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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

54 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kortüm, Hans-Henning

Titel/Untertitel:

Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896–1046.

Verlag:

Sigmaringen: Thorbecke 1995. 464 S. gr.8° = Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 17. Lw. DM 108,­. ISBN 3-7995-5717-2.

Rezensent:

Lutz E. v. Padberg

Unter den sogenannten Historischen Hilfswissenschaften nimmt die Diplomatik zweifelsohne einen wichtigen Rang ein. Ihre weit über die Echtheitskritik hinausgehende Analyse insbesondere der Königs- und Papsturkunden vermag die historische Erkenntnis auf vielen Feldern entscheidend zu fördern. Öffentliche Reputation läßt sich mit der kritischen Wissenschaft von den Urkunden allerdings kaum gewinnen. Da in der Regel nur der Diplomatiker sein Quellenmaterial genau kennt, nicht aber der Leser seiner Arbeiten, "eignet der Aussage des Urkundenforschers, verglichen mit allgemein-historischen Darstellungen, häufig ein besonders hermetischer Charakter" (15). In sympathischer Offenheit stellt auch K. gleich zu Beginn seiner Arbeit hohe Hürden auf und kündigt dem Leser an, daß die formale Betrachtungsweise und der Gebrauch der sprachwissenschaftlichen Terminologie "sicherlich nicht das Lesevergnügen" erhöhen würden (16). So ist es in der Tat, verlangt doch sein Buch, eine im Frühjahr 1992 abgeschlossene, geringfügig überarbeitete Habilitationsschrift der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen (Gutachter G. Baaken, H. Löwe und H. Zimmermann), dem in der hohen Kunst der Diplomatik nicht eingewöhnten Leser ein beachtliches Durchhaltevermögen ab. Die Ausdauer wird indes belohnt, denn man bekommt nicht nur ausgewogene Informationen über die gegenwärtige Situation sowie Gegenstand und Methode der Diplomatik (13-31), sondern erhält durch die akribische sprachliche Analyse von zahlreichen Papsturkunden für spanisch-katalanische (32-143), italienische (144-251), französische (252-296) und deutsche Empfänger (296-311) einen nachhaltigen Eindruck von der entsagungsvollen Arbeit der Diplomatiker.

K.s Arbeitsgrundlage sind die Papsturkunden der Jahre 896 bis 1046, die in einer von Harald Zimmermann veranstalteten Edition vorliegen (Papsturkunden 896-1046, Bd. 1 und 2, Wien 21988; Bd. 3, Wien 1989 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Denkschriften 174, 177 und 198). Laut Register hat er in unterschiedlicher In-tensität ca. 380 Stücke behandelt. Ziel seiner Arbeit ist nicht etwa die Geschichte der päpstlichen Kanzlei dieses Zeitraumes, sondern als Vorstufe dazu die Frage nach dem potentiellen Einfluß der Urkundenempfänger auf die Gestaltung der Urkunden. Diese verstärkte Berücksichtigung der Empfängerseite ist der eigentliche methodische Neuansatz K.s, der mit der überraschenden Vielfältigkeit der sprachlichen Ausdrucksformen der päpstlichen Kanzlei überzeugend begründet wird. Damit wird eine Abkehr vollzogen von dem von der älteren Forschung entworfenen Bild einer streng durchorganisierten Notariatsbehörde. Da die Mehrzahl der bis heute erhalten gebliebenen Papsturkunden nur in kopialer Überlieferung vorliegen, waren die Analysemöglichkeiten der bislang meist auf die sogenannten Äußeren Merkmale konzentrierten Arbeit ohnehin beschränkt. K. dagegen konzentriert sich auf die Inneren Merkmale und kann über die Analyse der Urkundensprache weiterführende Hinweise auf die Arbeitsweise der päpstlichen Kanzlei und insbesondere den Anteil der päpstlichen Notare bei der sprachlichen Ausgestaltung der Texte gewinnen. Seine Untersuchung setzt also nicht bei der ausstellenden Papstkanzlei ein, sondern beim Empfänger, wobei er sich berechtigterweise "auf die Papstprivilegien im engeren Sinne, also auf die Besitz- und Rechtsbestätigungen und -verleihungen" beschränkt (21). Um den höchst unterschiedlichen Voraussetzungen der einzelnen Empfänger gerecht werden zu können, differenziert K. regional nach Urkundenlandschaften, sich der mißlichen Verwendung moderner nationaler Kategorien als Hilfskonstruktion durchaus bewußt seiend.

Die quellengesättigte Untersuchung, die in den rund 2700 Anmerkungen auch die Auseinandersetzung mit der Forschung nicht scheut, kann hier nicht im Detail nachvollzogen werden. Meisterlich belegt K. jedenfalls, daß "die adäquate diplomatische Beurteilung einer Urkunde... auf deren adäquatem sprachlichen Verständnis" basiert (23). Hilfreich sind zumal für den fachfremden Benutzer die immer wieder in die Argumentation eingestreuten Hinweise zu den einzelnen Arbeitsschritten sowie die knappen Zusammenfassungen. Als Ergebnis wird zunächst die traditionelle Annahme einer autonomen Urkundenstilisierung durch die päpstliche Kanzlei und ihre Notare für überholt erklärt. Dem widersprechen nämlich die vielen zu beobachtenden ’Regellosigkeiten’, die "Ausdruck eines vergleichsweise niedrigen Organisationsgrades der päpstlichen Kanzlei jener Zeit" sind (424). Dieser wiederum läßt sich damit erklären, "daß auch die sprachliche Ausgestaltung großer Teile der Dispositio, also des materiellen Kerns einer Urkunde, sehr oft ganz unmittelbar auf den Empfänger zurückgegangen ist, ohne daß, wie eigentlich zu erwarten wäre, der die Urkunde schreibende Skriniar oder gar der ausstellende Datar einen für uns erkennbaren Einfluß ausgeübt hätten" (425). Hier bestätigt sich der Aussagewert der von K. bevorzugten philologisch-historischen Methode, die als Verursacher des häufig volkssprachlich beeinflußten Lateins in den Urkunden eben nicht verschiedene Notare, sondern die Empfänger verantwortlich zu machen vermag. "Der Anteil der päpstlichen Kanzlei am Urkundendiktat beschränkte sich hingegen sehr häufig auf die formalen Anfangs- und Schlußtteile der jeweiligen Privilegien, also auf diejenigen Urkundenabschnitte, die ’empfängerneutral’ waren" (427). Revidiert werden muß daher auch die ältere Auffassung, der Liber Diurnus sei in der Papstkanzlei zur Urkundenstilisierung herangezogen worden (vgl. 312-423). Benutzt wurden dessen formalrechtliche Partien, so daß man freilich dessen Bedeutung "für die praktische Arbeit der päpstlichen Kanzlei im 10. und beginnenden 11. Jh. nicht zu gering veranschlagen" darf (387).

Insgesamt gesehen hat Kortüm mit seinem beeindruckenden Werk, das vom Verlag sorgfältig ediert worden ist (im Inhaltsverzeichnis S. 7 fehlt die Seitenangabe ’250’; S. 19 ist der erste Satz verderbt; 419 ist die letzte Zeile falsch gesetzt) und durch mehrere Register erschlossen wird (449-464), einen wichtigen Beitrag zur Diplomatik der frühen Papsturkunde geleistet.