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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

860–871

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Fischer, Hermann

Titel/Untertitel:

Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken Paul Tillichs*

Der Nachlass Tillichs erweist sich als schier unerschöpfliche Fundgrube - und Erdmann Sturm als dessen kompetenter Sachwalter. In der Reihe der Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken Tillichs hat er bisher die Bände 7 (Frühe Predigten [1909-1918]) und 8 (Vorlesung über Hegel [Frankfurt 1931/32]) und inzwischen die hier anzuzeigenden vier neuen Bände ediert. Seinem bewunderungswürdigen Fleiß verdanken wir in den Bänden 10 und 11 jetzt 80 über beide Bände durchnummerierte und bisher noch nie publizierte Texte, in den Bänden 12 und 13 frühe Berliner Vorlesungen Tillichs. Bei den zunächst zu besprechenden Bänden 10 und 11 handelt es sich überwiegend um Entwürfe und Vorarbeiten zu geplanten Veröffentlichungen und Vorträgen - manchmal nur in skizzenartigen Gliederungen oder knappen Ausführungen zu Papier gebracht-, die aber die Bewegung im Denken Tillichs von 1908-1933 vorzüglich erkennen lassen. Besonders dort, wo diese Versuche zu Publikationen ausgereift sind, ergeben sich spannende und aufschlussreiche Vergleiche. Die Studien sind chronologisch geordnet: Band 10 enthält Konzepte und Entwürfe von 1908-1924/ 25 (= Nr. 1-32), Band 11 Arbeiten von 1924/25 bis zum letzten in Deutschland gehaltenen Vortrag von 1933 (= Nr. 33-80), bevor Tillich in die USA emigriert ist. Die folgende Besprechung kann nur einige ausgewählte Texte vorstellen und muss sich im Übrigen auf eine Gesamtwürdigung der beiden Bände beschränken.

I.: Band 10 wird eröffnet mit dem Entwurf der Examenspredigt Tillichs über 1Kor 3,21-23, in der er vor einer Selbstisolierung der christlichen Gemeinde gegenüber der Welt warnt, weil Gott auch in der Welt wirkt. Es gehört zu seiner Schöpfungsehre, dass er auch den Menschengeist Großes und Wahres hat schaffen lassen (5). Der zweite Text über "Gott und das Absolute bei Schelling" (9-54) stellt eine Vorarbeit zu Tillichs philosophischer und theologischer Dissertation über Schelling dar. Schon hier gliedert er Schellings philosophische Entwicklung in zwei Hauptabschnitte. Die Wendung von der ersten Periode, global als Identitätsphilosophie charakterisiert, zur zweiten vollzieht sich - "zwar nicht ohne Vermittlungen, aber doch deutlich genug" - mit der Freiheitsschrift von 1809. Tillich bezeichnet diese zweite als "die eigentlich religiöse Periode" (12). Jetzt wird mit der Freiheit das irrationale Element, mit dem "Princip des Bösen" (19) das Moment der Differenz philosophisch bedacht. Diese Differenz hat ihren Grund in Gott. Die Freiheitsschrift unterscheidet zwischen Gott, sofern er Grund seiner Existenz ist, und dieser Existenz selbst, versteht Gott also in seiner inneren Dualität, deutet ihn als Prozess. Dementsprechend versteht Schelling Tillich zufolge die Religionsgeschichte als Prozess, durch den Gott sich fortschreitend personalisiert (21). Die Spätphilosophie Schellings ist als Philosophie der Offenbarung ausgerichtet auf die Erklärung des Christentums, das als Tatsache vorausgesetzt wird. Das letzte Ziel der Wissenschaft ist nach Schelling das "absolut Erstaunenswerte", und das ist Christus (vgl. 23). Der zentrale Gedanke der späteren Christologie Tillichs, dass sich Jesus durch sein Leiden und seinen Tod preisgibt an sich als den Christus und durch dieses Opfer seinen Charakter als Christus bestätigt (vgl. Syst. Theol. II, 124 f.) findet sich ansatzweise schon bei Schelling (vgl. 45).

Auch mit dem folgenden Text bewegt sich Tillich im Umfeld des deutschen Idealismus (55-62). Der Herausgeber vermutet wohl zu Recht, dass es sich bei diesem Text ohne Überschrift um Tillichs Vortrag über "Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte" handelt, den er aus Anlass seiner Promotion zum Dr. phil. an der Universität Breslau gehalten hat. Tillich skizziert Fichtes Freiheitsbegriff auf dem Hintergrund der Kantischen Problemstellung, setzt ihn zu Schellings Freiheitsbegriff in Beziehung und leitet zur damaligen philosophischen Debattenlage über. Mit den konzeptionellen Erwägungen des jungen Vikars über die im "Konfirmandenunterricht" zu vermittelnde christliche Substanz wird gleich um mehrere Stufen das Niveau überboten, auf dem sich gegenwärtig - in der Regel jedenfalls - der Konfirmandenunterricht bewegt (63-74). Zwei Beiträge über "Die Grundlage des gegenwärtigen Denkens" (75-84) und über "Das Problem der Geschichte" (85-100) vermitteln einen Eindruck von den Vorstellungen und Zielen, die Tillich mit seinen apologetischen Vorträgen in Berlin 1912/13 verfolgt hat. Er meint (75): "Wer den Schlüssel der religiösen Fragestellung hat, dem tun sich die Pforten zu dem innersten Leben des Gedankens auf, die dem profanen, unreligiösen Blick für immer verschlossen bleiben". - Die Erwägungen über das Problem der Theodizee, in zwei Versionen 1915/16 niedergeschrieben (101- 113), waren möglicherweise als Probevorlesung für das Habilitationsverfahren 1916 in Halle gedacht. Tatsächlich hat Tillich dann aber über den "Begriff des christlichen Volkes" vorgetragen (114-126).

Die umfangreichste und wohl auch wichtigste Abhandlung des Bandes trägt den Titel "Rechtfertigung und Zweifel" (128- 230). Der Herausgeber datiert diese in zwei Versionen überlieferte Studie auf das Jahr 1919. Die Bedeutung der Thematik wird dadurch unterstrichen, dass Tillich sie 1924 erneut aufnimmt (433-453), wiederum in zwei Versionen und dieses Mal stark übereinstimmend mit dem im gleichen Jahr und unter gleichem Titel publizierten Vortrag. Die erste Bearbeitung des Themas 1919 ist in einer handschriftlichen Ausarbeitung und in einem 45 Seiten umfassenden Typoskript erhalten. Tillich setzt ein mit der absoluten Paradoxie der Rechtfertigung und bestimmt das "absolute Paradox als Princip der Theologie" (129). Anders als der Katholizismus hat der Protestantismus die Subjektivität in sein theologisches Prinzip integriert und sich damit einerseits einer Zwiespältigkeit ausgesetzt (134); andererseits eröffnet sich ihm damit die Möglichkeit, die absolute Paradoxie der Rechtfertigung nicht nur zum theologischen Prinzip eines Systems auszuarbeiten, das der Subjektivität Rechnung trägt, sondern sie zugleich zum religiösen Prinzip einer Kulturentwicklung aufzubauen, die das Moment der kritischen Negativität und des Zweifels ins Unendliche einschließt (135 f.). Der paradoxale Charakter der Rechtfertigung bestimmt sich durch das absolute Nein und das absolute Ja über den Menschen als eines einheitlichen auf den empirischen Menschen gerichteten Aktes Gottes, "und die Bejahung dieses Urteils, die Anerkennung sowohl des Nein als auch des Ja oder vielmehr der Einheit beider als göttliches Urteil über mich", ist der Akt des Glaubens (141 f.). Tillich geht über die reformatorische Position, die die Rechtfertigung auf die Heilsgewissheit bezog und eingrenzte, hinaus, indem er den intellektuell ausgerichteten Zweifel in das Rechtfertigungsgeschehen einbezieht. Zweifel bedeutet Verdichtung von Subjektivität. "Im Zweifel ist die Subjektivität rein aktualisiert, sie hat das Objekt verloren und noch kein neues gefunden; sie ist ganz in sich selbst" (144). Der Zweifel lässt sich nicht überwinden; alle Versuche in diese Richtung verkennen das Wesen des Zweifels. "Die Wahrheitsgewißheit, die auf reale Überwindung des Zweifels gegründet ist, bleibt ins Unendliche relativ, d. h. sie bleibt Ungewißheit, wie die Heilsgewißheit, die auf reale Überwindung des Schuldbewußtseins gegründet ist, ins Unendliche relativ, d. h. Heilsungewißheit bleiben muß." (144) Der Zweifel darf nicht, wie in der Tradition geschehen, als Gegenstand des Schuldbewusstseins gedeutet werden, sondern gehört in die "Sphäre des Wahrheitsbewusstseins". "Der Zweifel als Heilsungewißheit bezieht sich auf die Gesinnung Gottes, der Zweifel als Wahrheitsungewißheit auf die Existenz Gottes" (145). In Auseinandersetzung mit den Aufstellungen Karl Heims betont Tillich, dass die Religion dem Zweifler das gute Gewissen lassen und ihm doch die Möglichkeit des Glaubens geben muss (149). Der Zweifel kann nicht überwunden, es kann aber ein rettender Ausweg eröffnet werden.

Im Zusammenhang dieser Erwägungen findet sich - wohl erstmals - der später (1952) in der Schrift "Der Mut zum Sein" entwickelte Gedanke eines "Gottes über Gott". In einer zunächst halsbrecherisch anmutenden Gedankenführung behauptet Tillich, dass gegen die Not des Zweifels nur der Glaube hilft, allerdings ein Glaube, "der nun keinen von den Inhalten mehr haben kann, auf die sich der Zweifel richtet, sondern der über die gesamte Sphäre des Zweifels hinaus sich zu dem erhebt, in dem der Gegensatz von Zweifelndem und Bezweifeltem aufgehoben ist und das in jedem Zweifel, je unbedingter er ist, desto deutlicher vorausgesetzt ist: Das Unbedingte selbst" (168). In der Sphäre der Erkenntnis treibt die Dialektik des Zweifels "zu einem Gott über Gott, zu einem Gott des Zweiflers, ja des Atheisten. In diesem Begriff Gott dessen, der an Gott zweifelt, Gott, der den Zweifler an Gott rechtfertigen kann, konzentriert sich die gesamte Problematik" (169). Der Begriff "Gott über Gott" steht für das Unbedingte, und dieses Unbedingte rechtfertigt, auch im Blick auf den Zweifel. Tillich interpretiert das Unbedingte als den Sinn schlechthin, das Unbedingte ist Ausdruck dafür, "daß überhaupt ein Sinn ist, die Setzung der Sinnsphäre. Indem das Ich das Unbedingte bejaht, bejaht es zugleich sich selbst als sinnvoll, erhält es erst einen Sinn. Ein Zweifel am Sinn schlechthin aber ist nicht möglich, da der Zweifel die Bejahung der Sinnsphäre bereits voraussetzt" (169f.). Rechtfertigung des Zweiflers bedeutet, dass ihm in unbedingter Verneinung und unbedingter Bejahung auf paradoxe Weise der Sinn seiner Existenz erschlossen, "offenbart" wird. Der Unterschied zwischen der Rechtfertigung des Sünders und der des Zweiflers besteht in der "radikalen Negation der Sünde und relativen Bejahung des Zweifels" (175). Die als absolut paradox gedeutete und auf den Sinnbegriff ausgerichtete Rechtfertigung wirkt als Ferment weiterer Sinnerlebnisse (176), fließt in den Gesamtprozess des geistigen Lebens ein und führt zur kulturellen Gestaltwerdung des religiösen Prinzips. "Damit ist die Grundlage einer Theologie der Kultur gelegt, die die Verwirklichung des absoluten Paradox in der Teleologie der Kulturschöpfungen sieht" (182). Am Ende der Ausführungen verweist Tillich auf seinen demnächst (1919) erscheinenden Aufsatz "Über die Idee einer Theologie der Kultur" (184), in dem der hier als letzte Konsequenz nur noch angedeutete Problemkreis von "Rechtfertigung und Zweifel" entfaltet wird. Umgekehrt zeigen die hier kurz vorgestellten Argumentationslinien die Solidität des Fundaments, auf dem die dortigen Aufstellungen aufruhen. In anderen Beiträgen äußert sich Tillich ausführlicher zum Verhältnis von Religion und Kultur. In der letzten Studie des Bandes (454-466) findet sich bereits die bekannte Formel: "Die Religion ist der Gehalt der Kultur, die Kultur die Form der Religion" (458).

Wirft man von hier einen Blick auf die Ausarbeitung des Themas "Rechtfertigung und Zweifel" von 1924, fallen einige Unterschiede ins Auge. Die Argumentation wird verknappt, die 1919 strikt systematisch aufgebaute Gedankenführung auf die konkrete geistes- und theologiegeschichtliche Lage bezogen und durch die Auseinandersetzung mit der damaligen evangelischen Theologie, die sich 1919 auf Karl Heim konzentrierte, angereichert. Vor allem aber wird das Verhältnis von Rechtfertigung und Zweifel nun in den neuen systematischen Zusammenhang von Grund- bzw. Uroffenbarung (vgl. dazu 448 f.) und Heilsoffenbarung eingebettet, verbunden mit entsprechenden Abgrenzungen gegenüber der Dialektischen Theologie. Tillich betont jetzt sehr viel stärker die gegenüber der Reformation fundamental veränderte Situation des gegenwärtigen Protestantismus und fragt nach der Bedeutung der Rechtfertigung, die in der Neuzeit durch den Zweifel an ihren Voraussetzungen bestimmt ist (433). Im Zuge einer recht großräumig angelegten Rekonstruktion der geschichtlichen Entwicklung versucht Tillich verständlich zu machen, dass der Zweifel aus dem protestantischen Prinzip selbst hervorgegangen ist (434-438). Die religiöse Unmittelbarkeit zerbricht, gleichzeitig gerät die Vergegenständlichung Gottes, etwa in Gestalt der Gottesbeweise, in die Krise. Aber "die Wunde vom Unbedingten her" bleibt (438). Der Zweifel wäre als Sünde missverstanden, weil er "aus dem gleichen Ernst im Theoretischen hervorgeht wie das Schuldgefühl im Praktischen" (439). Im Zweifel schafft sich der "Kampf um den Lebenssinn" seinen neuzeitspezifischen Ausdruck. Aber die Wahrheit als die Unbedingtheit des Göttlichen lässt sich nicht durch menschliche Anstrengung erreichen, sie verwirklicht sich als Durchbruch, als Gnade. Die Wahrheit, nach der der Zweifler in seinem Kampf um Lebenssinn ringt, ist Voraussetzung seines Zweifelns und Suchens, nicht das Ziel. Es gehört zum paradoxen Wesen der Wahrheit, dass sie das Gericht an der Verzweiflung ausübt und damit Lebenssinn erschließt (440). Diese "Offenbarung des Grundes" als "Durchbruch der Fülle, der Gnade, des Sinnes", die in Bezug auf Inhalte völlig indifferent ist, muss in ihrem Recht gegenüber einer christologisch isolierten Offenbarung bewusst gemacht werden. Die Christusoffenbarung "setzt eine breite Basis der menschheitlichen Religion und der in ihr sich vollziehenden Offenbarung des göttlichen Grundes voraus ... Die Heilsoffenbarung ohne Grundoffenbarung schwebt in der Luft" (441).

Tillich hat mit seinen Erwägungen über "Rechtfertigung und Zweifel" einen kühnen, auf die Herausforderungen des neuzeitlichen Wahrheits- und Wirklichkeitsbewusstseins antwortenden Entwurf vorgelegt. Gegenüber einer nur eine Generation zurückliegenden, durch Dilthey und Troeltsch geprägten Bewusstseinslage mit weit gehendem Unverständnis für die Bedeutung der Rechtfertigungslehre rückt Tillich sie - mit seinem Lehrer Martin Kähler - wieder ins Zentrum der theologischen Debatte, jetzt aber in einer Fassung, die das "reformatorische Durchbruchsprincip auch als Durchbruchsprincip unserer Geisteslage" (450) wahrnimmt. Dieser Textkomplex stellt nach meinem Urteil das gewichtigste und auch spannnendste Stück das Bandes dar und legt das Fundament, auf dem dann später die paradoxen Grundstrukturen der "Systematische Theologie" errichtet werden.

Daneben finden sich weitere interessante und auch dichte Analysen, etwa über "Schleiermacher und die Erfassung des Göttlichen im Gefühl" (375-386) oder über "Hegel und die Erfassung des Göttlichen im Denken" (387-403). In einer Vielzahl von Texten erörtert Tillich - manchmal nur in Gestalt von Gliederungen oder Stichworten - die ihn damals bewegenden Probleme von "Christentum und Sozialismus" (vgl. dazu Nr. 10, 12, 13, 19, 21, 26, 32) oder das Verhältnis von Kultur und Religion (Nr. 16, 18, 20). Ein Versehen ist S. 130, Anm. 3 unterlaufen: Troeltschs Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" ist in zweiter Aufl. 1909, nicht 1906 erschienen.

II.: Ähnlich bedeutsam nach Gewicht und Umfang wie die Studien zu "Rechtfertigung und Zweifel" im I. Teil der Nachlasstexte ist im II. Teil, also in Band 11, die 1927/28 geschriebene und vermutlich als Publikation gedachte, aber auch für Vorlesungen verwendete Abhandlung "Das System der religiösen Erkenntnis" (79-174). Auch diese Arbeit liegt in zwei Versionen vor (79-116.116-174) und weist sachlich und terminologisch viele Berührungspunkte mit der Marburger Dogmatik-Vorlesung Tillichs von 1925 auf. In der ersten Version führt Tillich in den Anmerkungen eine für ihn sonst ungewohnt ausführliche Auseinandersetzung mit anderen theologischen Konzeptionen, vor allem mit derjenigen Gogartens.

Tillich expliziert den Religionsbegriff durch den Sinnbegriff. "Religion ist das Leben des Sinnes, in dem der Sinn um den Abgrund weiß". Dementsprechend ist religiöse Erkenntnis die "Erkenntnis der Bedrohung, die im Leben des Sinnes steckt, und ist Erkenntnis der Bedrohtheit aller Sicherungen, die im Leben des Sinnes verwirklicht werden, und ist Erkenntnis des gemeinten und nicht erreichten Ortes, an dem die Bedrohung des Sinnes aufgehoben ist" (84). Dem Erleben des Sinnes wohnt das Wissen um die mögliche Erschütterung dieses Sinnes inne. Jede Erkenntnis, die auf Sicherung des Sinnes zielt, hat Tillich zufolge religiösen Charakter. Das Leben des Sinnes ist bedroht durch die Freiheit, durch die Setzung von Nicht-Sein, "und darum gibt es kein in der letzten Tiefe daseinsberuhigtes Sinnleben und kein Sinnleben ohne daseinserschütterte Erkenntnis" (85). Dieser weite Sinn von Religion und religiöser Erkenntnis wird in der Abhandlung näher entfaltet. Während das "System" die religiösen Erkenntnisinhalte nach ihrem Inhalt zur Aussage bringt, konzentriert sich die "Grundlegung" auf die Beschreibung ihres Charakters.

Dieser gewichtigen Studie benachbart ist Tillichs Aufsatz "Die Idee der Offenbarung" von 1927, den er im gleichen Jahr in gedrängterer Form publiziert hat. Hier wird das Verhältnis von Philosophie bzw. Religionsphilosophie und Theologie etwas anders beschrieben. Die Religionsphilosophie thematisiert die Offenbarung am Orte des Menschen und versucht sie aus seinem Wesen, seinem Seins- und Sinnverständnis heraus zu verstehen, die Theologie geht umgekehrt vom Standpunkt der geschehenen Offenbarung aus und spricht von dem, was dem Glaubenden offenbart ist. Aber beide Betrachtungsweisen, die material theologische und die formal religionsphilosophische, gehören zusammen, insofern die Offenbarung einmal als Voraussetzung, zum anderen als Offenbarungsdurchbruch in einem allgemeinen Sinne in den Blick rückt. "Wo nur die eine oder die andere Seite in Betracht gezogen wird, wird entweder die Verwirklichung im menschheitlichen Proceß nicht aufgefaßt, damit aber die Aufnahme des göttlichen Handelns verkürzt, oder es wird die Seite des göttlichen Handelns nicht aufgefaßt und die Offenbarung in einen menschheitlichen Proceß aufgelöst" (41). Die spätere Korrelations-Methode kündigt sich an (vgl. auch 169 f.). Der cantus firmus der Ausführungen ist das pro me bzw. das pro nobis des Offenbarungsgeschehens. Das theologische Grundaxiom, dass Religion nur das sein kann, was uns unbedingt angeht, wird hier verstärkt zu der Aussage: "Das Unbedingte ist nur als das uns unbedingt Angehende in Wahrheit erfasst" (45; vgl. auch 124). Dabei wird das Offenbarungsgeschehen in seiner Dialektik von Offenbar-sein und Verborgen-sein herausgearbeitet. Das Unbedingt-Verborgene als das niemals gedanklich oder erlebnismäßig zu Erschließende ist das Unbedingt-Offenbare, aber doch ohne aufzuhören, das Unbedingt-Verborgene zu sein. Das christologische Paradox lässt sich nicht in eine allgemein erzwingbare Erkenntnis überführen, bleibt als offenbarte Wahrheit immer zugleich Mysterium. Durchbruch, Erschütterung und Umwendung sind die zentralen Kategorien, mittels derer Tillich das Offenbarungsgeschehen interpretiert.

Eingeleitet wird der Band mit einer Problemskizze über "Die gegenwärtige Lage des Protestantismus" (1-5), in der Tillich das Element des Protestes zurückführt auf das Kreuz. Das Kreuz als das zentrale Symbol des Kampfes gegen die Religion, insofern sie das Unbedingte zum Bedingten verfälscht, bestimmt den Protestantismus seinem Wesen nach. "Protestantismus ist Ja zum Kreuz, nicht zur Religion ... Darum ist Protestantismus immer zugleich Kampf gegen sich selbst, Verneinung des eigenen Wesens, Verneinung der Endlichkeit jeder Form" (2). Diesen Gedanken weitet Tillich wenig später auf das Christentum aus. "Christliche Offenbarung ist Offenbarung gegen das Christentum" (51). Dem kritisch-negativen Religionsbegriff stellt Tillich den positiven gegenüber. Das protestantische Prinzip der Rechtfertigung ist "die Wahrheit der Religion schlechthin", insofern Religion von dem lebt, wodurch sie gerichtet wird. Wahre Religion bedeutet durch das Gericht hindurch Gottes gnädige Annahme des Unannehmbaren. Das Symbol des Kreuzes verweist auf das Symbol der neuen Kreatur. Als gewagte geschichtstheologische These formuliert: "Der historische Protestantismus ist aus der radikalen exklusiven Erfassung des protestantischen Princips geboren" (3). Davon ist die Wirklichkeit des Protestantismus zu unterscheiden, in die sich immer wieder die "Religion" als Unbedingtsetzung des Bedingten einschleicht.

Einige Studien, die sich neben dem schon genannten Beitrag über "Die religiöse Lage des Protestantismus" explizit auf den damaligen theologischen Diskurs und die religiöse Situation beziehen (Nr. 39, 46, 69, 73), lassen die Konturen der Problemerfassung und -bearbeitung Tillichs noch deutlicher erkennen. Aufschlussreich ist auch das in den Band aufgenommene Gutachten Tillichs über Theodor Wiesengrund-Adornos Habilitationsschrift "Die Konstruktion des Ästhetischen bei Kierkegaard" (337-346).

Tillichs 1932 abgeschlossene und noch Ende des Jahres ausgelieferte Schrift "Die sozialistische Entscheidung" geht auf einen im Oktober 1931 in Berlin gehaltenen Vortrag zurück, der hier dokumentiert wird (400-448), nach der Studie "Das System der religiösen Erkenntnis" der umfangreichste Text des Bandes. Er ist mit weiten Teilen wörtlich in die spätere Veröffentlichung eingegangen. Im Vortrag selbst wird der "Geist des Sozialismus" weitgehend nur in der Perspektive des Kampfes gegen ihn verdeutlicht, wie er sich im Geist der politischen Romantik und dem der bürgerlichen Gesellschaft manifestiert. Die Bearbeitung des Themas ist also unvollständig. Erst "Die sozialistische Entscheidung" bringt die Argumentation zum Abschluss, indem sie den Geist bzw. "Das Prinzip des Sozialismus" aufdeckt und seine inneren Widersprüche sowie die Auflösung dieser Antinomien herausarbeitet.

Die Bände 10 und 11 dokumentieren auf eindrückliche Weise Tillichs denkerischen Weg von seinen Anfängen bis zur erzwungenen Emigration in die USA. Sie faszinieren durch die Lebendigkeit der im Entstehen begriffenen Konzeptionen. Gerade die manchmal nur fragmentarisch skizzierten Gedanken und die - zuweilen ungeschützte - Pointierung der Urteile machen den Reiz dieser Studien aus. Die späteren Themen und die Grundlinien des Systems sind hier schon vorgezeichnet: die zentrale Bedeutung der Rechtfertigungslehre, der Paradox-Gedanke, die Methode der Korrelation. Das Charakteristische fast aller Beiträge besteht darin, dass Tillich zunächst die prinzipiellen Fragen klärt und erst dann die durch das jeweilige Thema erforderten konkreten Probleme bearbeitet. Immer wieder gelingt es ihm, durch produktive Leitbegriffe und Gegensatzbestimmungen komplizierte und vielschichtige Materialien zu ordnen. Der Leser behält stets die Übersicht. Natürlich bleiben Fragen. Auch wünschte man sich des Öfteren eine Präzisierung der Lösungsvorschläge und eine Ausführung des nur Angedeuteten. Aber solche Desiderata verblassen angesichts des Reichtums der in den beiden Bänden ausgebreiteten Fragestellungen, Theorieansätze und Perspektiven, die ein imponierendes Bild von der schier unerschöpflichen systematischen Leistungskraft Tillichs vermitteln und der evangelischen Theologie inspirierende Möglichkeiten für ihre weitere Arbeit eröffnen.

III.: "Daß der Ungerechte gerecht ist und der Sünder heilig, nicht durch ein Tun des Menschen, sondern durch eine Tat Gottes, nämlich das Urteil: Ich erkläre dich für gerecht, ich vergebe dir die Sünden, dieses Grunderlebnis der Reformation ist der Kern unseres ganzen Gedankenganges." Diese Aussage, eine Beschreibung der in der paulinisch-lutherischen Rechtfertigungslehre entdeckten religiösen Grund-Paradoxie des christlichen Glaubens, findet sich in Tillichs Vorlesung über "Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart" (48). Mit ihr eröffnet er nach der Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg im Sommersemester 1919 seine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität. Der Satz bekundet die Übereinstimmung Tillichs mit dem Kerngedanken reformatorischer Theologie, wie sie ihm durch seinen Lehrer Martin Kähler vermittelt worden ist. Die Entfaltung der Paradoxie erfolgt allerdings in einem Kontext, der sich gegenüber seinem ursprünglichen realen und gedanklichen Zusammenhang fundamental verändert hat.

Der 12. Band der Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken Paul Tillichs enthält neben dieser an erster Stelle abgedruckten Vorlesung (27-213) noch drei weitere: "Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft" (259-295), "Religion und Kultur. Die Stellung der Religion im Geistesleben" (297-332) und "Religionsphilosophie" (333- 565). Diese Vorlesungen, die der Herausgeber in einer instruktiven historischen Einleitung (1-26) näher beschreibt, vermitteln einen vorzüglichen Einblick in die Gedankenwelt des jungen Privatdozenten und lassen die späteren Publikationen Tillichs bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgen. Schon der Umfang der Vorlesungen sagt etwas über ihr Gewicht aus. In den beiden mittleren Vorlesungen mit ca. 35 Seiten wird die jeweilige Thematik nur knapp angerissen. In der Vorlesung über Theologische Enzyklopädie zeichnet Tillich erste Linien eines Systems der Wissenschaften, um Religion und Theologie ihren Ort in diesem System anzuweisen. Er gelangt aber, jedenfalls dem Manuskript zufolge, über Andeutungen nicht hinaus. Ziel der Vorlesung über "Religion und Kultur" ist es, angesichts des faktischen Auseinanderbrechens beider Phänomene und der durchgängigen Profanisierung des kulturellen Lebens die religiöse Dimension der Kultur aufzudecken und das Verhältnis der spezifisch religiösen Kultur zur allgemeinen Kultur sichtbar zu machen. Ansatzweise werden dafür die Kategorien "Form" und "Gehalt" ins Spiel gebracht, aber auch hier bleibt vieles skizzenhaft.

Ganz anders verhält es sich mit den beiden großen Vorlesungen, obwohl Tillich sie nicht bis zum geplanten Abschluss hat führen können. In ihnen formuliert er klare Thesen und entwickelt ein kulturtheologisches Programm, das er dann in seinen späteren Schriften ausführt. Sie zeigen überdies, wie Tillich bereits in seinen Anfängen die Grenzen der traditionellen Fachdisziplinen überschreitet und die theologische Perspektive weit öffnet für Probleme der Philosophie, der Soziologie, der Kultur, der Politik und anderer Wissenschaften. Die in der jüngeren Vergangenheit mehr beschworene als wirklich eingelöste Interdisziplinarität wird von Tillich nicht nur programmatisch gefordert, sondern auch praktiziert. Er befasst sich in dieser ersten Vorlesung nicht mit strikt theologischen, sondern mit kulturtheologischen Fragestellungen und bezieht sich wiederholt und pointiert auf E. Troeltschs Monographie über "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (z. B. 30), mit der er seinerseits die dogmengeschichtliche Fragestellung zur soziologischen und kulturgeschichtlichen ausgeweitet hatte. In der letzten Vorlesung über "Religionsphilosophie" bahnt sich Tillich den Weg zur Bestimmung des Religionsbegriffs über eine in Grundzügen ausgearbeitete Theorie der Wissenschaften, mit der er an die Erwägungen in der Enzyklopädie-Vorlesung anknüpft und sie fortbildet. Der weite gedankliche Horizont, die konzeptionelle Phantasie und die systematische Kraft der Problembearbeitung verleihen diesen beiden großen Vorlesungen ihren besonderen Rang.

In der ersten Vorlesung geht es Tillich unter kulturtheologischer Perspektive um eine theoretische Klärung der Gesellschaftsprobleme der Gegenwart und um ihre praktisch-politische Bewältigung. Dabei wird in ersten Umrissen das Pro- gramm eines religiösen Sozialismus erkennbar, obwohl das Stichwort noch nicht fällt. Für die Verhältnisbestimmung von Christentum und Gesellschaft setzt Tillich mit einer Klärung des Begriffs "Christentum" ein. Ihm liegt daran, die mit diesem Ausdruck verbundenen Assoziationen von einer historisch klar fixierbaren Größe in eine elastische Vorstellung zu überführen. Deshalb spricht er - in Anlehnung an Troeltschs Darlegungen zum Begriff "Wesen des Christentums" - vom christlichen bzw. theologischen Prinzip. Dieses theologische Prinzip wird als die Einheit dreier Momente, eines absoluten, eines relativen und eines unendlichen verstanden, für die ihrerseits eine innere Polarität charakteristisch ist. Das absolute Moment des theologischen Prinzips besteht im Erlebnis schlechthinniger Negativität alles Seienden, das aber von der Erfahrung schlechthinniger Bejahung alles Seienden umfangen und getragen ist. Diese paradoxe Einheit des schlechthin Negativen und schlechthin Positiven im religiösen Erlebnis hat ihren tiefsten Ausdruck in der "paulinisch-protestantischen Rechtfertigungslehre" gefunden (47 f.). Durch die Vergegenständlichung dieses Erlebnisses in religiösen Symbolen bricht die paradoxe Einheit in das Gegensatzverhältnis von "heilig" und "profan" auseinander. Das macht nach Tillich das relative Element des theologischen Prinzips aus. Das unendliche Moment schließlich führt zur Überwindung dieses Gegensatzes und befähigt dazu, alles Profane in seiner heiligen Qualität wahrzunehmen und es entsprechend zu gestalten. "Die Gesellschaft soll Gottesgemeinde, und der Staat Kirche werden" (50). Das solchermaßen präzisierte theologische Prinzip wird auf den Begriff der Gesellschaft bezogen, die Tillich als den Inbegriff aller einzelnen Gesellschaften, als "Inbegriff aller zwischen menschlichen Individuen vorkommenden Wechselbeziehungen" interpretiert (53).

Damit sind die Rahmenbedingungen für eine Erörterung der politischen Gestaltungsformen der Gesellschaft abgeklärt. In einem ersten Teil thematisiert Tillich das demokratische Ideal unter kulturtheologischem Gesichtspunkt (112-148), in einem weiteren das konservative (149-188), um in einem letzten Teil das theoretisch-anarchistische Ideal vorzustellen (189-213). Dabei wird jeweils nach dem Formal- und Materialprinzip gefragt und das komplexe Gefüge auf bestimmte theoretische Grundelemente reduziert. Tillichs Sympathie gilt - auf den ersten Blick irritierend - dem "anarchistischen" Ideal, das er allerdings als "föderales" spezifiziert und das er, abgrenzend und verschränkend, auf die anderen beiden Ideale bezieht. Politisch gewollt ist der Aufbau kleiner gesellschaftlicher Gruppen in freier Assoziation. Vom Konservativismus scheidet den Anarchismus/Föderalismus der Machtgedanke und das Prinzip der Autorität, von der Demokratie das Verständnis des Menschen als eines rational atomistischen Einzelwesens. Der "Anarchismus" will - darin dem Konservativismus angenähert - die Stärkung der Gemeinschaft. Dieser Aspekt begründet die terminologische Umpolung vom Begriff "Anarchismus" zu dem des "Föderalismus". Tillich interpretiert Gustav Landauers "Aufruf zum Sozialismus" (1911) als Aufruf zur Gemeinschaft und sieht "in einem religiös fundamentierten Föderalismus" sein politisches Ziel (199). Überraschend bleibt allerdings, wie wenig Tillich, jedenfalls dem Manuskript zufolge, auf die einschneidenden politischen Ereignisse des Sommers 1919 wie etwa den Abschluss des Friedensvertrages von Versailles eingeht. Die Konkretion tritt hinter der Theorie zurück.

Die andere große, im Sommersemester 1920 gehaltene Vorlesung über "Religionsphilosophie" stellt die Keimzelle gleich zweier späterer Publikationen dar, des wissenschaftstheoretischen Entwurfs "Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden" (1923) und der "Religionsphilosophie" von 1925. In einer Einleitung (333-367) analysiert Tillich den Begriff der Religionsphilosophie und gibt einen Überblick über die Epochen dieser Disziplin. Religionsphilosophie ist weder spekulative Theologie noch empirische Religionswissenschaft, sondern hat über die Funktion der Religion für den Aufbau des Bewusstseins und über ihren Ort im Geistesleben aufzuklären. Das eigentliche Corpus der Vorlesung gliedert sich in zwei Hauptteile, von denen der erste das Wesen der Religion zum Gegenstand hat. Tillich klärt zunächst die methodischen Fragen zur Bestimmung des Religionsbegriffes (367-399). Als Ziel strebt er die Verbindung der kritischen mit einer intuitiven, der rationalen mit einer irrationalen Methode an und grenzt sie gegen eine supranaturale, spekulative oder empiristische Vorgehensweise ab. Mittels der kritisch-intuitiven Methode wird Religion als Funktion unbedingter Realitätsbeziehung gedeutet, die zur Konstitution der Erscheinungswelt und des Bewusstseins notwendig ist (405). Das Unbedingte ist Voraussetzung des Bedingten, genauer: "das unbedingte Realitätserlebnis ist Voraussetzung der Sinnmöglichkeit des Bedingten, der Erscheinungswelt. Ohne eine unbedingte Realitätsbeziehung würde das Denken sinnlos sein" (403). In Übereinstimmung mit Rudolf Otto sieht Tillich das Unbedingtheitserlebnis der Religion durch die Doppelheit von Zurückstoßendem und Anziehendem, von Erschütterung und Beseligung charakterisiert.

Das Erlebnis unbedingter Realität bzw. des absoluten Gehaltes ist immer religiös, auch wenn es sich nicht immer in spezifisch religiöser Weise äußert. Der gesamte Natur- und Geistesprozess bringt nach Tillich den absoluten Gehalt zur Existenz, aber hier wird er nur in der Form realisiert und kommt nicht als religiöser zum Bewusstsein (417). Mit den Kategorien "Form" und "Gehalt" beschreibt er das dialektische Verhältnis von Religion und Kultur. In der Kultur wird der absolute Gehalt geformt, Kulturwirklichkeit ist geradezu Formwirklichkeit (417). In der Religion hingegen liegt alles am Gehalt. In Vorwegnahme der späteren Formel, nach der die Kultur die Ausdrucksform der Religion und die Religion der Inhalt der Kultur ist, heißt es hier: In der Kultur ist "die Form gewissermaßen das, worin der Gehalt seine Ruhe findet", in der Religion ist "die Form das, wo das Gehaltserlebnis hindurchbrechen muß, um zum Gehalt selbst zu kommen" (419). Diese Unterscheidung von Form und Gehalt, grundlegend für die formal-kategoriale Bestimmung von Religion, dient Tillich zugleich als Kriterium für die geschichtsphilosophische Analyse der Religion (440-532). Die Durchmusterung des - weithin aus der Sekundärliteratur geschöpften - religionsgeschichtlichen Materials läuft auf eine komplizierte Typologie der Religionsformen zu (vgl. das Diagramm 455). Der zweite Hauptteil, der die spezifisch religiöse Kultur mit ihren Kategorien und das Verhältnis von Religion und Kultur zum Gegenstand haben sollte, ist nur noch stichwortartig angedeutet (533-565).

An diesen Vorlesungen Tillichs besticht die Kraft systematischer Gedankenführung und Urteilsbildung. Souverän wird mit distinkten Begriffen, Unterscheidungen, Gegensatz-Bestimmungen, konstruktiven Schematismen und Einteilungsprinzipien gearbeitet. Damit gelingen Tillich befreiende und überraschende Durchblicke durch die kulturgeschichtlichen Bildungen in Religion, Theologie, Philosophie, Geschichte und Politik. Der abstrahierende Zugriff hat allerdings auch seinen Preis. Die Kulturgeschichte wird weithin nur als Material für die Theoriebildung, aber kaum noch in der widerständigen Besonderheit ihrer Vielfalt wahrgenommen. Mit seinen abstrakt theoretischen gesellschaftspolitischen Vorstellungen schwingt Tillich sich kühn über die harten Realitäten hinweg. Sein politisches Votum für den Anarchismus/Föderalismus hat weltfremde und illusionäre Züge. Die konkreten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Probleme lassen sich nicht allein mit einem abstrakten Begriffsapparat analysieren und bewältigen. So zeigen schon diese frühen Vorlesungen den für Tillich charakteristischen Hiatus zwischen historisch-kultureller Wirklichkeit und theoretischer Konstruktion. Wer sich aber durch die manchmal beschwerlichen Abstraktionen nicht einschüchtern lässt, gewinnt interessante Einblicke in die Genese der philosophischen Theologie Tillichs und partizipiert, besonders im Kolleg über Religionsphilosophie, an Einsichten, die für das Selbstverständnis von Religion unter den Bedingungen der dauerhaften Krise von Religion und Kultur in der Neuzeit von bleibender Bedeutung sind.

IV.: Der zweite Band mit Vorlesungen Tillichs aus seiner Berliner Zeit unterscheidet sich signifikant vom ersten dadurch, dass Tillich hier nicht an der Grundlegung seines eigenen philosophisch-theologischen Systems arbeitet, sondern sich in weiträumig angelegten Vorlesungen der philosophischen und theologischen Tradition vergewissert. Drei große Vorlesungen, die Tillich in Berlin (mit Wiederholungen) gehalten hat, werden im vorliegenden Band dokumentiert: I. "Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie" (1920/21) - II. "Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der abendländischen Philosophie seit der Renaissance" (1921) - III. "Geistesgeschichte der altchristlichen und mittelalterlichen Philosophie" (1923/24). Dieses dritte Kolleg hat Tillich möglicherweise schon im Wintersemester 1921/22 gehalten, es ist jedenfalls im damaligen Vorlesungsverzeichnis angekündigt. Allerdings fehlt ein datiertes Manuskript dazu; es ist auch nicht durch Vorlesungsnachschriften gesichert. - In den "Beilagen" (639-838) kommen zwei weitere Texte Tillichs zum Abdruck: eine andere Version der Einleitung zur Vorlesung über die "Geistesgeschichte der altchristlichen und mittelalterlichen Philosophie" (639-643) und ein thematisch einschlägiger, im November 1922 gehaltener Vortrag über "Die Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte" (644- 657). Abschließend bietet der Herausgeber noch zwei Vorlesungsnachschriften des damaligen stud. theol. Adolf Müller, eines späteren Freundes Tillichs, über die Vorlesung zur griechischen Philosophie von 1920/21 (658-745; der Druckfehler "1921/21" S. XXIII, 5. Z. v. u. müsste korrigiert werden) und zur Vorlesung über die abendländische Philosophie seit der Renaissance von 1921 (746-838). Ein Personenregister, ein Register der griechischen Begriffe und ein Sachregister erleichtern die Benutzung des Bandes.

Tillich kann für seine Darlegungen nicht auf eigenständige Forschungen zurückgreifen. Das Studium der Quellen muss als gering veranschlagt werden, weithin schöpft er aus der Sekundärliteratur. Er wird diese Vorlesungen vermutlich auch deshalb gehalten haben, um sich die Materialien für seine weitere Arbeit selbst anzueignen. Ihre Bedeutung liegt nicht vornehmlich in der Darbietung des philosophiegeschichtlichen Stoffes, sondern, wie es die Überschriften schon andeuten, im systematisch-rekonstruierenden Zugriff. Das dialektische Verhältnis von Form und (religiösem) Gehalt, das Tillich in seinen kulturtheologischen Vorlesungen ausgearbeitet hatte, dient als hermeneutisches Prinzip für die philosophie- und theologiegeschichtliche Analyse. Die jeweiligen Einleitungen (1-15.199-211.407- 414), in denen Tillich das dialektische Verhältnis von Form und Gehalt - bezogen auf den jeweiligen Gegenstand - umreißt, sind deshalb von besonderer Bedeutung. Hier äußert sich der systematische Theologe und Philosoph.

Für das erste Kolleg war ursprünglich ein weiterer zeitlicher Rahmen vorgesehen, der auch die abendländische Philosophie einschließen sollte. Dazu ist es aus zeitlichen, vermutlich aber auch aus sachlichen Gründen nicht mehr gekommen. Tillich beginnt mit der ionischen Naturphilosophie und schließt mit Plotin. Im anschließenden Sommersemester 1921 knüpft er zeitlich nicht an die vorhergehende Vorlesung an, sondern setzt mit einem großen Sprung bei der Philosophie der Renaissance ein. Über die Schwierigkeiten, die der Kontinuitätsbruch mit sich bringt, spricht er sich in der Einleitung aus. In großen Schritten - wie schon zuvor - wird hier die Philosophiegeschichte von der Renaissance bis zu Lessing durchschritten. In den beiden abschließenden Stunden (397-406) deutet Tillich die Aufklärungsepoche als "Zeitalter der Subjektivität" (397). Im Wintersemester 1921/22 wird dann die Verbindung hergestellt und das Kolleg über das Mittelalter angekündigt. Unklar ist allerdings, ob Tillich es zu diesem Zeitpunkt wirklich gehalten hat. Erst für das Wintersemester 1923/24 ist die Vorlesung durch Belegzettel gesichert. Ein existierendes Vorlesungsmanuskript, allerdings ohne Titel und Datum, könnte auch dem Jahr 1921/22 zugeordnet werden.

Tillich beabsichtigt mit diesen Vorlesungen eine kulturtheologische Erschließung des philosophischen und theologischen Erbes. Als Gesamtaufgabe notiert er (13): "Geschichte der wissenschaftlichen Denkstile in ihrer Begründung in einem religiösen Weltgefühl". Die Geschichte der Philosophie dient als Illustrations- und Bewährungsgegenstand seines kulturtheologischen Ansatzes, demzufolge Kultur als die Form der Religion, Religion als der Gehalt der Kultur gedeutet werden kann. Man darf von diesen Vorlesungen keine philosophiegeschichtlichen Forschungsergebnisse im strikten Sinne erwarten. Tillich betreibt Philosophiegeschichte in systematischer Absicht. Werden die Ausführungen in dieser Perspektive gelesen, eröffnen sie nicht nur aufschlussreiche Zugänge zu Tillichs philosophisch-theologischem Gedankengebäude, sondern tragen auch zum Verständnis der besonderen Art bei, in der er sich später großräumig auf philosophische Figuren und Systeme bezieht und sie in seine Argumentation integriert.

Fussnoten:

* Tillich, Paul: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908-1933) I. u. II. Teil. Hrsg. v. E. Sturm. Berlin-New York: de Gruyter; Evangelisches Verlagswerk 1999. XIV, 478 S. u. XIV, 494 S. 8 = Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken Paul Tillichs, 10 u. 11. Geb. Je 158,00. ISBN 3-11-016579-1 u. 3-11-016580-5.

Tillich, Paul: Berliner Vorlesungen I (1919-1920). Hrsg. und m. einer historischen Einleitung versehen von E. Sturm. Berlin-New York: de Gruyter; Evangelisches Verlagswerk 2001. XXI, 667 S. 8 = Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, 12. Geb. 168,00. ISBN 3-11-017091-4.

Tillich, Paul: Berliner Vorlesungen II (1920-1924). Hrsg. u. m. einer historischen Einleitung versehen von E. Sturm. Berlin-New York: de Gruyter, Evangelisches Verlagswerk 2003. LII, 861 S. 8 = Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, 13. Geb. 198,00. ISBN 3-11-017663-7.