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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

51–54

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kandler, Karl-Hermann

Titel/Untertitel:

Nikolaus von Kues. Denker zwischen Mittelalter und Neuzeit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 171 S. 8°. Kart. DM 38,­. ISBN 3-525-55430-3.

Rezensent:

Fritz Hoffmann

Das Buch von Kandler ist eine gute Einführung in das Leben und Wirken des Nikolaus Cusanus aus der Sicht eines lutherisch-reformierten Theologen, die sich an einen weiteren Leserkreis richtet. Auf 135 S. gibt K. eine Gesamtdarstellung, die nicht nur der Lebensgeschichte dieses großen Philosophen, Theologen und Kirchenmannes nachgeht, sondern auch in die Leitgedanken seiner Lehre einführen will. Darüber hinaus werden die Probleme und Ergebnisse der neuzeitlichen Cusanus-Forschung und -Kritik einbezogen. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Offenheit K. sich mit der vorgelegten Materie vertraut gemacht hat und wie er diese dem Leser mitzuteilen versteht. An manchen Stellen meldet sich zwar profiliert seine eigene theologische Blickrichtung, doch bleibt K. einer ökumenischen Grundhaltung verbunden. K. hat seine Arbeit in vier Abschnitte eingeteilt. Der erste Abschnitt behandelt "Leben und Wirken" (9-54). Der zweite: "Schriften" gibt einen Überblick über die Cusanus-Forschung und die Werke des Cusanus (55-76). Im dritten Teil geht K. der Lehre des Cusanus nach (77-119). Die Gliederung wird dabei mehr vom Interesse des Systematikers an der Lehre des Cusanus bestimmt als von der inneren Entwicklung und Entfaltung cusanischen Denkens. Die Unterabschnitte tragen die Titel: Gotteslehre, Kosmologie, Anthropologie, Christologie-Soteriologie, Rechtfertigung, Gotteskindschaft-Gottesschau, Ekklesiologie.

Diese Einteilung ist sicher hilfreich für die theologische Analyse der Lehre des Cusanus, wobei ihre innere, ureigene Dynamik im Blick bleibt. Der letzte Teil "Wirkungen" (120-135) ist nochmals untergliedert: Wirkungen auf seine Zeitgenossen, Wirkungen in den folgenden Jahrhunderten, Wirkungen auf die heutige Philosophie und Theologie, Anstöße für die heutige Theologie. In einem Anhang werden 426 Anmerkungen untergebracht ­ ein Zeugnis für die Belesenheit des Vf.s in Quellen und Literatur ­ ferner ein Quellen- und Literaturverzeichnis, eine Zeittafel, ein Personen- und Sachregister und ein Nachweis der Bilder, die diesem Band beigegeben sind. K. hat eine gediegene und für die Promulgierung der Cusanusforschung sehr nützliche Arbeit vorgelegt, für die man ihm dankbar sein wird.

Das Leben und Wirken des Cusanus wird gleich im ersten Abschnitt in das kirchliche, gesellschaftliche und politische Umfeld einbezogen. Der Vf. versteht es, die geistige Durchsetzungkraft des Cusanus bei aller Eingebundenheit in die ihn umgebenden Mächte und Gegebenheiten dem Leser aufzuzeigen. Es bleiben freilich bei diesem "Großen der Geistesgeschichte" (so K.) auch Widersprüche zwischen seiner geistigen Leistung, seinem kirchenpolitischen und pastoralen Wirken und in diesem selbst, in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Darf man ihn deshalb als einen "zwiespältigen Menschen" (54) bezeichnen? Dies widerspricht dem Gesamtbild, das K. selbst im liebevollen Eingehen auf Einzelheiten von Cusanus entwirft. Zum Abschluß dieses Teiles ("Leben und Wirken") fallen düstere Schatten auf dieses Bild. "Pfründenwesen", "Nepotismus", "Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender (Hussiten und Muslime)" ­ so wie es dasteht, wird es dem Gesamtbild nicht gerecht. Schade!

Man wünschte sich ein differenzierendes Urteil, z. B. in dem, was K. über den Umgang des Cusanus mit den Pfründen (Benefizien) sagt. K. weist zwar darauf hin, daß Cusanus trotz reicher Einnahmen aus den Pfründen persönlich anspruchslos lebte. Seine Legationsreisen wie die damit oft verbundenen kirchenpolitischen Aufgaben forderten von ihm wirtschaftliche und finanzielle Mittel, die zum beträchtlichen Teil auch aus den Pfründen flossen. Die Pfründe (Beneficium) (1) war nicht nur ein kirchlicher, sondern ein allgemein gebräuchlicher Rechtstitel (Kaiser, Fürsten) zur wirtschaftlichen Ausstattung von Amtsträgern oder dienstpflichtigen Untertanen (Vasallen) für ein Officium. Im Modell verkürzt bedeutet dies die Anbindung einer Amts- oder Dienstpflicht an ein Vermögen, meist Landbesitz, und entspricht germanischer Rechtsvorstellung (erst die Pfründe, dann der Dienst), während im römischen Recht erst das Amt verliehen wurde und die materielle Vergütung an dieses gebunden ist. Rechtsgeschichtlich stammt das Benefizialrecht aus dem merowingischen Königsrecht.

In der Rechtsgeschichte schreibt man der Pfründe, soweit sie nicht mißbraucht wurden, den Vorteil einer relativen Unabhängigkeit des Amtsinhabers gegenüber dem "Vorgesetzten" (der die Pfründe verleiht) zu. (2) Die Inhaber kirchlicher Benefizien konnten sich in ihren Amtspflichten von Angehörigen des "niederen Klerus" vertreten lassen und taten dies auch zu oft ­ zum Schaden der Seelsorge, worauf K. mit Recht hinweist. Wie K. aber auch zeigt, ist Cusanus darin eine rühmliche Ausnahme, wenigstens was seine Predigttätigkeit betrifft. Die Praxis des Benfizialrechtes war sehr unterschiedlich. Im Laufe der Entwicklung war vielerorts der Clericus plebanus auf dem Lande rechtlich in das Beneficium des Inhabers eingebunden. (3) Für die allgemeine Übung des Benefizialrechtes spricht schließlich, daß es sich auch in der evangelischen Kirche bis ins 19. Jh. erhielt. (4) Ich bin auf die Rolle des Beneficiums im Leben des Cusanus etwas ausführlicher eingegangen, weil man daran wie an einem Beispiel die Eingebundenheit des Amtsträgers, aber auch des Theologen in die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen des Mittelalters studieren kann. Hinzugefügt sei, daß man auch bei den Päpsten nach den theologischen und kanonistischen Motiven ihrer Entscheidungen fragen und nicht nur Machtansprüche apostrophieren sollte (36).

Die Eingebundenheit des Bischofs in das gesellschaftliche Umfeld wird besonders brisant, wo K. das Schicksal des Cusanus als Bischof von Brixen schildert (31-36). K. zieht dort kirchengeschichtliche Perspektiven bis in die Zeit nach der Reformation, was das Verhältnis von Bischof und Landesfürst, von kirchlichem und landesherrlichem Regiment betrifft. Sein Optimismus über die Erneuerung des Kirchenregimentes durch reformatorische Kräfte ist verständlich. Doch ist die Frage unausweichlich, ob hier nicht die Tiefe und Variationsbreite eines Problems durch Ideologisierung umgangen wird. Dieses Bedenken ist dem Rez. nach der Lektüre zweier Artikel in der RGG eingekommen, in denen der geschichtlichen Entwicklung bis in die Neuzeit hinein nachgegangen wird. (5) Ich zitiere aus dem zweiten Artikel einen Satz, der das Problem in seiner Doppelschichtigkeit straff zusammenfaßt: "Die reformatorische Lehre hat stets an der Unabhängigkeit christlicher Ordnung von staatlicher Leitung festgehalten, obwohl auch die reformierten Landeskirchen sich dem Kirchenregiment des Fürsten einfügten." (6)

Zum Schluß sei noch ein Wort zu jenen Ausführungen gesagt, die K. im Blick auf die Rechtfertigungslehre des Nikolaus Cusanus macht (99). Zwar dürfe man bei Cusanus eine entfaltete Rechtfertigungslehre nicht erwarten. K. sieht ihn aber doch in der Nähe der reformatorischen Lehre. Cusanus komme oft auf das Thema ’Rechtfertigung’ zu sprechen. Sie "besteht nicht aus uns, sondern aus Christus. Da er alle Fülle ist, erreichen wir in ihm alles, wenn wir ihn haben. Da wir ihn in diesem Leben durch einen geformten Glauben erreichen, können wir nicht anders als duch den Glauben selbst gerechtfertigt werden" (ebd.). K. sieht richtig, daß der Glaube nach Cusanus "durch die einende Liebe vollendet sein muß, nur in der Liebe kann er der größte sein." K. fährt dann fort: "Wenn ich hier richtig sehe, ist damit nicht (oder nur indirekt) die Nächstenliebe, die sich in guten Werken äußert, gemeint. Von guten Werken ist hier überhaupt nicht die Rede. Es ist vielmehr die Liebe zu Christus gemeint, die Liebe, die ihm antwortet, die ihn über alles im Leben setzt..." Dem kann bis zu einem bestimmten Punkt zugestimmt werden. Der Ausdruck "geformter Glaube" bedeutet jedoch mehr, als es die (auch von K. wörtlich wiedergegebene) Übersetzung des Cusanus-Textes sagt. In knappen Worten zusammengefaßt ist damit die Innewohnung Gottes selbst (Anselm von Canterbury: durch den Heiligen Geist (7); Thomas Aq.: durch die Gnade als Geschenk Gottes (8)) gemeint, die uns in einem so geformten Glauben mit Gott verbindet.

"Forma", "formare" ist hier in seiner scholastischen Bedeutung in Ableitung vom griechischen "Morphe-" zu verstehen, womit nicht eine mehr äußerliche Form, sondern eine innerste Wesensgestalt gemeint ist. Gott selbst ist es, der im Gerechtfertigten den Glauben bewirkt und vollendet. In diesem Verständnis steht die "fides formata" in einer wirklichen Analogie zum reformatorischen "sola fide", wenn auch auf anderer Ebene. Doch wenn es schon für Theologen nicht leicht ist, diese sublime Wirklichkeit von Gottes Heilshandeln untereinander ökumenisch nahezubringen, was fordern wir dann vom Laien, wenn wir zu ihm von einem "geformten Glauben" sprechen?

Auch Cusanus hat sich an einen weiteren Hörerkreis gewandt und wohl aus diesem Grunde schon einmal dem besseren Verständnis, aber auch der Bewegung seines Herzens die Feinheit der Distinktion geopfert. Ich meine, daß die Übersetzung von Senger ("vollendeter Glaube" (9)) sich schon im Geiste des Cusanus bewegt. Und wir Theologen dürfen bei diesem Geiste in die Schule gehen, um zu lernen, auch über die Grenzen des eigenen theologischen Entwurfes hinaus zu sehen und zu verstehen ­ ohne ein wenn auch verständliches Ressentiment ebenso wie ohne Verrat an unserer Pflicht vor der uns anvertrauten Offenbarungswahrheit, um deren Erkenntnis freilich auch der Theologe immer wieder ringen muß.

Fussnoten:

(1)Vgl. H. Barion: Beneficium. RGG I (1957), 1036.
(2)Vgl. Georg May: Beneficium, II Geschichte LThK I (1994), 224 f.
(3) Vgl. P. Landau: Beneficium, Kanonisches Recht und Kirchenverfassung. LMA I, 1905 f.
(4) Vgl. Anm. 1 u. 2.
(5) H. Liermann: Bischof, III Im evang. Kirchenrecht, RGG3 I, (1957), 1306-1308. U. Scheuner: Kirchenregiment RGG3 III (1959), 1520-1522.
(6) Vgl. Scheuner, a. a. O., 1522.
(7) Vgl. Anselmus Cant.: I Sent. d. 17.
(8) Vgl. Thomas Aq.: S. th. II II, q. 23, a. 2; dort antwortet Thomas auf die Lehre Anselms; vgl. Anm. 7. Zu dem Ausdruck: ’Caritas forma fidei’ vgl. Thomas Aq.: S. th. II II, q. 4, a. 3.
(9) Vgl. bei K. die Anm. 265, 147.