff.). Wer eine präzise Lagebeschreibung und eine überzeugende Praxisanleitung zum Umgang mit der neuen Unübersichtlichkeit in Sachen Taufe sucht, dem sei dieser Beitrag nachdrücklich empfohlen.

Der dritte, praktische Teil des "Handbuchs" enthält, wie oben erwähnt, viele Einzelbeiträge, in denen die Landkarte des gottesdienstlichen Handelns der Gegenwart detailliert vermessen wird. Die Beziehungen zu den anderen kirchlichen Handlungsfeldern und wissenschaftlichen Teildisziplinen der Praktischen Theologie werden geklärt, der Kontext der modernen Lebenswelt, in der die christliche Gemeinde ihre Gottesdienste feiert, wird markiert. Das ist überaus nützlich und macht das "Handbuch" zu einem unverzichtbaren, zuverlässigen Wegweiser durch eine komplizierter gewordene Landschaft.

4. Eucharistie, Predigtgottesdienst, "Sonderformen" ­ welcher Gottesdienst ist die "Mitte der Gemeinde"?

"Wer in dieser Zeit den Gottesdienst der Kirche zum Thema macht, muß davon überzeugt sein, damit etwas Notwendiges - Not-Wendendes ­ zur Sprache zu bringen, Lebenskräfte zu mobilisieren, Rettendes zu beschwören." (9) So lautet der erste Satz des Vorworts der Hgg. Er formuliert Selbstverständnis und Überzeugung der Theologie. An diesem Punkt korrespondieren Innensicht und Außensicht. Auch statistisch gesehen "steht der Gottesdienst ­ vor allem dann, wenn man die Kasual- und Sondergottesdienste mit einbezieht ­ nach wie vor im Zentrum aller kirchlichen Aktivitäten" (13)

D. h.: Für die Selbstdarstellung wie für die öffentliche Wahrnehmung von Kirche "haben Gottesdienste nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Bedeutung" (14). Doch in welchem Sinn kann von dem Gottesdienst als dem Zentrum des Christentums die Rede sein? Die zitierte Parenthese ("vor allem dann, wenn ...") signalisiert, daß offenbar nicht alle gottesdienstlichen Veranstaltungen den gleichen normativen Rang haben. Die terminologischen Unterschiede zwischen Hauptgottesdienst, Kasualgottesdiensten, Neben- und Sondergottesdiensten beruhen auf theologischen Wertungen. Von welchem Gottesdienst gilt, daß er die "Mitte des christlichen Lebens" ist? Die Hgg. konstatieren in dieser Frage unterschiedliche Ansichten: "Die Beiträge dieses Buches versuchen auf vielfältige, vielschichtige Weise hierauf zu antworten." (ebd.) Das klingt etwas sibyllinisch.

Tatsächlich läßt das "Handbuch" drei Antworttypen erkennen. Die erste lautet: Die "Hauptgestalt" ist die Eucharistiefeier. Die zweite Position erneuert die reformatorische Überzeugung: Auch der Predigtgottesdienst "ist vollwertiger Gottesdienst und darum legitimer Hauptgottesdienst der evangelischen Gemeinde" (248). Eine dritte mögliche Antwort wird zwar als These nirgendwo expliziert, könnte sich aber auf die im dritten Teil ausgebreitete Praxisbeschreibung stützen: Der evangelische Gottesdienst existiert nur in der Vielfalt der Gottesdienste und umfaßt das gesamte Ensemble der unterschiedlichen Formen, wie sie in der neuzeitlichen Entwickung sich herausgebildet hat. Auf eine hierarchische Wertung ist zu verzichten.

1. Die Auffassung, wonach der christliche Hauptgottesdienst die Eucharistie mit Wortverkündigung und Sakramentsfeier ist, formuliert die Meinung der Hgg. und ist quasi die offizielle These des "Handbuchs". Die Eucharistie steht "in den meisten christlichen Kirchen im Zentrum aller liturgischen Gestaltung und Praxis" und gilt "mit Fug und Recht darum als bestimmende, integrierende Hauptgestalt" (10). Diese These, die Roloff exegetisch untermauert hatte, wird von Hans-Christoph Schmidt-Lauber in seiner forschungsgeschichtlichen Einleitung (bes. 24 ff.) und im Artikel "Die Eucharistie" (209 ff.) entfaltet.

Die Einheit von Wort und Sakrament im sonntäglichen Gemeindegottesdienst ­ so S.-L. ­ entspricht sowohl der urchristlichen und altkirchlichen Praxis als auch dem Bekenntnis der lutherischen Kirche, und sie ist Konsens in der ökumenischen Bewegung der Gegenwart. Die Zeiten, in denen von dieser Praxis abgewichen worden ist, sind "Zeiten der Entfernung vom Ursprung" (210), auch wenn sie ­ vom Umfang her gesehen ­ die längste Zeitstrecke umfassen. Denn seit dem 4. Jh. und im ganzen Mittelalter ist die regelmäßige Gemeindekommunion "rapide" zurückgegangen und fand nur an den drei hohen Jahresfesten statt. Und auch in den lutherischen Kirchen (von den reformierten ganz abgesehen) ist die wiedergewonnene Einheit recht bald zerbrochen und der Predigtgottesdienst zum Regelfall geworden. Dafür macht S.-L. vor allem den Neuprotestantismus verantwortlich (209). Er muß aber zugeben, daß bereits in der Reformationszeit eine Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit bestand. Viele lutherische Kirchenordnungen enthalten Bestimmungen für den Fall, daß sich sonntags keine Kommunikanten einfinden und die Messe ohne Abendmahlsfeier beendet werden muß. Die lutherischen Reformbewegungen des 19. und 20. Jh.s haben hier eine Gegenbewegung eingeleitet, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist es gelungen, die theologische Grundsatzüberzeugung in den Agenden und im Bewußtsein des Kirchenvolkes zur Geltung zu bringen. Die Rückkehr zur altkirchlich-reformatorischen Einheit von Wort und Sakrament bestimmt nach S.-L. auch in den deutschen evangelischen Kirchen "zunehmend" (209) die gottesdienstliche Praxis. Ob er sich dabei nicht auf eine allzu einseitige Interpretation der Abendmahlsstatistik stützt, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Deutlich ist, daß dies der Darstellung zusätzlichen Schwung verleiht. S.-L. konstatiert (und konstruiert) ein sachliches und geschichtliches Gefälle, dessen Richtung klar ist: Alle Wege führen nach Lima. Ein eindrucksvolles, mit Engagement und Begeisterung vorgetragenes Plädoyer!

Inhaltlich erfährt das Konzept durch eine weitere These seine Ergänzung, ja, sie bekommt dadurch erst ihr besonderes theologisches Profil. Sie lautet: Das "Herzstück der eucharistischen Liturgie" ist das Eucharistiegebet (218) mit den darin eingeschlossenen Handlungen Anamnese, Epiklese, Konsekration, Bitte um eschatologische Vollendung. Diese im Ansatz bereits frühchristliche Praxis findet seit Hippolyt eine strukturell feste liturgische Gestalt, in derem Rahmen (aber nicht als ihr Zentrum) auch die Verba Testamenti ihren Ort haben. Die im späten Mittelalter begonnene und von der Reformation noch einmal radikalisierte Konzentration auf die Einsetzungsworte als Konsekrationsformeln ist demgegenüber eine Fehlentwicklung. Luthers Motiv war die "Sicherung des Stiftungsbezugs angesichts der den Sinn der Eucharistie verdunkelnden Meßinterpretation" als Opfer (229). Aber das führte liturgisch zu einer problematischen, wenn auch "geniale(n) Reduktion der Abendmahlsliturgie" auf Einsetzungsworte und Austeilung. Zugespitzt formuliert: "Es war die Reformation, die trotz ihres theologischen Aufbruchs in der Gottesdiensttheologie paradoxerweise liturgisch den Weg Roms zu Ende ging." (ebd.) Diese Fehlentwicklung ist im 20. Jh. auf Grund eines neuen ökumenischen Konsens und beharrlicher theologischer Arbeit auch in der evangelischen Kirche überwunden worden. Ein erster Ansatz für die Rückgewinnung des eucharistischen Gebetes war die Form B in der Agende I von 1955. In der "Erneuerten Agende" ist die Basis erheblich verbreitert worden. Hier muß die Entwicklung weitergehen. Die "Arbeit am Eucharistiegebet, dessen Überprüfung, Reform oder auch Neugewinnung" ist deshalb für S.-L. eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Aufgabe der Gegenwart (239)

S.-L. ist seit seiner Dissertation von 1957 nicht müde geworden, diese Überzeugung und die ihr entsprechende Sicht der Liturgiegeschichte in immer neuen Anläufen zu vertreten (ohne die geringste Angst vor Wiederholung)(29). Seine Darstellung im "Handbuch" hat eine imponierende Geschlossenheit gewonnen.

2. Vielleicht war S.-L. überrascht, daß er mit seiner These im "Handbuch" selbst recht deutlich auf Widerspruch gestoßen ist, und zwar schon im anschließenden Artikel "Der Predigtgottesdienst" von Eberhard Winkler (248 ff.). Eine darauf vorausweisende Bemerkung kann als Andeutung einer Kontroverse gewertet werden, die in dieser Frage ansteht, aber im "Handbuch" nicht wirklich ausgetragen wird. Sie sei deshalb wörtlich zitiert:

"So gewiß der Predigtgottesdienst ’vollwertiger Gottesdienst und darum legitimer Hauptgottesdienst der evangelischen Gemeinde’ ist (Eberhard Winkler), so wenig kann die von Christus als der neue zentrale Gottesdienst seiner Gemeinde gestiftete Mahlgemeinschaft bei der Verhältnisbestimmung außer acht gelassen werden. Es bleibt nicht dem Belieben der Gemeinde überlassen, diese durch andere Gottesdienstformen zu ersetzen." (216) Die Möglichkeit der Ausdifferenzierung anderer Gottesdienstformen jenseits der Eucharistie wird nicht bestritten, entscheidend ist die richtige Zuordnung. "Sie alle sind nicht Ersatz, sondern sinnvolle Entfaltung, die der Vertiefung und auch der Abwechslung dient und die ihrerseits hinweist auf das eine Zentrum. In diesem Sinne kann durchaus von Haupt- und Nebengottesdiensten gesprochen werden." (ebd.)

W. nimmt die Auseinandersetzung auf. In Abgrenzung nicht nur zu katholischen Positionen, sondern auch zu "vielen" evangelischen Liturgikern zitiert er eine "provozierende" Formulierung von W. Heidland: "Der Predigtgottesdienst ist in Wahrheit ein Nebengottesdienst" und kontert entschieden: "Ein Gottesdienst ist niemals eine Nebensache." Nach evangelischem Verständnis ist der Predigtgottesdienst keine "Notlösung". "Der Predigtgottesdienst ist vollständiger Gottesdienst, aber das Gemeindeleben und die persönliche Frömmigkeit wären ohne Abendmahl eines wesentlichen Inhalts beraubt." (ebd.)

"Die erfreuliche Aufwertung des Abendmahls in der evangelischen Gemeindepraxis sollte sich also nicht mit einer Abwertung des Predigtgottesdienstes verbinden." (248 f.) Der Predigtgottesdienst nach dem mittelalterlichen Pronaus-Typus ist neben der Messe eine der beiden legitimen Haupttypen des Gottesdienstes im Abendland (E. Weismann). W. vertritt seine Sicht auch historisch in einer aufschlußreichen eigenen Skizze der neueren Liturgiegeschichte, die nicht deckungsgleich ist mit dem Bild, das S.-L. vorher gezeichnet hat, so daß man zumindest beide Bilder nebeneinander halten muß, um der komplexen Entwicklung der gottesdienstlichen Formen seit der Reformation ansichtig zu werden (249 ff.). Und W. zeigt auch sehr klar, daß die Debatte um das Verhältnis von Predigt- und Abendmahlsgottesdiensten in der Praktischen Theologie der Neuzeit stets kontrovers geführt worden ist (263 ff.). "Die Einheit des Gottesdienstes blieb in der Theorie und Praxis ein ungelöstes Problem." (265) Ein Symptom dafür ist die Trennung der beiden praktisch-theologischen Teildisziplinen, die sich mit dem Gottesdienst befassen, Homiletik und Liturgik: "In der Theorie fehlte der Homiletik, die sich seit der ’Theologie des Wortes Gottes’ neu profilierte, weitgehend der Bezug auf die Liturgik, die ihrerseits vor allem an der Wiedergewinnung der Messe interessiert war und sich wenig um den Predigtgottesdienst kümmerte. In der Praxis ergab sich zwar seit den sechziger Jahren eine erfreuliche Belebung der Abendmahlspraxis, verbunden mit der Wiedereingliederung der Mahlfeier in den Hauptgottesdienst, aber der Anteil der Hauptgottesdienste ohne Abendmahl blieb hoch." (ebd.)

W.s praktisches Fazit: Auch der Predigtgottesdienst nach dem Pronaus-Typ ist liturgisch entwicklungsfähig. Er enthält vielfältige Möglichkeiten der Gestaltung, die denen der Messe nicht nachstehen (267). Für einige Gemeindesituationen ist dieser Typ sogar geeigneter, weil weniger festgelegt, z.B. für kleine Gemeinden, aber auch für die missionarische Situation großstädtischer Gemeinden im stärker säkularisierten Kontext mit einem höheren Anteil an Distanzierten, im übrigen auch für Gemeinden, die Kindern und Jugendlichen mehr Beteiligung einräumen wollen. W. weiß in dieser Auffassung auch die "Erneuerte Agende" auf seiner Seite, die beide "Grundformen" I und II nebeneinander toleriert (266 f.).

3. Was ist Gottesdienst? Neben den genannten beiden ­ in ihrer Weise "klassischen" ­ Problemlösungen ist eine dritte Antwort denkbar. Sie wird im "Handbuch", wenn ich recht sehe, nirgendwo explizit vertreten, sehr wohl aber implizit. Sie könnte sich auf die im dritten Teil breit referierte gottesdienstliche Praxis beziehen und den Versuch machen, im Vollzug der Beschreibung der gottesdienstlichen Kultur der Gegenwart zu einem theologischen Verständnis von Gottesdienst zu kommen, das nicht darauf abzielt, bestimmte Formen gegenüber anderen hierarchisch auszuzeichnen, sondern den Prozeß der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Gestalten gottesdienstlicher Feier in der Neuzeit in einer einheitlichen Theorie theologisch auf den Begriff zu bringen. Eine solche historische Phänomenologie fehlt freilich im geschichtlichen Teil des "Handbuchs". So entsteht der Eindruck, die neuen Gottesdienstformen seien gleichsam vom Himmel gefallen oder allesamt Erfindungen der letzten Jahre (und die Klassifizierung nach Haupt-, Neben- und Sondergottesdiensten ein Versuch, etwas Ordnung in den inzwischen vorhandenen liturgischen Wildwuchs zu bringen). Das ist jedoch eine Fehldeutung (die Hinweise zur Geschichte in einer Reihe praxisorientierter Beiträge belegen das recht deutlich). Es ist vielmehr ein Merkmal der Liturgiegeschichte des 19. und 20. Jh.s, daß sich ein breites Ensemble von unterschiedlichen Gottesdienstangeboten gebildet hat, das über die lebenszyklischen Kasualhandlungen hinaus besondere Gottesdienste für besondere Gelegenheiten und Anlässe, mit besonderen Themen, unter vorrangiger Verwendung bestimmter Medien, z.T. an speziellen Orten und zu speziellen Zeiten, z.T. auch für bestimmte Gruppen enthält, die gleichwohl den Anspruch erheben, wirklich Gottesdienste zu sein. Viele dieser neuen kasuellen Gottesdienste richten sich auch durchaus an die ganze Gemeinde, selbst wenn sie bestimmte Zielgruppen besonders ansprechen und von bestimmten Trägergruppen zusammen mit den Geistlichen vorbereitet werden (z.B. Schulanfängergottesdienste, Gottesdienste für Konfirmanden bzw. von Konfirmanden für die Gemeinde, Heiligabendgottesdienste mit Krippenspiel). Dazu gehören Familiengottesdienste ebenso wie Meditationsgottesdienste, Taufgottesdienste, Gesprächsgottesdienste usw. Viele dieser Gottesdienste finden heute mit Selbstverständlichkeit am Sonntag Vormittag statt und nicht zu Sonderterminen unter der Woche oder am dritten Ort. Sind das nun "Haupt-", "Neben-" oder "Sondergottesdienste"? Noch einmal: Wer definiert, was christlicher Gottesdienst "im Vollsinn" ist? Die systematisch theologischen Antworten auf diese Frage präferieren in der Regel die beiden erstgenannten Modelle. Die gottesdienstliche Wirklichkeit, wie sie das "Handbuch" dokumentiert, wird damit aber nur teilweise und unzureichend auf den Begriff gebracht. Hier ist ein offenes Problem, das künftig theologisch genauer reflektiert werden sollte.

Gesichtspunkte für einen weiteren (und realitätsgerechteren) Begriff von gottesdienstlichem Handeln und Feiern ließen sich aus einigen interessanten Beiträgen des dritten Teils gewinnen: z.B. aus T. Bergers Artikel "Die Sprache der Liturgie" (der, obwohl vom Umfang her, eher kurz, zu den schönsten des ganzen Buches gehört) und ihrem Plädoyer: "Die Liturgie spricht viele Sprachen" (761). Denn die Begegnung zwischen Gott und Mensch, das innerste Geheimnis des Gottesdienstes, vollzieht sich in der Vielfalt der menschlichen Lebenswirklichkeit. "Das heißt konkret, daß im Gottesvolk Offenheit für die Begegnung mit Gott in ganz verschiedenen Liturgiesprachen lebendig sein sollte: Sei es in der einfachen Sprache eines Kindergottesdienstes in einer evangelischen Gemeinde oder in der reichen Sprache einer griechisch-orthodoxen Vesper, sei es in den Liedern einer kleinen Basisgemeinde in El Salvador oder denen einer feministischen Liturgie." (770) Zu nennen wäre außerdem der Artikel "Die Planung des Gottesdienstes" von H. Schröer (vgl. die Stichworte: gottesdienstlicher "Spielplan", "Jahres-Ringe", 674) oder M. Kießigs Referat über die Bemühungen um eine Strukturierung des Gottesdienstes nach der "Erneuerten Agende" (vgl. die fallweise Ersetzung der Predigt durch andere Formen der Verkündigung bzw. der Textaneignung oder die Nutzung offener Formen, 687), H. Lindners Beobachtungen zu den Kennzeichen liturgischer Großveranstaltungen (v. a. bei Kirchentagen, 846 ff) und des Feierabendmahls (874 ff.). Besonders aufschlußreich ist die Debatte über Kinder- und Familiengottesdienste. Beide Formen von "Zielgruppengottesdiensten" standen von Anfang an unter der Frage nach dem Recht solcher Angebote für spezielle Gruppen. In der Geschichte des Kindergottesdienstes ­ darauf weist E. Hofhansel hin ­ ist seit über einem Jh. die Problematik eines Ausgleichs zwischen (legitimer oder schädlicher) Altersgruppendifferenzierung und (prinzipieller oder gelegentlicher) Zusammenführung in generationenübergreifenden Gottesdiensten immer wieder lebhaft diskutiert worden ­ ohne daß bislang eine der beiden ’sauberen’ Lösungen die vorhandenen Schwierigkeiten beseitigen konnte (779 ff.). Die gleiche Debatte wiederholt sich ­ wie W. Ratzmann zeigt ­ heute beim Familiengottesdienst (617 f.). Und sie kehrt wieder in J. Ziemers Resümee zum Thema "Gottesdienst und Gemeindeaufbau". Z. setzt sich ein für eine behutsame Pluralisierung der Gottesdienstformen und -zeiten (623), bei der zugleich die Aspekte Identität, Lebensbezug, Partizipation, Gemeinschaft und Integration bedacht werden. Die Diskussion ist nicht abgeschlossen.

5. Offene Fragen ­ ein Ausblick

Es bleiben über diesen ersten Punkt hinaus offene Fragen. Einige sollen hier wenigstens noch kurz genannt werden: Wie sieht das "Handbuch" das Verhältnis von konfessionellen Gottesdiensttraditionen und positionellen liturgischen Prägungen (a)? Wie wird die Relation zwischen den liturgischen Normen der Kirche und dem faktischen Verhalten der Christen verhandelt (b)? Und wie steht es zur "Erneuerten Agende" und zur Kritik an ihr (c)?

a. Konfessionen und Positionen Das "Handbuch" hat eine starke ökumenische Ausrichtung. Im Vordergrund stehen dabei die konfessionellen Gottesdiensttraditionen. Bereits der Grundlagenteil vermittelt auf fast 80 Seiten Einblicke in das gottesdienstliche Leben der christlichen Teilkirchen und die Eigenart ihrer Liturgie.

Die "ökumenische Perspektive" wird in kleinen, z.T. aufschlußreichen Skizzen kontextuell entfaltet: Gottesdienst im verschiedenen konfessionellen Kontexten, im orthodoxen (H.-D. Döpmann, 128-138), römisch-katholischen (B. Fischer, 139-150), lutherischen (K.-F. Wiggermann, 151-161), reformierten (B. Bürki, 162-174), anglikanischen (175-185), freikirchlichen und charismatischen Kontexten (J. F. White, 186-194, übrigens ein spritzig geschriebener Beitrag, dessen Lektüre Spaß macht!). Sie werden ergänzt durch einen Überblick über díe Debatten in der ökumenischen Bewegung (D. R. Holeton/J. St. H. Gibaut, 195-206).

Auch sonst ist die ökumenische Orientierung, wie gezeigt, im "Handbuch" von großer Bedeutung, wobei die Verständigung mit der katholischen Liturgieauffassung im Vordergrund des Interesses steht. Die auf dem Boden von Faith and Order und in den diversen zwischenkirchlichen Lehrgesprächen erreichten Übereinstimmungen über Eucharistie, Taufe (und Amt), über Rechtfertigung, Opfer und Präsenz Christi bilden den Fluchtpunkt der "ökumenischen Perspektiven".

Merkwürdig ausgeblendet erscheint demgegenüber die positionelle Prägung gottesdienstlicher Praxis im neuzeitlichen Christentum. Es hat den Anschein, als ob es die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen, zwischen konfessioneller und ’moderner’ Gottesdiensttheologie nie gegeben hätte. Die forschungsgeschichtliche Einleitung von S.-L. ist so sehr auf Harmonie bedacht, daß die Härte der Positionskämpfe und Agendenstreitigkeiten, die einmal das Austragungsfeld der liturgischen Kontroversen waren, nicht wiederzuerkennen ist. Nun mag es für die zurückliegende Phase der Debatte kennzeichnend sein, daß die Lust an der Polarisierung durch ein größeres Bedürfnis nach Integration abgelöst worden ist. Das hat auch positive Seiten, sollte aber nicht verdecken, daß die alten positionellen Prägungen nach wie vor weiterwirken und die Praxis beeinflussen. Im übrigen sind sie kein innerprotestantisches Merkmal, sondern werden offen und verdeckt in allen Konfessionen ausgetragen, in der römisch-katholischen Kirche zur Zeit besonders heftig. Von solchem Richtungsstreit spürt man im "Handbuch" so gut wie nichts. Vielleicht wirkt hier auch die alte Tradition der DDR-Handbücher nach, die (in ihrer Situation begreiflich) an der Herausarbeitung unterschiedlicher positioneller Standpunkte wenig interessiert waren. Die Beiträge repräsentieren meist den milden mainstream der offiziellen Konvergenz-Ökumene (in hochkirchlicher Tönung) oder das gemeindlich-landeskirchlich bereits Approbierte. Daß es auch andere liturgische Strömungen gibt, wird nicht sichtbar. Die eher ’wilden’ und nicht auf Ausgleich bedachten Experimente im Bereich der charismatischen und fundamentalistischen Gruppen und die feministischen Liturgien in ihren befreiungstheologischen oder naturreligiös, esoterisch ausgerichteten Varianten werden nicht hervorgehoben, obwohl das Selbstverständnis dieser Bewegungen gerade in ihren Liturgien seinen öffentlichen und öffentlich wahrgenommenen Ausdruck finden. Auch die in den letzten Jahren dezidiert vorgetragenen Forderungen nach nichtdiskriminierender, "gerechter", inklusiver liturgischer Sprache (vgl. dazu T. Bergers deutliche Worte, 769), einschließlich der damit zusammenhängenden Wünsche, daß frauenspezifische Texte stärker in Agenden und Perikopenordnung Berücksichtigung finden, werden allenfalls am Rande erwähnt. Dadurch ist das Gesamtbild vom Gottesdienst, das hier entsteht, in mancher Hinsicht zumindest unvollständig (um es vorsichtig zu formulieren).

Fussnoten:

b. Liturgie ­ Produktion und Rezeption Die methodische Perspektive, unter der das Phänomen Gottesdienst im "Handbuch" betrachtet wird, ist vornehmlich produktionsorientiert. Behandelt werden die liturgischen Ordnungen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht die Gestaltung. Das ist ein Fortschritt. Aber es ist nur die eine Hälfte der Sache. Wie steht es mit der Rezeption durch das Kirchenvolk? Wie verhalten sich die Christen zum gottesdienstlichen Angebot? Nach welchen Mustern partizipieren sie daran, nach welcher Logik wählen sie aus? Und wie verhalten sich die Menschen im Gottesdienst? Was denken sie, was erleben sie, was ist ihnen wichtig, woran nehmen sie Anstoß, was übersehen bzw. überhören sie ­ und unterscheiden sich dabei Männer und Frauen in charakteristischer Weise? Darüber wissen wir wenig, u.a. auch deshalb, weil man solche Fragestellungen, die in der Tradition der Praktischen Theologie vor dem Ersten Weltkrieg eine große Rolle spielten, lange verdächtigt, zumindest vernachlässigt hat. Die forschungsgeschichtlichen Verbindungslinien zur älteren Kirchenkunde, zur Religiösen Volkskunde, zu Religionspsychologie und -soziologie sind abgerissen und erst seit etwa zwanzig Jahren etwa wieder neu geknüpft worden. Methoden qualitativer Sozialforschung, die mit narrativen Interviews arbeitet und an biographischen Zusammenhängen gelebter Religion interessiert ist, werden inzwischen mit Erfolg erprobt(30). Daß sie auch liturgiewissenschaftlich fruchtbar sein könnten, wird ganz langsam entdeckt(31). Es ist nötig, verstärkt auch die subjektive Seite des gottesdienstlichen Erlebens und Sich-Verhaltens zum Gegenstand liturgiewissenschaftlicher Untersuchungen zu machen. Anders gesagt: Die Aufmerksamkeit sollte sich stärker auch auf das Verhältnis von Gottesdienst und Frömmigkeit richten.

Der einschlägige Artikel von Manfred Seitz (596 ff.) liefert dazu einen interessanten Ansatz, weil S. das wechselseitige Verhältnis von Gottesdienst und Frömmigkeit bedenkt. Er verengt freilich die Wahrnehmung sogleich wieder dadurch, daß er den Begriff "Frömmigkeit" inhaltlich so stark mit einer sehr geprägten Gestalt identifiziert, daß im Grunde nur eine bestimmte kommunitäre Intensivfrömmigkeit in den Blick kommt. Ihr Anliegen wird eindringlich zur Geltung gebracht. Aber gibt es nicht im Rahmen einer volkskirchlichen Kultur, wie sie nun einmal hierzulande das Christentum kennzeichnen, auch andere Einstellungen und Verhaltensweisen, denen man den Ehrentitel "Frömmigkeit" nicht vorenthalten sollte? Die Pluralität unterschiedlich geprägter Formen liturgischer Spiritualität wird von S. mit vielen Vorbehalten, mit sorgenvollen, warnenden Untertönen gegenüber modernistischen Fehlentwicklungen zur Kenntnis genommen (610). In der Tat: Hinter dem "scheinbar so harmlosen Thema ’Gottesdienst und Frömmigkeit’" verbirgt sich "ein heftiges Problem: der erstrebte oder praktizierte oder erhoffte Lebensstil als gestaltende Kraft der Liturgie" (598).

S. erinnert übrigens zurecht an die ältere Arbeit von Hans Preuß: "Die Geschichte der Abendmahlsfrömmigkeit in Zeugnissen und Berichten" (1949), die bis heute keine Nachfolger gefunden hat (597). Hier, im Bereich autobiographischer Dokumente, in Romanen und Erzählungen, in der bildenden Kunst, in Berichten von liturgischer Sitte und lokalen Festbräuchen, wie sie in Familien und Gemeinden praktiziert werden (oder wurden), liegen noch weithin unerschlossene Quellen für gottesdienstliche Frömmigkeit, die von der Praktischen Theologie endlich genutzt werden sollten.

Im "Handbuch" werden ähnliche Fragestellungen von K.-H. Bieritz in seiner anthropologischen Grundlegung formuliert. Seine Anregungen sind im zweiten und dritten Teil zu selten aufgenommen worden. Hier liegen künftig wichtige (und interessante!) Aufgaben liturgiewissenschaftlicher Forschung.

c. Das "Handbuch der Liturgik" und die "Erneuerte Agende" Die Hgg. lassen keinen Zweifel daran, daß sie auf dem Boden der "Erneuerten Agende" stehen. Sie haben den Vorentwurf mitverantwortet, sie teilen dessen Ansatz und Anliegen. Das "Handbuch" will den Praktikern in den Gemeinden bei der Erschließung der EA helfen (12). Ein großer Teil der Beiträge im dritten Teil läßt sich als Hilfe für die Umsetzung der EA in gottesdienstliche Praxis verstehen (vgl. bes. die Artikel von Schröer, Kießig, Köber, Roth). Doch dann wird das Bild eines scheinbar unbestrittenen EA-Konsens auf den letzten Seiten jäh getrübt. Ausgerechnet im abschließenden Beitrag, der den Ertrag des zweiten und dritten Teils noch einmal bündeln soll, trifft man (ohne Vorwarnung) auf einen recht grundsätzlichen Einspruch (971 ff.). Hanns Kerner erneuert hier seine auch andernorts vorgetragene Kritik(32) am Konzept der EA und plädiert energisch für die Rückkehr zu einer in sich geschlossenen konfessionell-lutherischen Agende: "Eine Erneuerung des Gottesdienstes findet ...in einem festumgrenzten regionalen und konfessionellen Raum statt." (971) ­ wobei insgesamt weniger die Agende I von 1955 als die Tradition der Bayerischen Agenden das Vorbild abgibt. Vor allem plädiert K. für eine strikte Trennung von Haupt- und Nebengottesdiensten: Wenn der sonntägliche "Regelgottesdienst" seine feste, zeit- und zeitgeistüberlegene Gestalt behält, können die "besonderen Gottesdienste" durchaus variabel und flexibel gestaltet werden, aber auch nur dann (976). Dieser Schluß ist eine dicke Überraschung ­ und eine Herausforderung zu neuen Diskussionen: "Der Vorhang fällt ­ und alle Fragen offen."

Bücher haben ihre Zeit, auch das "Handbuch der Liturgik". Die lange Entstehungsgeschichte hat auch zur Folge gehabt, daß nicht alle Entwicklungen der letzten Jahre bereits ausreichend berücksichtigt werden konnten. Die Debatte um den Gottesdienst ist in Bewegung geraten, die Fachdebatte hat sich beschleunigt. Es herrscht Aufbruchsstimmung. So ist auch das "Handbuch" bei aller Monumentalität nur eine Zwischenbilanz. Die "Erneuerte Agende" hat noch nicht ihre endgültige Gestalt gefunden. Wird sich am Entwurf nicht doch noch mehr ändern, als manche gedacht haben? Die Kritik jedenfalls ist lauter geworden(33). Das ist nun auch im "Handbuch" dokumentiert. Die programmatischen theologischen Entwürfe, die Wirklichkeit des Gottesdienstes umfassend neu zu begreifen ­ sei es religionsphänomenologisch (Josuttis), sei es semiotisch (Volp) ­ sind ebenfalls nicht wirklich eingearbeitet worden (auch wenn es gelegentliche Hinweise gibt). Was für die Agenden gilt, gilt auch für Lehrbücher: Man kann keine Agende mehr schaffen, die eine ganze Generation hält. Man kann auch kein "Handbuch der Liturgik" schreiben, das eine Generation hält, und sei es noch so fundiert.

Wichtiger ist etwas anderes: Das "Handbuch" zeigt, daß man das Fach Liturgik auch auf evangelischer Seite wieder ernstnehmen muß. Damit ist die Krise des Gottesdienstes noch nicht überwunden. Aber es gibt bessere Voraussetzungen dafür, sie zu bestehen. Jetzt sind Fakultäten und Kirchen am Zug. Sie haben keine Ausreden mehr, sie müssen verstärkt in die Arbeit am Gottesdienst investieren. So sei den Hgg. am Ende noch einmal gedankt. Es kommt selten vor in der Wissenschaftsgeschichte, daß ein Fach, das so gering ausgestattet ist und so wenig Basis in Lehrplänen hat, sich so vital zu Worte meldet, wie hier geschehen. Evangelische Liturgiewissenschaft: Sachen gibt’s, die gibt’s eigentlich gar nicht... ­ es sei denn, man tut etwas dafür.



* Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche. Hrsg. von Hans-Christoph Schmidt-Lauber und Karl-Heinrich Bieritz. Evangelische Verlagsanstalt/Vandenhoeck & Ruprecht: Leipzig und Göttingen 1995, 1023 S., Leinen, 138,­ DM.
(1) Vgl. W. Reich/J. Stalmann (Hrsg.): Gemeinde hält Gottesdienst. Anmerkungen zur Erneuerten Agende (Leiturgia. NF Bd. 1), Hannover 1991; F. Baltruweit/G. Ruddat: Gemeinde gestaltet Gottesdienst. Arbeitsbuch zur Erneuerten Agende, Gütersloh 1994.
(2) Vgl. Buchbericht von C. Dahlgrün: Arbeiten für den Gottesdienst, in: PTh 84, 1995, 128-134.
(3) J. Cornelius-Bundschuh: Liturgik zwischen Tradition und Erneuerung. Probleme protestantischer Liturgiewissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargestellt am Werk von Paul Graff, Göttingen 1991.
(4) Joachim Conrad: Die Bedeutung des Gottesdienstes bei Richard Gölz im Spiegel seines Lebens, Diss. Heidelberg 1994.
(5) Jürgen Kampmann: Die Einführung der Berliner Agende in Westfalen. Die Neuordnung des evangelischen Gottesdienstes 1813-1835, Bielefeld 1991.
(6) Hans Eduard Kellner: Das theologische Denken Wilhelm Stählins. Frankfurt, Bern u.a. 1991.
(7) Hanns Kerner: Reform des Gottesdienstes. Von der Neubildung der Gottesdienstordnung und Agende in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern im 19. Jahrhundert bis zur Erneuerten Agende, Stuttgart 1994.
(8) Manfred Kießig: Johann Wilhelm Friedrich Höfling - Leben und Werk, Gütersloh 1991.
(9) Konrad Klek: Erlebnis Gottesdienst. Die liturgischen Reformbestrebungen um die Jahrhundertwende unter Führung von Friedrich Spitta und Julius Smend, Diss. Hamburg 1995/96.
(10) Gustav A. Krieg: Die gottesdienstliche Musik als theologisches Problem. Dargestellt an der kirchenmusikalischen Erneuerung nach dem ersten Weltkrieg, Göttingen 1990.
(11) Christoph Krummacher: Musik als praxis pietatis. Zum Selbstverständnis evangelischer Kirchenmusik, Göttingen 1994.
(12) Michael Meyer-Blanck: Leben, Leib und Liturgie. Die Praktische Theologie Wilhelm Stählins, Berlin/New York 1994.
(13) Jorg Christian Salzmann: Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1994.
(14) Herwarth Frh. von Schade: Zu Gottes Lob in Hamburgs Kirchen. Geschichte des Hamburger Gesangbuchs, Diss. Hamburg 1996.
(15) Katharina Wiefel-Jenner: Die Liturgik Rudolf Ottos, Diss. Hamburg 1994.
(16) Ulrich Wüstenberg: Karl Bähr (1801-1874). Ein badischer Wegbereiter für die Erneuerung und die Einheit der evangelischen Gottesdienste, Göttingen 1995.
(17) Wolfgang Herbst (Hrsg.): Evangelischer Gottesdienst. Quellen zu seiner Geschichte. 2., völlig neubearbeitete Auflage von "Quellen zur Geschichte des evangelischen Gottesdienstes", Göttingen 1992.
(18) Die Reform des Gottesdienstes in Bayern im 19. Jahrhundert. Quellenedition. Hrsg. von Hanns Kerner und Manfred Seitz mit Reinhold Friedrich und Thomas Rübig (4 Bände), Bd. 1, Stuttgart 1995.
(19) Christian Grethlein: Abriß der Liturgik, Gütersloh 1989.
(20) Friedemann Merkel: Sagen ­ Hören ­ Loben. Studien zu Gottesdienst und Predigt, Göttingen 1992.
(21) Hans-Christoph Schmidt-Lauber: Die Zukunft des Gottesdienstes. Von der Notwendigkeit lebendiger Liturgie, Stuttgart 1990.
(22) Karl-Heinrich Bieritz: Zeichen setzen. Beiträge zu Gottesdienst und Predigt, Stuttgart u.a. 1995.
(23) Freude am Gottesdienst. Festschrift für Frieder Schulz, hrsg. von Heinrich Riehm, Heidelberg 1988; Peter Cornehl/Martin Dutzmann/Andreas Strauch (Hrsg.): "... in der Schar derer, die da feiern". Feste als Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion. Friedrich Wintzer zum 60. Geburtstag, Göttingen 1993.
(24) Manfred Josuttis: Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, München 1991.
(25) Theophil Müller: Evangelischer Gottesdienst. Liturgische Vielfalt im religiösen und gesellschaftlichen Umfeld, Stuttgart u.a. 1993.
(26) Rainer Volp: Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern. 2 Bde., Gütersloh, I 1992, II 1994.
(27) Übrigens wird auch das neue katholische Großunternehmen "Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft", hrsg. von H.-B. Meyer, Hj. Auf der Maur, Balthasar Fischer, A. A. Häußling, B. Kleinheyer (Regensburg 1983ff.), von dem immerhin bereits 8 Bände bzw. Teilbände vorliegen, in der Übersicht über die Forschungsgeschichte nicht eigens vorgestellt.
(28) An dem 1978 erschienenen Studienbuch "The Study of Liturgy", ed. Ch. Jones, G. Wainwright, E. Yarnold, das den Herausgebern als Vorbild für ein gelungenes Sammelwerk vorlag, waren immerhin nur 22 Fachgelehrte beteiligt. In deutscher Gründlichkeit hat man die Zahl verdoppelt.
(29) Vgl. H.-Chr. Schmidt-Lauber: Die Eucharistie als Entfaltung der verba testamenti, Kassel 1957; außerdem die gesammelten Studien in: Ders.: Die Zukunft des Gottesdienstes (Stuttgart 1990) sowie: Die Erneuerung des eucharistischen Gebetes. In: A. Völker (Hrsg.): Eucharistie. Beiträge zur Theologie der Erneuerten Agende, Berlin 1993, 34-60.
(30) Vgl. Stephanie Klein: Theologie und empirische Biographieforschung, Stuttgart u.a. 1994; Ulrich Schwab: Familienreligiosität ­ Fallstudien zur Einbettung von Religiosität in intergenerative Prozesse (Habil. München 1994), Stuttgart u.a. 1995; Eberhard Hauschildt: Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuchs (Habil. München 1994), Göttingen 1996.
(31) Daß die Auswertung von narrativen Interviews auch auch für den Bereich Gottesdienst von Gewinn sind, zeigt die soeben fertiggestellte Dissertation von Ute Grümbel: "Für euch gegeben". Abendmahl: Erfahrungen und Ansichten von Frauen und Männern ­ Anfragen an Abendmahlslehre und Abendmahlspraxis in der Gegenwart (Diss. Hamburg 1995/96).
(32) In seiner Habilitation (s.o. Anm.7), 201ff.
(33) Die Stimmung ist umgeschlagen. Von vielen Praktischen Theologen wird die EA inzwischen kritisiert, z.T. mit Häme und in einer Form, die sie nicht verdient. Die Stichworte eskalieren: "Plastikvokabular" (K. Adloff, PTh 1990, 28), "Lego-Liturgie" (als Zitat von Unbekannt, ebd. 482), "sanfte Kanalisierung", postmoderne "Beliebigkeit" (M. Josuttis, ebd. 1991, 511), Liturgie als "Raster" nach der "Logik eines Rechenprogramms", Bürokratie und Verwaltung haben gesiegt (Chr. Bizer, ebd. 1993, 156f.). In der Einführung zu seinem neuen Aufsatzband spricht K.-H. Bieritz nun von "Simulationen" (Zeichen setzen, s. o. Anm. 22, 23ff.) und vergleicht die EA mit ihren Grundformen, Blockvarianten und austauschbaren Einzelelementen mit den flexiblen Möglichkeiten moderner Computer-Software. Die Kritik ist geistreich, aber nicht unbedingt treffend und ein bißchen unfair dazu. Zugegeben, das Spiel mit den Analogien hat einen hohen Unterhaltungswert. Aber es verrät vielleicht doch weniger vom Geist der EA als von den Fortschritten (oder Schwierigkeiten) der Kollegen bei der Einarbeitung in die neueste Version von Word Perfect (oder den Frust über den verfrühten Kauf von Windows 95). Es wird Zeit, daß jemand die EA mal wieder in Schutz nimmt.