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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1123–1138

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Herms, Eilert

Titel/Untertitel:

Die "Beiträge zur Systematischen Theologie" von Wolfhart Pannenberg*

Seiner von 1988 bis 1993 erschienenen Systematischen Theologie hat Wolfhart Pannenberg in den Jahren 1999 und 2000 eine dreibändige Sammlung von Beiträgen zur Systematischen Theologie folgen lassen. Sie umfasst Vorträge, Aufsätze, Gutachten unterschiedlicher Art, die teils schon an entlegenem Ort veröffentlicht, teils unveröffentlicht waren und deren früheste Stücke ans Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückreichen, während die jüngsten unmittelbar vor der Veröffentlichung entstanden sind.

Die thematische Ordnung des Materials - Texte zur Aufgabenstellung und zum Gegenstand der Systematischen Theologie (Bd. 1), Texte zum Verständnis von Ursprung, Verfassung und Bestimmung der geschaffenen Welt des Menschen (Bd. 2) sowie dann Texte zur gegenwärtigen Lage der Christenheit in der Geschichte (Bd. 3) - folgt offensichtlich dem Aufriss der Systematischen Theologie. Lediglich die eschatologische Thematik ist vom Ende des dritten Bandes ans Ende des zweiten gerückt und dadurch direkt mit der kosmologischen verbunden worden- eine Maßnahme, die klärendes Licht auch auf den Gegenstandsbezug und die Themenstruktur der Systematischen Theo-
logie
wirft: Auf die Sicherung des direkt gegebenen Gegenstands der Theologie, des christlichen Gottesgedankens als des aus "Offenbarung" stammenden Inhalts der christlichen Religion, im ersten Teil (Bd. 1 der Beiträge; entsprechend den Kapiteln 1-4 der Systematischen Theologie) folgt im zweiten Teil die Entfaltung des Inhalts dieses christlichen Gottes-, Welt- und Menschenverständnisses, der seine Pointe in der Erfassung der prozessualen Dynamik und der auf eschatische Vollendung gerichteten Zielstrebigkeit der Weltwirklichkeit hat. Dabei wird einerseits die christliche Sicht dieses Ganzen behandelt (Bd. 2 der Beiträge; entsprechend den Kapiteln 5-11 sowie 14 und 15 der Systematischen Theologie) und andererseits die Ekklesiologie als derjenige Ausschnitt dieses Ganzen eigens hervorgehoben, der die Gegenwartssituation des christlichen Lebens in der Geschichte betrifft und zu ihrem Verständnis anleitet (Bd. 3 der Beiträge; entsprechend den Kapiteln 12 und 13 der Systematischen Theologie).

Was sich damit schon an der Gesamtkomposition der dreiteiligen Sammlung zeigt, bewährt sich an den von ihr gebotenen Materialien im Einzelnen: ihr Charakter als eines hochwillkommenen Supplements zu Pannenbergs Systematischer Theologie. Ihre einzelnen kurzen Stücke dokumentieren teils die vielfältigen Erkenntnismotive, die in der komplexen Totalität der Gesamtdarstellung zusammengeschlossen sind, und lassen sie jeweils für sich hervortreten, teils führen sie die ratio des Gesamtzusammenhangs in klärenden Skizzen vor. Man wird sich kaum eine Behandlung der Systematischen Theologie im akademischen Unterricht vorstellen können, die nicht auf diese in den Beiträgen gebotenen Hilfestellungen zurückgreift.

Band 1

Der erste Band - und damit die ganze Reihe - wird mit einer Diagnose der geschichtlichen Gegenwartssituation der Religion in der modernen Gesellschaft eröffnet.1 Die "Anthropozentrik" der Moderne sieht die Religion und ihre Gotteserkenntnis als bloßes Akzidens des Menschseins, dem daher nur noch private Geltung und die Funktion einer privaten Kompensation der Sinnleere des öffentlichen Lebens zukommt ( 1). Allerdings ist die atheistische Verneinung der konstitutiven Zugehörigkeit von Religion zur menschlichen Natur und ihre Behauptung als eines Produkts der Gesellschaft mit empirischen und gedanklichen Schwierigkeiten verbunden, die ihrerseits für das Gegenteil sprechen, eben für die wesentliche Hinzugehörigkeit von Religion zum Menschsein und zum menschlichen Zusammenleben ( 2 und 3). Daher ist eine Revision der frühneuzeitlichen "Grundentscheidung zur Privatisierung der Religion" denkbar, jedoch nur, wenn das Grundproblem eines toleranten Miteinanders einer Mehrzahl verschiedener Religionen gelöst wird, dessen Ungelöstsein jene Entscheidung gegen die Religion ihren Erfolg verdankt ( 4). Religion, und zwar exemplarisch die christliche, als mit einem öffentlich vertret- und diskutierbaren Wahrheitsanspruch ausgestattetes und darum zugleich verpflichtendes und friedensfähiges Gesamtverständnis des Endlichen aus der es begründenden Kraft des Unendlichen heraus - damit ist Pannenbergs Verständnis von Gegenstand und Aufgabe Systematischer Theologie im Ganzen angezeigt.

Als öffentlich zu behauptende Wahrheit konnte die christliche Religion ihr Menschen-, Welt- und Gottesverständnis von Anfang an nur unter der Voraussetzung vortragen, dass sie es in ein konstruktives Verhältnis zum gleichartigen Wahrheitsanspruch der Menschen-, Welt- und Gotteserkenntnis philosophi-
scher Metaphysik setzte. An diese theologische Affirmation, Aufnahme und Umformung von Einsichten der Metaphysik in der Antike (Platonismus) und in der Neuzeit (Fichte, Schelling, Hegel) und damit an die "Rationalität" und den Wissenschaftscharakter der Theologie erinnern die folgenden sechs Stücke des ersten Bandes.2 Ihr Pointe besteht darin, dass nach der neuzeitlichen Selbstkritik von Vernunft Metaphysik nicht mehr aus "reiner" Vernunft, sondern nur noch als denkende Explikation und Kritik von geschichtlich gewordener Religion möglich ist: "Die Frage nach der Konstitution alles Endlichen aus der absoluten Wirklichkeit des Göttlichen beschäftigt vor der Meta-
physik schon die Religion. Die Metaphysik fragt ... nach der wahren Gestalt des Göttlichen" (56).

Religion ist fundamental für das Erleben des Unendlichen, das alles Endliche bedingt, als Gott, also für den "Gottesgedanken" (55); und damit ist Religion auch das Fundamentalthema der Theologie. Daran erinnern abermals sechs Beiträge, von denen die ersten drei Religion und religiöse Erfahrung im Allgemeinen thematisieren: zunächst ihren anthropologischen Haftpunkt im Sinnbedürfnis der Menschen,3 sodann ihren Inhalt - eben Gott: die das Alltagsbewusstsein und seine Inhalte, das Endliche, transzendierende, insofern zu ihm "nicht dazu gehörige" (und in diesem Sinne "irreale") unendliche Wirklichkeit des Göttlichen4 - und schließlich ihr Zustandekommen durch ein Innewerden des Unendlichen, wie es klassisch in Schleiermachers Reden beschrieben wurde. Diese Anerkennung der Leistung Schleiermachers wird jedoch explizit und dezidiert vorgetragen als Kritik an Schleiermachers angeblicher Verfehlung des Gehalts des religiösen Bewusstseins.5

Damit ist die Positivität von Religion im Blick, folglich auch die Beziehungen zwischen den Religionen,6 exemplarisch die Beziehungen des Christentums zu anderen Religionen7 und somit auch die Eigenart des Christentums, die sich durch seinen Ursprung aus Offenbarung als Erfahrung von Geschichte ergibt: Im Unterschied zu den übrigen Religionen, die ihre Gottes- und Welterkenntnis nur in einem Ursprungsmythos aussprechen, ist die biblische Religion "Offenbarungsglaube", d. h. aus sozio-historischer Erfahrung stammende Einsicht, dass die Macht des Ursprungs zugleich die "Macht der letzten Zukunft" (II, 8) ist. Diese Einsicht führt aber nicht zu einer Abstoßung des Gesamtverständnisses der Wirklichkeit im Mythos oder in einer metaphysischen Kosmologie, sondern zu deren Integration in die dynamische Gesamtsicht der biblischen Religion und zu einer mit dieser Integration verbundenen inhaltlichen Erweiterung und Umbildung des mythischen bzw. metaphysischen Wirklichkeitsverständnisses.8

Durch diese Eigenart christlicher Religion ist die Aufgabe ihrer denkenden Auslegung für die Theologie definiert. Diese Aufgabe der christlichen Theologie, philosophisch-historische Hermeneutik des Christentums zu sein, wird in einem kurzen Text entwickelt, der nicht weniger bietet als eine programmatische Skizze des ganzen in der Systematischen Theologie realisierten theologischen Arbeitsvorhabens.9

Aus der Eigenart der christlichen Religion als Glaube aus Offenbarung durch die Erfahrung von Geschichte und aus der dieser Eigenart entsprechenden Aufgabe der Theologie ergibt sich zunächst das fundamentale Interesse, das Verständnis der Offenbarung selbst zu klären,10 sodann das Interesse, sich auf den Status der christlichen Bibel als - in der Einheit beider Testamente - maßgeblicher Bezeugung der die christliche Religion begründenden Offenbarung zu besinnen,11 und schließlich das die christliche Religion begründende Offenbarungsgeschehen - das Christusgeschehen und seine zusammenfassende Vollendung in der Auferweckung des gekreuzigten Jesus - selbst zu bedenken.12

Die dem zuletzt genannten Thema - der Auferweckung Jesu- gewidmeten Texte legen einen deutlichen Akzent auf die Tatsache, dass die Anerkennung oder Ablehnung der Auferweckung Jesu als desjenigen offenbarenden Ereignisses, welches für das Christentum grundlegend ist, letztlich daran hängen, ob Ursprung, Dynamik und Bestimmung der Weltwirklichkeit so verstanden werden, dass ein solches Ereignis innerhalb des Weltgeschehens möglich ist, oder ob sie nicht so verstanden werden. Demnach ist also für Pannenberg die Erfahrung der Auferweckung Jesu ihrer Art nach die Erfahrung der Manifestation einer bestimmten Dynamik und Bestimmung des Weltgeschehens, die in dessen schöpferischem Ursprung gründet und damit ipso facto auch diesen Ursprung selbst offenbar macht. Insofern ist verständlich, dass und in welchem Sinne für Pannenberg eben durch die Auferweckungserfahrung der Gottesgedanke in derjenigen (nämlich trinitarischen) Fassung zu Stande kommt, in der er für die christliche Religion wesentlich und für diese der letzte Horizont ihres gesamten Welt- und Menschenverständnisses ist. Exkursartig werden diesen vier letzten Stücken zwei Erwägungen zum Verhältnis des Christentums zu seiner Herkunftsreligion und zu seinen Kontextreligionen, also zum Judentum und zu den hellenistischen Religionen, vorangestellt.13

Band 2

Vor dem Hintergrund von Pannenbergs Systematischer Theologie könnte der Titel des zweiten Bandes so verstanden werden, als würde er Materialien nur zu einem thematischen Ausschnitt aus dem Gesamtgehalt des aus der Erfahrung des Auferweckungsgeschehens stammenden christlichen Glaubens bieten, nämlich nur zur Kosmologie und Anthropologie. Aber die Lektüre belehrt eines besseren. In allen Beispielen geht es um den Gesamtgehalt des christlichen Glaubens: um sein Welt- und Menschenverständnis im Horizont seines Gottesverständnisses. Eröffnet und beschlossen wird der Band durch Thematisierungen des im Horizont des Gottesverständnisses stehenden und darum eschatologisch perspektivierten Weltverständnisses des Glaubens. Wie eine Klammer umschließen diese Texte eine Gruppe von anderen, die zu dem in jenem Gottes- und Weltverständnis inbegriffenen Menschenverständnis beitragen.

2.1

Die drei ersten Beiträge - einer älter, zwei jünger als die Systematische Theologie - sind als Vorschlag eines christlich-theologischen Verständnisses der Welt als Natur zu lesen, wie sie heute als Gesamtprozess der natürlichen Evolution aufgefasst und von den Naturwissenschaften erforscht wird.14 Das Motiv zu diesen Vorschlägen stammt Pannenberg zufolge aus dem christlichen Gottes-, Welt- und Menschenverständnis selber, das seinem kanonischen Selbstverständnis zufolge die eine Wahrheit über die eine Weltwirklichkeit ist und das sich selbst und seinen Wahrheitsanspruch in dem Augenblick schon verleugnet hat, in dem es sich programmatisch als ungültig für denjenigen Wirklichkeitsbereich erklärt, den die Naturwissenschaften erforschen, und sich unter unkritischer (sowie meist zuvor schon uninformierter) Hinnahme der Gründe, die in der Geschichte der modernen Naturwissenschaften nach und nach zur Eliminierung der Gottesperspektive aus der naturwissenschaftlichen Wirklichkeitserkenntnis geführt haben, auf das menschliche Selbstbewusstsein und seine Grundlagen als den einzigen verbliebenen Zugang zur Wirklichkeit Gottes beschränkt (11). Demgegenüber geht es Pannenberg um den Aufweis der inhaltlichen "Konsonanz" zwischen dem Wirklichkeitsverständnis des Glaubens und der Welterkenntnis der Naturwissenschaften durch die Aufdeckung des Gottesbezuges auch der Natur, wie sie Gegenstand der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist - also um "Integration" (42.44) ihrer Ergebnisse und Wahrheitsmomente in den christlichen Schöpfungsglauben. Nur wenn dieser Aufweis sich durch das Gelingen solcher Integration seiner Wahrheit vergewissert, kann auch der christliche Versöhnungs- und Vollendungsglauben wahr sein.15 Als gemeinsame Ebene der Begegnung zwischen Naturwissenschaft und theologischer Glaubensauslegung fungiert dabei der kategoriale Status der Glaubenseinsicht in die ursprüngliche und darum auch universale Dynamik und Zielbestimmtheit des Weltgeschehens einerseits sowie der de facto philosophisch-metaphysische, also ebenfalls kategoriale und universale Reichweite beanspruchende Status der Leitkonzepte der Naturwissenschaften andererseits. Der Dialog auf dieser Ebene fördert beide Seiten, indem er den Schöpfungsglauben vor verfälschenden Engführungen (etwa: unbiblische Opposition gegen die zeitgenössische Naturwissenschaft, Verkennung der creatio continua und der Zukunft als Dimension des Schöpferwirkens) und die Wissenschaft vor abstrakten Leitkonzepten (etwa: des Lebens) schützt. Seit der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik und der Entdeckung der Expansionsbewegung des Universums sind die zentralen Themen des Dialogs "Naturgesetz und Kontingenz", "Raum und Zeit", "Gottes Wirken im Wirken der Natur", "Schöpfung und Evolution", "Kraft und Energie".

Von besonderem Gewicht ist für Pannenberg das zuletzt genannte Thema. Denn hier hat die Physik durch das Konzept des "Feldes" die enggeführte Auffassung, dass energetische Wirkungen nur von Körpern und ihrer Masse ausgehen, dahingehend überwunden, dass durch ihre Masse definierte Körper ihrerseits als Singularitäten aus einem ihnen vorausliegenden Kraftfeld zu erklären sind, sodass die "raumzeitlich ausgedehnten Kraftfelder" "dann ihrerseits die grundlegende Realität in allem Naturgeschehen" sind. Deshalb kann man dann aber auch nach Pannenberg - ausgehend von der Einsicht, dass der Möglichkeits- grund der endlichen Raumzeit der unendliche Raum der göttlichen Unermesslichkeit und die unendliche Zeit der göttlichen Ewigkeit ist - das schöpferische Geistwesen Gottes gedanklich als dasjenige unendliche Kraftfeld auffassen, welches der allumfassende, allgegenwärtige und alles durchdringende Ursprung aller möglichen endlichen Kraftfelder und des gesamten aus ihnen entspringenden Weltgeschehens ist. Dieses Verständnis von Gottes Geistnatur als unendliches schöpferisches Kraftfeld knüpft nach Max Jammer an das stoische Verständnis des Pneuma an, es stimmt mit der gesamtbiblischen Sicht von Gottes Geistwesen überein und es erlaubt die Nichtkörperlichkeit Gottes zu denken, ohne dabei auf den seit Origenes von der gesamten christlichen Theologie beschrittenen Abweg der anthropomorphistischen Engführung zu geraten, die Gottes Wesen als "Vernunft" konzipiert.

Zwei weitere Texte geben Aufschluss über Pannenbergs erste Begegnung mit dem Feldkonzept Anfang der 70er Jahre in der Auseinandersetzung mit der Kosmologie Teilhards16 sowie seine dezidiert nichtmetaphorische Auffassung dieses Konzepts.17 Unter Zugrundelegung dieses Konzeptes wird der durchgehende Kontingenzcharakter des gesamten Weltgeschehens verständlich18 und eine der wesentlichen Pointen der Trinitätslehre rekonstruierbar: nämlich die asymmetrische Einheit von Immanenz und Transzendenz im Geschehen der Schöpfung selbst.19 Zugleich wird damit ein Telos des Naturgeschehens denkbar, das, weil begründet in dem unendlichen Kraftfeld Gottes, nicht den Charakter chaotischer Entropie trägt, sondern den Charakter maximaler Informationsspeicherung - also ein Zustand ist, der, wenn Gottes Allmacht es will und wirkt, "die identische Wiederholung alles Gewesenen nach dem Modell einer Computersimulation" erlaubt: Auferweckung der Toten, zwar ohne materielle Identität mit der früheren Leiblichkeit, aber unter Wahrung der "in der Seele gespeicherten Form unserer leiblichen Existenz".20 Pannenberg unterstreicht, dass mit dieser physikalischen Einsicht das im modernen Wirklichkeitsverständnis enthaltene Hindernis für den Glauben an die Auferweckung Jesu entfalle (97). Alle naturphilosophischen Einwendungen gegen Pannenbergs Startbehauptung über das Wesen von "Offenbarung als Geschichte", die in der Auferweckung Jesu zu ihrer innergeschichtlichen Vollendung kommt, entfallen im Horizont der Konzeption der schöpferischen Geistnatur Gottes als unendliches Kraftfeld. Das erklärt das Gewicht dieses Fundes für den Gesamtzusammenhang von Pannenbergs theologischer Wirklichkeitsauslegung.

2.2

Die Relevanz der Auffassung des Wesens und der Wirkung der Geistnatur des Schöpfers als unendliches Kraftfeld betrifft jedoch nicht nur die Eschatologie, sondern zuvor schon die Anthropologie. Diese Auffassung der Geistnatur Gottes macht es möglich, die kosmische Evolution als diejenige Einheit zu denken, welche auch die menschliche Natur hervorbringt und damit die kulturelle Evolution, also Geschichte, begründet und einschließt. Wie aus der Perspektive des christlichen Schöpfungsglaubens zu erwarten ist, dass die Naturwissenschaften die
physische Evolution, die Geschichte der Natur, als entspringend aus und vorangetragen durch das unendliche Kraftfeld des schöpferischen Geistes durchschauen werden, sobald sie nur übergehen von der Anleitung durch abstrakte (und deshalb verblendende) zur Anleitung durch geeignete, konkrete und wirklichkeitsgemäße Leitkonzepte, so muss dasselbe auch von den Wissenschaften vom Menschen, von der Humanbiologie und überhaupt von allen empirischen Humanwissenschaften erwar-tet werden: Ihr Studium der Naturgeschichte des Menschen wird, wenn es nur jede apriorische "Ausblendung" des Gottesbezuges des Menschen vermeidet (102) und wenn denn der Glaube wahr ist, auch ihrerseits auf folgende für den Glauben und seine Sicht des Menschseins grundlegende Themen stoßen: erstens auf die Frage nach der Eigenart des Menschseins gegenüber den Tieren und auf die Religion als das Fundament dieser Eigenart, zweitens auf das Verhältnis von Evolution und Kulturgeschichte, in welchem sich die Kulturgeschichte nicht einfach als Fortsetzung der Evolution, sondern als Ausdruck der Eigenart des Menschseins erweisen wird, drittens auf die natürliche Ambivalenz, die im religiösen Verhältnis des Menschen herrscht, und viertens darauf, dass der Mensch nicht erst kraft seiner wesentlichen Religiosität in Beziehung zu Gott steht, sondern schon kraft seiner Anteilhabe am "Leben" überhaupt.21 Und das abstraktionsfreie Leitkonzept, das die empirischen Humanwissenschaften tatsächlich auf diese Themen führen wird, ist eben das Konzept einer Evolution, die durch das unendliche Kraftfeld des schöpferischen Geistes begründet und gesteuert ist und die daher nicht nur die Entstehung des Lebens überhaupt als Schöpfungsgeschehen zu verstehen erlaubt, sondern dann auch die Entstehung des menschlichen Lebens, einschließlich des menschlichen Seelenlebens und schließlich auch der kulturellen, sozio-historischen Entwicklung des menschlichen Seelenlebens.22 So - d. h. unter geeignetem kategorialem Vorzeichen - sichtet die humanbiologische und humanwissenschaftliche Arbeit die "Geschichtlichkeit des Menschen" (160) als eine solche, die - in Übereinstimmung mit dem biblischen Vorbild - nicht nur bis Adam und Eva zurückreicht, sondern darüber hinaus bis zur Entstehung aller kosmischen Bedingungen für deren Dasein.

Die zentrale Leistung dieser Anschauung besteht für Pannenberg darin, auch die Entstehung des menschlichen Bewusstseins- und zwar samt seiner Eigenart, die es von allen älteren kosmischen Erscheinungen unterscheidet - aus der Einheit der kosmischen Evolution als eines "Prozesses der Emergenz" (125) heraus verständlich zu machen. Dazu greift Pannenberg Karl Poppers Erklärung des Auftretens und der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins aus der Emergenz der Sprache als eines neuartigen Typs tierischen Verhaltens auf und macht die qualitative Neuartigkeit dieses Verhaltens dadurch verständlich, dass er sie - unter Vermeidung des bei Popper selbst drohenden Zirkels - als neue Hervorbringung des auch alle sonstigen Emergenzen bewirkenden unendlichen Kraftfeldes als eines "geistigen" Feldes deklariert (127): Die das menschliche Bewusstseinsleben begründende Sprache gründet ihrerseits in dem die gesamte Evolution hervorbringenden Kraftfeld des Geistes, und zwar so, dass in diesem geistigen Kraftfeld der Ursprung der Sprache - wie Pannenberg es bei E. Cassirer gelesen hat - das religiös-ekstatische Erlebnis des Bezogenseins des Endlichen auf das Unendliche ist, welches dem sprachlichen Elementarakt des Benennens zu Grunde liegt, wofür dann wiederum die empirischen Belege bei J. Piaget zu finden seien.23 Das wiederum
heißt nichts anderes, als dass die evolutionäre Eigenart des menschlichen Lebens, durch die es von allen älteren Gestalten des Lebens unterschieden ist und die daher auch nicht eines seiner Akzidentien, sondern seinen grundlegenden Wesenszug ausmacht, seine Religiosität ist. Die Religion konstituiert das Menschsein als Personsein, und dieses ist seinerseits nichts anderes als das Bestimmtsein des Menschen zur Erreichung seiner Identität und seines wahren Selbst (160). Als dieses Konstitutivum für die Personalität der menschlichen Natur wird dann Religion in denjenigen Stücken thematisiert, die die folgende Textgruppe einleiten24 und beschließen.25 Dazwischen werden Texte zu drei Implikationen des in Religion fundierten Personseins des Menschen geboten: zu seinem Bestimmtsein zum Streben nach Identität und wahrem Selbstsein,26 zu den Weltbezügen, die dieses Streben bedingen,27 und schließlich zu der schon in seinem religiösen Fundament begründeten innerlichen Ambivalenz des menschlichen Personseins.28

2.3

Die Inanspruchnahme ein und derselben Instanz, des unendlichen Kraftfeldes der schöpferischen Geistnatur Gottes, als Ursprung für das Ganze der kosmischen Evolution und für alle ihre Elemente - für die vormenschlichen ebensowohl wie für die eigenartig menschlichen - schließt nicht nur erstens ein, dass sich die Gesamtevolution als Ganze dem ihr in diesem Ursprung schon gesetzten Ziel entgegen bewegt, und nicht nur zweitens, dass das menschliche Bewusstseinsleben fähig ist, die Wahrheit über diese aus ihrem Ursprung heraus zielstrebige Bewegung der Evolution/Schöpfung zu erfassen (135), sondern eben deshalb auch drittens, dass diese Ausrichtung auf das Eschaton in zweifacher Gestalt existiert: einerseits als eschatologisches Bewusstsein, das im Menschen wirksam ist, und andererseits als dessen realer Gegenstand - d. h. als das reale Näherkommen der alles aufhebenden und verwandelnden Vollendung des Schöpfungsprozesses. Je einem dieser beiden Aspekte sind die zwei Stücke gewidmet, die den Band beschließen.29 Dabei manifestiert sich das objektive Kommen des Eschatons zunächst als die Geschichte der Kirche in den Aufstiegs- und Verfallsbewegungen der kulturellen Evolution post Christum natum. Diese Geschichte der Kirche kommt vom Christusgeschehen her, dem "Inerscheinungtreten der Bestimmung des Menschen" (293). Daher kennt sie für den weiteren Fortgang der kulturellen Evolution kein anderes Ziel, als dass schließlich alle in diesem Licht des seit Christus im Kommen begriffenen Gottesreiches das Wesen der kulturellen Evolution im Unterschied zur bloßen Steigerung der materiellen Lebensbedingungen erkennen und den kulturellen Aufstieg vom Niedergang zu unterscheiden lernen. Das Ziel ist mit anderen Worten kein anderes als die Anerkennung der Wahrheit, dass im Christusgeschehen die Bestimmung des Menschen erschienen ist, wenn nicht einfach durch alle Menschen, durch die Gesamtgesellschaft, so
doch durch die maßgebliche Mehrheit. Und das heißt nichts anderes als: Das innergeschichtliche Ziel der kulturellen Evolution ist die gesellschaftliche Dominanz einer durch das Christentum geprägten Kultur. Und in Entsprechung zu diesem Ziel kann folglich auch die Bewegung ins Eschaton keinen anderen als einen einheitlichen Charakter haben, nämlich einen einheitlich heilsgeschichtlichen. Pannenberg kann und muss dies gegen Karl Löwith behaupten, weil er auch gegen diesen daran festhält, dass das Unsichtbare für die Christen "im Ereignis der Inkarnation und überall in der Geschichte des Handelns Gottes" wirklich geworden ist und wirklich wird (292), was für Pannenberg die intersubjektive Manifestation, die allgemeine Erfahrbarkeit und in diesem Sinne "Sichtbarkeit" einschließt.

Band 3

Mit diesem Thema - der Bedeutung der christlichen Religion (d. h.: der Kirche als Gemeinschaft im christlichen Glauben, der in der Erfahrung der in der Auferweckung Jesu Christi gipfelnden Geschichte als Offenbarung gründet) für die kulturelle Evolution und damit die kosmische Evolution im Ganzen - ist der Leithorizont des dritten Bandes angesprochen.

3.1

Dieser Horizont wird in dessen fünf einleitenden Stücken kräftig ausgezogen.30 Dabei zeigt sich jetzt eine Implikation bzw. Konsequenz der in den Hauptstücken des zweiten Bandes uns begegneten Sicht des evolutionären Prozesses als des Inbegriffs aller aus dem unendlichen Kraftfeld der göttlichen Geistnatur emergierenden empirischen Gestalten, die sich als solche der empirischen natur- und humanwissenschaftlichen Forschung zum Gegenstand anbieten: Die christliche Religion existiert kraft ihres Ursprungs aus der Erfahrung des Geschehens der Inkarnation, d. h. des Inerscheinunggetretenseins der in der Einheit des schöpferischen Ursprungs begründeten einen und einheitlichen Bestimmung des Menschen (und damit der gesamten Schöpfung) auch als jedermann zugängliche einheitliche Gestalt; und nur als solche erfüllt sie ihre geschichtlich/evolutionäre Mission, die - Pannenberg spricht hier mit dem Zweiten Vatikanum - darin besteht, "Zeichen und Werkzeug der Einheit der Menschheit" zu sein (185). Der Verlust dieser jedermann zugänglichen Gestalteinheit ist ipso facto Verlust, und die Wiedergewinnung der jedermann zugänglichen Einheit ist entsprechend Rückgewinnung der geschichtlichen Wirkungsmacht des Christentums. Daher die wiederholte Einschärfung, dass der Verlust der kirchlichen Einheit die Letztursache der Auflösungstendenzen in der westlichen Kultur und die Wiedergewinnung dieser Einheit die unerlässliche Vorbedingung für die kulturelle Erholung des Westens sei. Im Gesamtzusammenhang können Pannenbergs Zeitdiagnosen nur als seine Sicht des gegenwärtigen Zustandes der kosmischen Evolution verstanden werden, und die Wiedergewinnung der kirchlichen Einheit ist demgemäß die uns durch die Geschichte/Evolution - und das heißt durch den in Christus inkarnierten Schöpfergeist selbst - heute gestellte Aufgabe. Erst von daher wird die rest- und rastlose Hingabe verständlich, mit der Pannenberg sich dieser Aufgabe gewidmet hat und widmet. Pannenbergs Grundanschauung des Prozesses der Wirklichkeit als Schöpfung und Evolution entspricht gewissermaßen ein Gestaltkonzept von Kirche (vgl. etwa die Rede von der Kirche als der "Lebensgestalt der christlichen Offenbarung [sic!] in der Welt": 176), das er in den Ansätzen der konfessionsverbindenden communio-Ekklesiologie artikuliert findet. Dieses Konzept von Kirche und das mit ihm verbundene ökumenische Engagement wird in den folgenden Teilen des Bandes dokumentiert.

3.2

Zunächst betont Pannenberg - entsprechend dem Grundanliegen der communio-Ekklesiologie - die Konstitution der kirchlichen Gemeinschaft durch die sakramentale Gemeinschaft.31 Die Sakramentsgemeinschaft ist Gemeinschaft mit Christus nicht nur durch das glaubende Vertrauen auf die Untrüglichkeit von dessen Einsetzungs- und Verheißungswort, sondern auch auf Grund des Vollzugs durch den ordinierten Amtsträger, der kraft ordentlicher Berufung durch die Kirche die "persona" Christi und damit zugleich die Teilhabe der feiernden Einzelgemeinde an der universalen Einheit des Leibes Christi manifestiert. Mit der Sakramentsthematik ist die Amtsthematik unlösbar verbunden. Pannenbergs Sicht dieser Verbundenheit wird durch mehrere Texte dokumentiert.32 Sie stammen alle aus einzelnen innerkirchlichen oder zwischenkirchlichen Gesprächszusammenhängen und leiten damit zum dritten Teil des Bandes über, der Pannenbergs eigene vielfältige ökumenische Arbeit widerspiegelt.

3.3

Zwei Gruppen von Arbeiten, die wichtige Aufschlüsse über Pannenbergs Sicht des geschichtlichen Ursprungs der ökumenischen Situation und der durch sie gestellten Aufgabe, über die methodischen Grundsätze für ihre Bearbeitung und Lösung und schließlich über die Zielperspektive der ganzen Arbeit bieten, bilden den Auftakt33 und den Abschluss dieses Teiles.34 Die ratio ökumenischer Einigungsbemühungen, die sich aus der Zusammenschau dieser Grundsatztexte ergibt, umfasst vier Punkte: a) Im Nicaeno-Constantinopolitanum liegt die zutreffende, mit dem biblischen Zeugnis übereinstimmende Beschreibung des das apostolische Evangelium erfassenden christlichen Glaubens in seiner Ganzheit vor, die als solche für alle Zukunft maßgeblich bleibt als die einheitliche, alle Konfessionen verbindende Bezeugung des Glaubens. b) Die Spaltung in der westlichen Christenheit ist letztlich durch die historisch
vielleicht verständliche, aber der Sache nach nicht notwendige Verurteilung Luthers durch Rom verursacht (163.170). c) Die Duplizität von Material- und Formalprinzip des Protestantismus lässt sich zu Gunsten des Formalprinzips auflösen, demzufolge die freie wissenschaftliche Auslegung der Bibel und ihre konvergierenden Ergebnisse der konfessionsverbindende Maßstab für die Entscheidung aller zwischen den Konfessionen strit-tigen Fragen ist (42.164 ff.186 ff.288.323). d) Die angezielte jedermann zugängliche Gestalt der kirchlichen Einheit im Westen ist die förmliche Entlassung der Reformationskirchen aus der römischen Jurisdiktion (51.314) bei gleichzeitiger Anerkennung des Petrusdienstes des römischen Bischofs als Primas der Gesamtchristenheit. Eingeschlossen in diese Zielvision sind Strukturverbesserungen der Reformationskirchen, die insbesondere die Wahrnehmung des kirchlichen Amtes als Amt der Einheit und als Lehramt durch die ordinierten Amtsträger, insbesondere in den Positionen der Episkopé, betreffen. So zeichnet sich am Horizont die "Vollendung der Reformation" ab "durch Überwindung der ererbten Spaltungen in einer neuen [sic!] ökumenischen und darum wahrhaft katholischen Kirche aller Christen" (182).

In diesen Rahmen eingebunden finden sich drei Gruppen von Texten, von denen jede einem spezifischen Zusammenhang des ökumenischen Dialogs zugeordnet ist. Die erste Gruppe bezieht sich auf die Arbeit von Faith and Order sowie den hier geführten multilateralen Dialog und seine Ergebnisse, die Lima-Erklärung und die gemeinsame Auslegung des apostolischen Glaubens.35 Die zweite Gruppe ist bezogen auf das, was sich Pannenberg als Konsens über den in einem "profunden Sinne" katholischen Charakter des Zentrums reformatorischer Theologie, nämlich ihres Glaubensbegriffs und ihres Rechtfertigungsverständnisses (168 f.178.262 f.285 f.289 ff.), darstellt.36 Die dritte Gruppe bezieht sich auf die Studie "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?", die das vom ÖAK (Stählin-Jaeger-Kreis) erarbeitete Ergebnis der von der Gemeinsamen Ökumenischen Kommission (zwischen römisch-katholischer Deutscher Bischofskonferenz und EKD; eingerichtet beim Ersten Deutschlandbesuch Johannes Pauls II. 1980) erbetenen Überprüfung der Lehrverwerfungen des 16. Jahrhunderts ist und zu der 1994 je eine Stellungnahme der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Synoden der Gliedkirchen der EKD abgegeben wurde.37

In der letzten Gruppe kommen die hermeneutischen Probleme zur Sprache, die sich im Dialog zwischen den Konfessionen stellen. Sie sind letztlich identisch mit denen, die schon in der innerkonfessionellen Dogmen- bzw. Bekenntnishermeneutik zu lösen sind, wenn hier im Horizont der Gegenwart einerseits das Recht und die Notwendigkeit von späteren Auslegungen des apostolischen Zeugnisses und deren Übereinstimmung mit jenem erkannt werden sollen und andererseits vom kirchlichen Lehramt neue Auslegungen des biblischen Glaubens und seiner überlieferten Auslegungen vorgenommen werden müssen, die den aus der fortgeschrittenen geschichtlichen Erfahrung der Gegenwart stammenden Herausforderungen gerecht werden und gleichzeitig auch mit dem biblischen und überlieferten Zeugnis sachlich übereinstimmen müssen, wenn denn das kirchliche Zeugnis in seinem durch den Fortschritt geschichtlicher Erfahrung verursachten Wandel gleichwohl seine Identität wahren soll. Dieses hermeneutische Grundproblem stellt sich jedoch offenkundig nicht nur für den verantwortlichen Vollzug des kirchlichen Lehramts, sondern schlechthin für jede theologische Arbeit, die das biblische und das überlieferte Glaubenszeugnis der Christenheit in einer konkreten geschichtlichen Gegenwart so auslegen will, dass die Auslegung sowohl den Herausforderungen der Gegenwart entspricht als auch gleichzeitig mit dem auszulegenden Zeugnis der Bibel und der mit ihr übereinstimmenden Überlieferung übereinstimmt. In dem einschlägigen Text der den Band abschließenden Gruppe (zum Problem der Bekenntnishermeneutik) spricht Pannenberg aus, dass dieses Problem und diese Aufgabe der Bekenntnishermeneutik jedenfalls nur dann verantwortlich gelöst werden kann, wenn eine unüberholbare Differenz zwischen dem Wortlaut des Zeugnisses und seiner Sache anerkannt wird (358 f.) und wenn es möglich ist, mit dieser Differenz so umzugehen, dass variierende Gestalten des Zeugnisses dennoch auf die Sache in deren eigener Identität bezogen sind und eben diese angemessen zur Geltung bringen. Nun sind die Probleme der Bekenntnishermeneutik aber nicht auf diese beschränkt, sie sind zugleich die Probleme aller systematisch-theologischen Arbeit überhaupt, und die Bedingungen für die Lösung dieser Probleme sind in beiden Fällen dieselben. Folglich ist mit dem Hinweis auf die Differenz zwischen Text und Sache eine Einsicht ausgesprochen, die grundlegende Bedeutung auch für Pannenbergs eigene systematische Theologie besitzt, also schon für alle Beiträge zur gegenwartsgemäßen Auslegung des christlichen Glaubens im zweiten Band. So schließt die Sammlung mit einer Einsicht, die an sich zu den Grundlegungsthemen des ersten Bandes gehört. Und damit präsentiert sie sich im Ganzen als eine runde Sache.

Zu dieser formalen Stärke tritt eine inhaltliche: der Umfang, in dem Pannenberg auf die Herausforderung des Glaubens und der Theologie durch die Erkenntnis von Welt und Mensch durch die Natur- und Humanwissenschaften eingeht. Das sucht in der zeitgenössischen Theologie seinesgleichen. Dabei geht es Pannenberg erklärtermaßen und offensichtlich nicht um Anpassung an die wissenschaftsdominierte säkulare Kultur, sondern um die Konsequenz aus einem unbestreitbaren eigenen Motiv des Glaubens: Dieser existiert als Gewissheit des Wahrseins der durch die Osteroffenbarung erschlossenen Einsicht in das ewige Wollen und Wirken des dreieinigen Gottes als Schöpfer, Versöhner und Vollender. Nur auf Grund dieses seines Charakters als Gewissheit der Wahrheit über den dynamischen Ursprung, die prozessuale Verfassung und finale Bestimmung der Einheit des Menschseins in der Einheit des Weltgeschehens besitzt er seine das Leben orientierende und motivierende Kraft. Und dieser Charakter schließt ein, dass es keine Wahrheit über Welt und Mensch geben kann, die nicht in ihn zu integrieren wäre, so dass er durch sie und sie durch ihn konkretisiert wird. Die Gewissheit des Glaubens selbst motiviert zu dieser Arbeit der Integration und bezeugt sich in ihr. Sie schließt die Vision ein, dass die Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis des Glaubens durch die Zunahme der wahren Welterkenntnis nur wachsen kann, weil und solange sie vom Glauben integriert wird. Angefochten wird der Glaube durch die säkulare Wirklichkeitserkenntnis ausschließlich dann, wenn ihn diese Vision der Integrierbarkeit jeder wahren Erkenntnis verlässt, wenn die Zuversicht in das Gelingen der Integrationsversuche schwindet und wenn damit auch die faktischen Bemühungen um Integration nachlassen. Zwar scheint das von Immanuel Kant erfundene Programm, dem Glauben dadurch Raum zu schaffen, dass die Wirklichkeit in zwei Sphären zerteilt wird - in die phänomenale und die noumenale, und demenstprechend auch das Wissen und die Wahrheit auf zwei Sphären verteilt werden, die theoretische und die praktische -, den Glauben ein für alle Mal vor jeder möglichen Anfechtung durch Wahrheitsansprüche der theoretischen Vernunft in Sicherheit zu bringen, weil es alle derartigen Ansprüche für den Glauben als irrelevant erklärt. Deshalb tritt dieser Dualismus bis auf den heutigen Tag in immer neuen Variationen in der evangelischen Theologie auf. Aber damit gewinnt der Glaube seinen Frieden mit der theoretischen Vernunft nur um den Preis, dass er selbst zu einem subjektiven Meinen und seine theologische Explikation zur - unter Umständen sprachspielerisch aufwändigen und ästhetisch reizvollen- Explikation privater Vorlieben degeneriert, während in der Öffentlichkeit des Zusammenlebens alle praktische Orientierungskraft ausschließlich den jeweils erfolgreich zu Ansehen gebrachten Wahrheitsansprüchen der theoretischen Vernunft überlassen bleibt. Öffentliche Anerkennung und Orientierungskraft für öffentlich zu vertretende Entscheidungen über die öffentlichen Verhältnisse kann nur noch für Auffassungen vom und für Umgangsweisen mit dem Wirklichen erwartet werden, die gegenüber ihrem Gegebensein durch Gott rücksichtslos sind. Gegenüber allen solchen Selbstprivatisierungen und Selbstverleugnungen des christlichen Glaubens begegnet in Pannenbergs Vision der Integrierbarkeit aller wahren Wirklichkeitserkenntnis in das Wahrheitsbewusstsein des Glaubens ein Festhalten an der Einheit der uns Menschen zu verstehen gegebenen Wirklichkeit, an der Einheit des Gesamtzusammenhangs unseres verstehenden Umgangs mit ihr sowie an der Einheit der Wahrheit, an der alles wahre Verstehen in seiner unausschöpfbaren Fülle Anteil hat - eine Haltung, die heute ebenso selten ist wie der Wirklichkeit des Glaubens entsprechend. Im visionären Schwung der Pannenbergschen Integrationsangebote bezeugt sich insoweit ein Motiv, ohne das es überhaupt keine ihrer Sache gerecht werdende Theologie gibt.



Dennoch bleiben Fragen. Wird die behauptete Sachübereinstimmung - etwa zwischen den Erkenntnissen von Humanwissenschaftlern (z. B. Eckles, Popper, Piaget, Narr), Naturwissenschaftlern (z. B. Newton, Faraday, Einstein, Süßmann), Phi- losophen (z. B. Platoniker, Stoiker) und Glaubenszeugen (z. B. biblische Autoren und Theologen) - auch gezeigt? Müsste dazu nicht vor allem eines sichergestellt sein, nämlich - auf der Linie des Unterschiedenseins von Symbolisierung und zu symbolisierenden Gegebenheiten - die Vermeidung der Gefahr, die Symbole für die Sachen zu nehmen, den Gleichlaut der Symbole für die Identität der jeweils intendierten Sache? Müsste, um dies zu verhindern, nicht danach gefragt werden, wie die Sachen selbst im Unterschied zu den Texten, die ihr schon Verstandenwordensein dokumentieren, von sich aus selbst begegnen, also danach, wie sie gegeben werden als noch zu verstehende und noch zur Sprache zu bringende? Müsste also nicht gefragt werden, in welcher Bezogenheit auf das ihm Gegebene durch das ihm Gegebene der jeweils zum Gesprächspartner gewählte Autor steht? Ja, müsste nicht allem zuvor gefragt und ausdrücklich beantwortet werden, in welcher Bezogenheit auf das ihm Gegebene der glaubende Mensch bzw. der Glauben auslegende Theologe durch das ihm Gegebene in jedem Einzelfall steht - konkret also Wolfhart Pannenberg selbst?

Eine explizite Beschäftigung mit dieser Grundfrage habe ich möglicherweise überlesen, aber die implizite Antwort, die Pannenbergs Texte (sowohl die Systematische Theologie als auch die hier angezeigte Aufsatzsammlung) bieten, ist einigermaßen klar: Pannenberg ist als theologischer Autor zuerst und zuletzt auf das Gegebensein des menschlichen Daseins bezogen und wird durch das Gegebensein menschlichen Daseins zu dessen Verstehen bestimmt. Ausdrücklich bezieht Pannenberg sich auf den Gottesgedanken als Gegebenheit innerhalb der Gegebenheit der Religion innerhalb der Gegebenheit des Menschseins, was eben nur dann ein wahrheitsfähiges Sichbeziehen ist, wenn es stattfindet auf Grund und vermöge des durch das Gegebensein des Menschseins bestimmten vorgängigen Bezugs auf das Gegebensein des Menschseins als eines für einen bestimmten Menschen- eben den theologischen Autor Wolfhart Pannenberg - zu verstehenden. Hat folglich das Bezogensein durch das gegebene Menschsein auf das gegebene Menschsein, in dem die gesamte wissenschaftliche Arbeit und Textproduktion dieses Autors möglich ist und stattfindet, eine andere Struktur als die menschlicher Selbstbezogenheit, also derjenigen Befindlichkeit, die - weil für ihn und unseresgleichen passiv konstituiert - älter ist als unsere freie Selbstbeziehung und diese allererst möglich macht und unabweisbar verlangt? Ist überhaupt irgendeine verantwortliche menschliche Lebensäußerung, einschließlich der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit und Textproduktion, denkbar, die sich außerhalb dieser elementaren und unhintergehbaren Selbstbezogenheit bewegen könnte? Haben klassische Autoren, die diese Befunde zukunftsweisend beschrieben haben- wie beispielsweise F. D. E. Schleiermacher -, die Differenz zwischen jener vorgängigen Selbstbezogenheit und den vermöge ihrer vollzogenen freien Akten der Beziehung des Menschen auf sich selbst sowie den Zusammenhang zwischen beidem übersehen? Haben sie weniger zur Sprache gebracht durch den von ihnen gewählten Ausdruck "Selbstbewusstsein" (im gewählten Beispiel noch unter ausdrücklicher Hinzufügung der Unterscheidung [nicht Trennung] zwischen "unmittelbarem" und aktiv "reflektiertem")? Ist es also nötig oder auch nur ratsam, den Einstieg einer wissenschaftlich disziplinierten Selbstauslegung des Glaubens - wie irgendeiner sich über ihr Tun nicht hinwegtäuschenden wissenschaftlichen Tätigkeit - nicht nur nicht ausdrücklich zu thematisieren und zuzugeben, sondern ihn im Gegenteil auf eine verengte Bedeutung zu fixieren und dann (II 11.99.109. 128) geflissentlich zu vermeiden? Kann insbesondere die Inanspruchnahme von "allgemeiner Erfahrung" als des gemeinsamen Fundaments aller erweisbaren vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Wahrheit umhin, sich im Medium von Selbstbewusstsein in dem eben angedeuteten konkreten Sinne zu bewegen? Gibt es dazu eine Alternative? Wäre es also nicht ratsam, statt die Anerkennung dieses Sachverhalts schweigend zu übergehen und den Anschein zu erwecken, als ließe sich dieser Ausgangspunkt durch irgendeinen gehaltreicheren überwinden, vielmehr eben diesen unumgänglichen Ausgangspunkt allen sich selbst recht verstehenden Wirklichkeitsverstehens als solchen ausdrücklich zu markieren und konkret zu explizieren als das umfassende Medium für alle mögliche Wirklichkeitsexplikation durch Menschen, also auch für die Glaubensexplikation? Könnte man nicht eben dafür (also für eine solche Explikation von Selbstbewusstsein als des jenseits der kantisch-dualistischen Engführung seines Verständnisses und vor seiner Beschränkung auf eine relativ späte Form des Selbstverhältnisses des Menschen stehenden, die Bestimmung des Menschen zum Verstehen der Wirklichkeit konstituierenden Mediums jedes möglichen wahren Verstehens von Wirklichem und darum auch jeder möglichen Verständigung über strittige Verständnisse) Grundlegendes von Klassikern lernen, etwa aus der Dialektik Schleiermachers? Kurzum: Lässt sich nicht nur behaupten, sondern auch zeigen, dass säkulare, natur- und humanwissenschaftliche Wirklichkeitserkenntnis dieselbe Sache, dieselbe Gegebenheit, meint wie der Glaube und die Theologie und dass sie in deren Sicht dieser Gegebenheit (Sache) zu integrieren ist? Lässt sich das zeigen, ohne nach der Gegebenheitsweise des zu Verstehenden dort und hier zu fragen, ohne die Identität dieser Gegebenheitsweise aufzuzeigen und dann innerhalb ihrer die Differenz und die Zusammengehörigkeit der Sachverhalte zu zeigen, auf die hier und dort die Aufmerksamkeit gerichtet ist?

Des Weiteren: Gelten derartige Anforderungen nur für den Dialog mit den Natur- und Humanwissenschaften oder nicht auch für den Dialog mit anderen theologischen Schulen bzw. mit der Theologie anderer christlicher Konfessionen? Auch hier muss- das ist das Fundament der ökumenischen Zuversicht des Glaubens selbst - mit der Differenz zwischen vollzogener und sprachlich fixierter Symbolisierung dessen gerechnet werden, was dem Glauben, und damit auch der Theologie, zu verstehen gegeben ist, und dem ihnen zu verstehen gegebenen Ereignis selbst. Muss aber dann nicht auch gefragt werden, wie die Gesprächspartner diese dem Glauben und der Theologie zu verstehen gegebene Sache selbst und die Weise, in der es zu verstehen gegeben ist, sehen? Wenn die dem Glauben und der Theologie zu verstehen gegebene Sache die Wahrheit des Evangeliums ist, muss dann nicht gefragt werden, wie diese selbst dem Glauben und der Theologie zu verstehen gegeben ist? Kann man im ökumenischen Dialog darauf verzichten, darüber zu sprechen, also über "Offenbarung"? Und liegen nicht hier die tatsächlichen Differenzen zwischen Luther und Rom: eben in der Frage, wie die Wahrheit sich selber gibt und ihre Autorität zur Geltung bringt?

Ferner: Kann man mit den ökumenischen Partnern darüber sprechen, ohne zuvor sich selbst gefragt und Rechenschaft darüber gegeben zu haben, was dem Glauben und der Theologie zu verstehen gegeben ist und auf welche Weise? Wenn das die Erfahrung von Geschichte, und zwar genau der in der Auferweckung Jesu zu ihrem innerweltlichen Ziel kommenden Geschichte, sein soll, wäre zu fragen: Inwiefern ist dieses Geschehen seiner Art nach so beschaffen, dass es dem Glauben seine Sache zu verstehen gibt?

Nun kann die Antwort auf diese Frage sicher nicht an der Befragung des biblischen Zeugnisses vorbei gegeben werden. Aber kann man diese Befragung durchführen, ohne auch gegenüber den biblischen Zeugen mit der Differenz (nicht Getrenntheit) zwischen Symbolgestalt des Zeugnisses und bezeugter Sache zu rechnen? Muss ich nicht auch sie danach fragen, was sie über die Weise, in der ihnen die von ihnen bezeugte Sache als zu bezeugende gegeben ist, implizit oder auch explizit zu erkennen geben? Und kann ich das, ohne dass ich mich zuvor selbst gefragt und mir darüber Rechenschaft gegeben habe, von welcher Art die Weise des Gegebenwerdens just derjenigen Sache ist, die dem Glauben zu verstehen gegeben ist? Dass eine solche Frage und Antwort vor der Prüfung der Texte gegeben wird, ist die Bedingung dafür, dass das Vorverständnis des Exegeten durch die Texte korrigiert werden kann. Erfüllen die Auskünfte, die Pannenberg- in der Systematischen Theologie und in der hier angezeigten Aufsatzsammlung - zum biblischen Offenbarungsverständnis gibt, diese Anforderungen? Resultiert aus ihnen sach- liche Klarheit über das Geschehen von Offenbarung als das Geschehen, durch das dem Glauben die Wahrheit Gottes zu verstehen gegeben wird? Ich habe diese Klarheit nicht gefunden.

Damit aber bleibt für mich auch die Frage offen, wie denn das "Bündnis zwischen Glaube und Vernunft" (37) der Sache nach beschaffen sein soll, von dem Pannenberg die Überwindung der gegenwärtigen Privatisierung der christlichen Glaubensüberzeugungen erwartet. Ist das im Sinne der Übereinstimmung von übernatürlicher und natürlicher Erkenntnis gemeint, von der das Erste Vatikanum spricht? Dann würde eine Unklarheit durch eine andere ersetzt. Ist es im Sinne von Schleiermacher an Lücke gemeint - dann hätte das gesagt werden müssen. Der informierte Leser erinnert sich an einschlägige Äußerungen in einer früheren Arbeit Pannenbergs,38 welche die Glaubensgewissheit mit der Gewissensgewissheit identifiziert, die das "im Selbstbewußtsein erschlossene Endgültige" beinhaltet und die auf der "durch das Gewissen selbst vermittelten Selbstevidenz der göttlichen Wahrheit" "beruht": Gleichwohl sei sie (die Gewissensgewissheit) jedoch einerseits in den Prozess der "mit Einzelerfahrung und Begriffsbildung verbundenen Reflexion" eingebettet, durch den sie geklärt, aber nicht eingeholt wird, und andererseits stelle sie eine "subjektive" Prolepse dar, von der gilt: Diese "Vorwegnahme ist nur dann wahr, wenn ihr die Vorweggabe der göttlichen Wahrheit selber entgegenkommt" (263).

Darf man diese expliziteren Passagen immer noch als Auslegungshorizont der Kurzformel heranziehen? Dann wäre also die Vernunft der Gesamtzusammenhang der die Verarbeitung von Einzelerfahrung und Begriffsbildung verbindenden Reflexion? Wie arbeitet diese? Woher kommt es, dass sie zur Klärung der Glaubensgewissheit beitragen kann? Das wäre nur möglich, wenn sie wesentlich mit der Glaubensgewissheit verbunden ist. Wie? Etwa so, dass die Glaubensgewissheit der immer präsente Möglichkeitsgrund der Vernunftreflexion und folglich die Glaubens-/Gewissensgewissheit konstitutiv ist für die Vernunftreflexion? Wie sind dann Glaubensgewissheit und Vernunftreflexion je für sich und wie ist ihr Zusammenhang beschaffen, so dass letztere erstere zu klären vermag? Und vor allem: Wie ist die Glaubensgewissheit selbst konstituiert, wenn sie von der Vernunftreflexion nur geklärt, aber nicht geschaffen oder widerlegt wird? Wenn sie - wie der zitierte Text sagt - auf der "durch das Gewissen vermittelten Selbstevidenz der göttlichen Wahrheit" "beruht", wie verhalten sich dann die Vermittlung durch das Gewissen und die Selbstevidenz der göttlichen Wahrheit zueinander?

Wenn die "Selbstevidenz der göttlichen Wahrheit" wirkt, dann ist damit eine Falsifikation ausgeschlossen (es sei denn, es handelt sich um die Selbstevidenz der Wahrheit eines allmächtigen Lügendämons und nicht um die Selbstevidenz der Allmacht, die in sich selbst "Gnade und Wahrheit", also Wahrhaftigkeit, ist). Auffassungen der Glaubensgewissheit als fallible "Hypothesen" können dann nur fehlgehende Fremdinterpretationen sein. Liest man es aber nicht in der Systematischen Theologie wiederum anders (I, 66)? Aus welcher Perspektive gilt die Kennzeichnung der in der Theologie ausgelegten Glaubensinhalte als Hypothese: nur aus der Außenperspektive (Grundfragen 2, 264)? Oder auch aus der Perspektive des Glaubens selbst? Oder aus einer dritten Perspektive über beiden? Gibt es die? Und dann: Was meint die Rede von der "Vermittlung" der Selbstevidenz der göttlichen Wahrheit durch eine endliche Instanz, hier: das Gewissen? Begründet die Selbstevidenz der göttlichen Wahrheit das Gewissen in seiner Vermittlungsfähigkeit oder vermittelt das Gewissen die Selbstevidenz der göttlichen Wahrheit? Oder ist die Alternative ungültig? Wenn ja - warum und in welchem Sinne?

Dieselbe Frage wiederholt sich im Blick auf das Verhältnis von Gewissheit und Gemeinschaft. Ist Gemeinschaft die Bedingung für Gewissheit (Beiträge 3, 182) oder Gewissheit die Bedingung für Gemeinschaft? Das gesamtbiblische Zeugnis weist jedenfalls klar darauf hin, dass die aus der Selbstvergegenwärtigung der göttlichen Wahrheit entspringende Gewissheit das Fundament von Gemeinschaftsbildung ist (Ex 3,14, Lk 24).
Wenn die Alternative unzulänglich ist, dann wiederum - warum und in welchem Sinne?

Die Frage hat praktische Relevanz: Wenn die Selbstvergegenwärtigung der Wahrheit Gottes von Gemeinschaft abhängt, dann muss das Bröckeln und Schwachwerden von Gemeinschaft ängstigen, weil es zusammenfällt mit dem Bröckeln und Schwachwerden des Gewissheitsfundamentes. Wird hingegen Gemeinschaft durch die Selbstvergegenwärtigung der Wahrheit Gottes gestiftet und getragen, dann ist das Bröckeln und Schwachwerden von Gemeinschaft - soweit es sich wirklich darum und nicht um Transformationen der Gemeinschaft handelt - kein Grund zur Angst, sondern nur zur Anerkennung von Gottes gerechtem Gericht.

Die Liste von Fragen ließe sich verlängern:

Erstens in hermeneutischer bzw. exegese-theoretischer Hinsicht: Kann die Exegese der biblischen Zeugnisse, wenn sie wirklich frei ist, auf Grund der konkreten Bedingungen ihres Vollzuges je andere als im Streit bleibende Ergebnisse zeitigen? Kann Pannenbergs Vertrauen in eindeutige streitentscheidende Ergebnisse der wissenschaftlichen Exegese berechtigt sein? Wenn nein, wie wird dann die Schrift als Kanon zu Gunsten der Einheit der christlichen Gemeinschaft wirksam? Nur unter Berufung auf die Letztentscheidungsgewalt irgendeiner Instanz oder auch ohne eine solche Autorität?

Zweitens in historischer Richtung: Ist wirklich der Verlust der kirchlichen Einheit die Ursache des westlichen Pluralismus und Säkularismus? Sind nicht vielmehr umgekehrt vorgängige Pluralisierungstendenzen in den europäischen Gesellschaften schon die Bedingung für das Zustandekommen der Kirchenspaltung und damit die Bedingung gerade für das Überleben der Reformation und das Wirksamwerden ihres Freiheitserbes?

Drittens in gesellschaftstheoretischer Richtung: Ist wirklich für den Zusammenhalt und Bestand jeder Gesellschaft das Fundament einer einheitlichen religiösen Kultur unverzichtbar? Spricht dafür die Natur der Sache, die geschichtliche Erfahrung oder das biblische Zeugnis?

Aber die Reihe der Fragen sei hier mit einer letzten geschlossen: Bemisst sich vielleicht der Rang eines systematisch-theologischen Entwurfs an der Fülle der wichtigen Fragen, die er weckt und offen lässt? Jedenfalls darf systematisch-theologische Arbeit großen Stils nicht langweilig sein. Sie muss stimulieren. Genau das tut Pannenbergs Systematische Theologie in der Form, in der sie in den angezeigten Bänden vorliegt.

Fussnoten:

* Pannenberg, Wolfhart: Beiträge zur Systematischen Theologie. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Bd. 1: Philosophie - Religion - Offenbarung. 1999. 328 S. Bd. 2: Natur und Mensch - und die Zukunft der Schöpfung. 2000. 296 S. Bd. 3: Kirche und Ökumene. 2000. 391 S. Gesamtwerk gr.8. Kart. Euro 212,00. ISBN 3-525-56161-X.

1) "Das Heilige in der modernen Kultur" (1994), 11-26.

2) "Ein theologischer Rückblick auf die Metaphysik" (1995); "Fichte und die Metaphysik des Unendlichen" (1992); "Religion und Metaphysik" (1987); "Christentum und Platonismus" (1985); "Die Rationalität der Theologie" (1992); "Die Bedeutung der Kategorien Teil und Ganzes für die Wissenschaftstheorie der Theologie" (1978).

3) "Sinnerfahrung, Religion und Gottesfrage" (1984).

4) "Das Irreale des Glaubens" (1983).

5) "Religiöse Erfahrung und christlicher Glaube" (1993).

6) "Religion und Religionen" (1987).

7) "Das Christentum - eine Religion unter anderen" (1996).

8) "Das Problem des Mythos und der christliche Offenbarungsglaube" (1987).

9) "Eine philosophisch-historische Hermeneutik des Christentums" (1991).

10) "Offenbarung und Offenbarungen im Zeugnis der Geschichte" (1985); "Offenbarung als Kategorie philosophischer Theologie" (1994).

11) "Zur Begründung der Lehre von der Schriftinspiration" (1996); "Problems in a Theology of [Only] the Old Testament" (1997); "Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben" (1997).

12) "The Historical Jesus as a Challenge to Christology" (1998); "A Theology of the Cross" (1998); "Die Auferstehung Jesu - Historie und Theologie" (1994); "History and the Reality of the Resurrection" (1996).

13) "Das christliche Gottesverständnis im Spannungsfeld seiner jüdischen und griechischen Wurzeln" (1986); "Judentum und Christentum: Das Besondere des Christentums" (1984).

14) "Gott und die Natur. Zur Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Theologie und Naturwissenschaft" (1983); "Theologie der Schöpfung und Naturwissenschaft" (1995); "Das Wirken Gottes und die Dynamik des Naturgeschehens" (1995).

15) Die Integration ist eine notwendige Bedingung für das Wahrsein der christlichen Wirklichkeitssicht, nicht aber schon die hinreichende.

16) "Geist und Energie. Zur Phänomenologie Teilhards de Chardin" (1971).

17) "Geist als Feld - nur eine Metapher?" (1996).

18) "Kontingenz der geschöpflichen Wirklichkeit" (1994).

19) "Die Frage nach Gott als Schöpfer und die neuere Kosmologie" (1996).

20) "Eine moderne Kosmologie: Gott und die Auferstehung der Toten" (1997), dort 96.

21) "Humanbiologie - Religion - Theologie" (1988), dort 103 f.

22) "Human Life: Creation versus Evolution?" (1998).

23) "Bewußtsein und Geist" (1983), dort 134.

24) "Der Mensch - ein Ebenbild Gottes" (1968); "Christliche Anthropologie und Personalität" (1975); "Der Mensch als Person" (1986).

25) "Macht der Mensch die Religion, oder macht die Religion den Menschen?" (1980); "Religion und menschliche Natur" (1986).

26) "Identität und Wiedergeburt" (1979); "Auf der Suche nach dem wahren Selbst" (1982); "Christliche Wurzeln des Gedankens der Menschenwürde" (1991).

27) "Fluch und Segen der Arbeit" (1986); "Die Maßlosigkeit des Menschen" (1979).

28) "Aggression und die theologische Lehre von der Sünde" (1977); "Sünde, Freiheit, Identität - Eine Antwort an Thomas Pröpper" (1990); "Die christliche Deutung des Leidens" (1998).

29) "Die Aufgabe christlicher Eschatologie" (1995); "Das Nahen des Lichts und die Finsternis der Welt" (1992).

30) "Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden" (1996); "Pluralismus als Herausforderung und Chance der Kirche" (1993); "Angst um die Kirche. Zwischen Wahrheit und Pluralismus" (1993); "Zwischen Skepsis und Hoffnung: Zur Lage der Kirchen in Deutschland" (1997); "Christianity and the West: Ambiguous Past, Uncertain Future" (1994).

31) "Christsein und Taufe" (1984); "Die Bedeutung von Taufe und Abendmahl für die christliche Spiritualität" (1996); "Thesen zum Abendmahl" (1991).

32) "Abendmahlsverwaltung und Ordination" (1988); "Die Ordination zum kirchlichen Amt" (1988); "Das kirchliche Amt in der Sicht der lutherischen Lehre" (1990); "Bemerkungen zu den Ausführungen über das kirchliche Amt im Gutachten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen über die Studie Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" (1983); "Die Lima-Texte und die Diskussion um das Amt" (1983); "Das kirchliche Amt und die Einheit der Kirche" (1995); "Lutherans and Episcopacy" (1998); "Gospel and Church: The Proposed Concordat between Lutheran and Episcopal Churches in the USA" (1995).

33) "Reformation und Kirchenspaltung" (1986); "Reformation und Einheit der Kirche" [1975], "Das protestantische Prinzip im ökumenischen Dialog" (1991); "Die Bedeutung des Bekenntnisses von Nicaea-Konstantinopel für den ökumenischen Dialog heute" (1982).

34) "Bleiben in der Wahrheit als Thema reformatorischer Theologie" (1995); "Überlegungen zum Problem der Bekenntnishermeneutik in den evangelischen Kirchen" (1998); "Evangelische Überlegungen zum Petrusdienst des römischen Bischofs" (1998); "Der Schlussbericht der anglikanisch-römisch-katholischen Internationalen Kommission und seine Beurteilung durch die römische Glaubenskongregation" (1983); "Die lutherische Tradition und die Frage eines Petrusdienstes an der Einheit der Christen" (1996).

35) "Die Arbeit von Faith and Order im Kontext der ökumenischen Bewegung" (1982); "Lima - pro und contra" (1986); "Die zukünftige Rolle von Glauben und Kirchenverfassung in einer säkularisierten Welt" (1989).

36) "Eine Grundlage für die Einheit? Über die Katholizität des Augsburger Bekenntnisses" (1976 f.); "Der Vater im Glauben - Luthers ökumenische Aktualität" (1996); "Das Verhältnis zwischen der Akzeptationslehre des Duns Scotus und der reformatorischen Rechtfertigungslehre" (1978); "Die Rechtfertigungslehre im ökumenischen Gespräch" (1991); "Die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre aus evangelischer Sicht" (1998); "Neuer Konsens, entschärfte Gegensätze und protestantische Ängste" (1998); "These zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" (1998).

37) "Die Überwindung der gegenseitigen Verurteilungen als Schritt zur kirchlichen Gemeinschaft" (1996); "Müssen sich die Kirchen immer noch gegenseitig verurteilen?" (1992); "Projekt: Lehrverurteilungen. Eine Stellungnahme" (1995).

38) "Wahrheit, Gewißheit und Glaube" (1978), in: Grundfragen Systematischer Theologie, 1980, 228-264.