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Ausgabe: | Februar/2003 |
Spalte: | 234–240 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Kraus, Wolfgang |
Titel/Untertitel: | Der Kommentar zum 1. Korintherbrief von Wolfgang Schrage* |
Der Kommentar zum 1. Korintherbrief von Wolfgang Schrage*
Die folgende Besprechung bezieht sich auf den zwischen 1991 und 2001 in vier Bänden erschienenen Kommentar zum 1Kor von Wolfgang Schrage. Einen solch monumentalen Kommentar von annähernd 2000 Seiten erschöpfend besprechen zu wollen, kann nicht die Absicht einer Rezension sein. Vielmehr wird es nur darum gehen können, an ausgewählten zentralen Themen Schrages Kommentierung zu würdigen und bei der Leserin und dem Leser Interesse zu wecken, selbst in den Kommentar zu schauen und sich von Schrages Auslegung inspirieren zu lassen.
1. Einleitungsfragen zum 1Kor
Was die klassischen Einleitungsfragen angeht, so bewegt sich Schrage im Rahmen der Mehrheitsmeinung. Es ist festzuhalten, dass er keine monokausalen religionsgeschichtlichen Ableitungen vornimmt, sondern von einem sehr differenzierten religionsgeschichtlichen Hintergrund des 1Kor ausgeht. Die Einheitlichkeit des Briefes wird von Schrage trotz berechtigter Bedenken angenommen, da diese Bedenken nach seiner Meinung nicht von "bezwingender Stringenz" sind (I.70). Hinsichtlich rhetorischer Kategorien ordnet Schrage den 1Kor primär dem paränetisch-symbuleutischen Brieftyp zu (I.87 f.), macht jedoch von vornherein deutlich, dass die paulinischen Briefe und insbesondere der 1Kor sich den antiken Brieftypen nicht einfach einordnen lassen (I.84 f.88 f.). Wichtig erscheint mir, dass Schrage in Abschnitt 3.2.7 den 1Kor dezidiert als Brief und nicht als Rede interpretiert (I.84 f.). (Ob die Abschnitte 3.2.1 bis 3.2.6 angesichts des von Anfang an abzusehenden Umfangs unbedingt in einen Kommentar zum 1Kor und nicht eher in eine Vorlesung gehören, kann man diskutieren.)
Bei der Beschreibung der Gründung der Gemeinde in Korinth und ihrer soziologischen Zusammensetzung verwendet Schrage neben den aus dem Brief selbst zu erschließenden Fakten zustimmend die Daten, die die Apg liefert (I.29 ff.). Die Datierung erfolgt unter Beiziehung der Gallio-Inschrift (52 n.Chr.), des Claudius-Ediktes (49 n. Chr.) und der Angaben aus Apg 18 und 19 gegen Ende des ephesinischen Aufenthaltes, d. h. ins Frühjahr 54 oder 55 n. Chr. Einen Zwischenbesuch des Paulus in Korinth, der vor der Abfassung des 1Kor stattgefunden haben könnte, lehnt Schrage ab (I.36). Der in 1Kor 5,9 genannte Vorbrief muss nach Schrage als verloren gelten (I.37. 65).
Aufbau und Gliederung des 1Kor entsprechen in Schrages Kommentar - was die entscheidenden Zäsuren angeht - im Wesentlichen dem, was man etwa auch in den Kommentaren von Helmut Merklein (ÖTK) und Christian Wolff (ThHK) findet. Während jedoch Merklein 5,1-6,20 als II. Hauptteil (Reinheit und Heiligkeit der Gemeinde) und 7,1-14,40 als III. Hauptteil (Regeln für das Gemeindeleben) zusammenfasst, Wolff hingegen 5,1-7,40 (Der Christ und sein Leib), 8,1-11,1 (Der Christ und das Götzenopferfleisch) und 11,2-14,40 (Probleme bei der Feier des Gottesdienstes der korinthischen Gemeinde) untergliedert, sieht Schrage zwischen 5,1 und 14,40 vier Abschnitte auf gleicher Ebene stehen: 5,1-6,20: konkrete Missstände in der Gemeinde und ihre Bewertung durch den Apostel; 7,1-40: Mann und Frau; 8,1-11,1: Die Frage des Essens von Götzenopferfleisch; 11,2- 14,40: Gottesdienstfragen. Einigkeit besteht hinsichtlich der Zäsuren bezüglich Eingangsteil, Auferstehungskapitel und Schlussteil (nach 4,21 vor 5,1, nach 14,40 vor 15,1 und nach 15,58 vor 16,1). Theologisch interessant ist die Gliederung Schrages im Blick auf die Frage, ob bzw. wie eng 7,1-40 mit dem vorhergehenden Abschnitt 5,1-6,20 zusammengehört. Ob es sich bei den mit peri de eingeführten Abschnitten im 1Kor jeweils um Reaktionen auf konkrete Anfragen aus Korinth handelt, ist nach Schrage "sehr die Frage" (I.91).
2. Korinthische Theologie
Bei der Frage nach der korinthischen Theologie als Hintergrund des Schreibens des Paulus geht Schrage zunächst breit und hilfreich auf methodische Probleme zu deren Rekonstruktion ein und warnt insgesamt vor der Illusion, ein konsistentes Gesamtbild erreichen zu können, da man über "Möglichkeiten und Hypothesen" häufig nicht hinauskommt (I.53). Den 2Kor als Rekonstruktionsbasis mit heranzuziehen, lehnt er auf Grund der völlig veränderten Situation, die sich darin spiegelt, mit Recht ab(I.39). Was die sachlichen Schwerpunkte der korinthischen Theologie angeht, so diskutiert Schrage zunächst die Möglichkeiten von Judaismus, Ultrapaulinismus, Frühpaulinismus, Nachwirkung vorpaulinischer Tradition und Gnosis, die abgelehnt werden (I.47-53). Brennpunkte korinthischer Theologie sieht er dagegen in der Frage von Libertinismus und Askese, der Weisheitshypertrophie, einer Art realisierter Eschatologie, einem enthusiastisch-emanzipatorischen Pneumatismus, der Leugnung und Spiritualisierung der Auferstehung, einer dualistischen Weisheit und neben solchen Irrlehren auch in einer "Irrpraxis" (I.53-63). Entscheidend ist, dass dem Versuch widerstanden wird, trotz bestehender Verbindungen zwischen den verschiedenen Aspekten, ein und dieselbe Problemlage durchgängig hinter all den Erscheinungen finden zu wollen. Was die korinthischen Parteien angeht (Schrage hält an dem von F. C. Baur eingeführten Ausdruck fest), so macht Schrage am Beginn eines Exkurses zu 1Kor 1,12 deutlich, dass wir - bei Licht besehen - "im Grunde über die einzelnen Gruppen so gut wie nichts" wissen (I.142).
3. Kreuzestheologie
1Kor 1,18-2,5 hat Schrage überschrieben: "Das Wort vom Kreuz als Grund und Kriterium von Gemeinde und Apostel" (I.165). Es ist unbestreitbar, dass die Kreuzestheologie im 1Kor eine prominente Stellung innerhalb des Corpus Paulinum einnimmt. Der Weisheitstheologie setzt Paulus das Wort vom Kreuz entgegen. Dabei geht es Paulus weder um das Kreuz "als historisches Ereignis", noch als "abstrakte Chiffre", sondern als "geschichtliche Macht der Gegenwart" - und eben deshalb um das "Wort vom Kreuz" (I.171). Paulus wendet sich nicht vordergründig gegen jegliche "Denkbemühung des philosophierenden Menschen" (ebd.), sondern hebt ab auf die Paradoxie und Absurdität des Kreuzeslogos, der für den "natürlichen wie religiösen Menschen" nichts anderes als "anstößig" sein kann (I.172). Es ist positiv hervorzuheben, dass in einer Zeit, in der die Möglichkeit einer Verkündigung des Kreuzes gegenüber dem modernen Menschen vielfach in Frage gestellt wird, W. Schrage hier keine vorschnellen Problematisierungen vornimmt, sondern versucht, den sachlichen Gehalt des paulinischen "Wortes vom Kreuz" herauszuarbeiten. Schrage erweist sich in diesem Kontext als echter Schüler Ernst Käsemanns. Wie die Auslegungsgeschichte zeigt, hat nicht erst das 20. Jh. seine Probleme mit der paulinischen Kreuzestheologie gehabt. Schon für die Alte Kirche gilt: "Die Tiefe der paulinischen Kreuzestheologie ist ... kaum je eingehalten worden" (I.192 ff. Zitat: 193). Theologie, die dem Evangelium gemäß sein will, sollte sich hüten, die reformatorische Wiederentdeckung der paulinischen Kreuzestheologie und ihrer zentralen Bedeutung, die nicht nur für Protestanten gilt, sondern allgemein christliche Gültigkeit beanspruchen kann, um das Linsengericht einer etwaigen Modernität preiszugeben (vgl. auch die Ausführungen zu 1Kor 15,3 in IV.31 ff.81 f.).
4. Ansatz der Rechtfertigungslehre, Gerechtigkeit Gottes im 1Kor, Entwicklung der paulinischen Theologie
Ein Überblick über die Briefe des Paulus zeigt, dass die paulinische Rechtfertigungslehre in terminologisch eindeutig fassbarer Form im Gal, im 2Kor, im Röm und im Phil vorkommt. Die Begrifflichkeit "Gerechtigkeit Gottes" begegnet nur in 2Kor 5,21; Röm 1,17; 3,4 f.; 3,21-26; 10,3 und Phil 3,9 (hier jedoch e ek theou dikaiosyne). Die Frage nach dem Ansatz der paulinischen Rechtfertigungslehre und die Möglichkeit einer Entwicklung der paulinischen Theologie - speziell seiner Rechtfertigungslehre - wird seit langem kontrovers diskutiert. Wie lässt sich Schrages Position ausgehend vom 1Kor kennzeichnen? Für die Beurteilung des 1Kor sind in erster Linie einschlägig: 1,30; 6,11; 15,56 (daneben werden diskutiert 1,17; 4,15; 9,12-18). Eine Nähe zur Rechtfertigungsbotschaft findet Schrage bereits in 1,28: Gott will "seine iustitia salutifera manifestieren" (I. 212, kursiv im Original). "Daß Gott die Habenichtse erwählt, ist wie die Rechtfertigung der Gottlosen ein Akt der Totenauferweckung und der Schöpfung aus dem Nichts" (I.212). Diese Nähe wird verstärkt in 1,29: "Ein Blick auf Röm 3,27 läßt sofort die Analogie zur Rechtfertigungsbotschaft erkennen" (I. 212 f.). Dabei sind Selbstruhm und Selbstvertrauen kein "spezielles Charakteristikum jüdischer Gesetzesfrömmigkeit", sondern Ausdruck der "Grundsünde des Menschen überhaupt" (I. 213).
Zu 1,30 notiert Schrage zu Recht, dass durch das ÙÂ die beiden Begriffe dikaiosyne und agiasmos enger miteinander verbunden sind (I.215). Inhaltlich versteht er dikaiosyne wie in 2Kor 5,21 als "abstractum pro concreto" (I.215, kursiv im Original). Gott ist Subjekt und Ursprung der Gerechtigkeit, deshalb ist hier im Sinn von "Gerechtigkeit Gottes" zu verstehen (I.216). "Daß Paulus die Heilsmacht und Heilsgabe der Gerechtigkeit hier überhaupt nennt, ohne von der korinthischen Si-tuation dazu genötigt zu sein, bestätigt, daß die paulinische Rechtfertigungslehre, die auch hier nicht einfach forensisch-imputativ zu verstehen ist, keine bloße Nebenlinie oder antijudaistische Kampfeslehre bildet" (I.216).
Abgesehen von dem zu Recht abgelehnten Verständnis der Rechtfertigungslehre im Sinn einer Kampfeslehre oder eines Nebenkraters paulinischer Theologie wird man gleichwohl festhalten müssen, dass (1) das Stichwort "Gerechtigkeit Gottes" in 1Kor 1,30 so nicht begegnet. Vielmehr ist von Christus die Rede, der uns "von Gott her" (apo tou theou) zur Gerechtigkeit wie auch zur Heiligung und zur Erlösung (Befreiung) gemacht wurde. (2) Die "Gerechtigkeit" ist gegenüber den anderen Begriffen (Weisheit, Heiligung, Erlösung) gerade nicht besonders hervorgehoben. (3) Die Struktur der Aussage in 2Kor 5,21 ist signifikant unterschieden von der in 1Kor 1,30. Es heißt dort ina emeis genometha dikaiosyne theou en auto. Es bleibt daher für 1Kor 1,28-30 m. E. unzweifelhaft eine "Nähe" zur Rechtfertigungslehre, wie sie im Gal und Röm begegnet, man sollte jedoch zugestehen, dass bis zu den Formulierungen des Gal und Röm noch weitere Stufen der Entfaltung zu erfolgen hatten.
1Kor 6,11 wird von Schrage als vorpaulinische Tauftradition verstanden, wobei der "ursprüngliche Sinn von Gerechtfertigtwerden im Kontext der vorpaulinischen Tauftradition ... unklar" bleibt (I.427). Die gegenüber 1Kor 1,30 umgekehrte Reihenfolge von Heiligung und Rechtfertigung lässt keine weitergehenden Schlüsse zu (I.428). Im paulinischen Kontext ist nach Schrage jedenfalls im Sinn des "Wirksamwerden[s] der Gerechtigkeit Gottes" zu interpretieren (I.433). Auch hier möchte man fragen, ob 1Kor 6,11 nicht doch zu stark von Aussagen des Röm her interpretiert wird.
1Kor 15,56 wurde vielfach als sekundäre Glosse angesehen. Schrage nennt als wesentliches Argument, das auch er gelten lässt, die "fehlende Einbettung in den Kontext" (IV.365 f.). Eine sinnvolle Einbindung in den Kontext sei jedoch nicht unmöglich. Die These, wonach die Aussage mit einer bestimmten Entwicklung der paulinischen Theologie nicht konform gehe, lässt Schrage - als argumentum e silentio - nicht gelten (IV. 366). In seiner Interpretation versteht Schrage die Aussage als Versuch, "die Auferstehungsthematik mit der paulinischen Botschaft vom Sieg der Gottesgerechtigkeit zusammenzudenken" (IV.382). Vom Gesamtzusammenhang her ergibt sich, "daß die Auferweckung den Sieg der Gerechtigkeit Gottes demonstriert und darin auch der Triumph über Sünde und Tod eingeschlossen ist" (IV.382). Vielleicht ist gerade die Sperrigkeit des Verses und seine mangelnde Einbindung in den Kontext ein Hinweis darauf, dass die Entfaltung der paulinischen Theologie noch nicht abgeschlossen ist.
5. Ekklesiologie: Synagoge-Ekklesia, Geistesgaben, Leib Christi
In 1Kor 1,2 spricht Paulus die Gemeinde in Korinth als ekklesia tou theou an. W. Schrage hatte in seinem Artikel Synagoge und Ekklesia in ZThK 60, 1963, 178-202, die Begrifflichkeit Ekklesia auf die Hellenisten in Jerusalem zurückgeführt. Sie habe sich von der jüdischen Gemeinde bewusst absetzen wollen (a. a. O., 192-198). Die Wahl des Begriffes sei motiviert durch das "Bewußtsein einer Diskontinuität gegenüber einer durch das Gesetz gekennzeichneten Vergangenheit" (a. a. O., 199 f.). Hierzu ist im Kommentar eine leichte Modifikation erkennbar. Schrage erwägt: "Ob die Gemeinde dabei (scil. in der Aufnahme dieser Bezeichnung) in heilsgeschichtliche Kontinuität zum alttestamentlichen Bundesvolk gestellt wird, also als ekklesia das wahre Israel repräsentiert, ist ungewiß, auch wenn das bei der Wahl der Selbstbezeichnung mitgespielt haben könnte. Vom Sprachgebrauch der LXX hätte aber synagoge als Selbstbezeichnung ... näher liegen müssen ... So werden auch andere Momente bei der Wahl des Begriffes ekklesia mitgesprochen haben" (I.102). Die These, dass in der Aufnahme des Begriffes auch eine Abgrenzung davon mitgespielt habe, "die für die Synagoge entscheidenden Größen nomos und paradosis als notae ecclesiae zu verstehen", wird - anders als 1963 - mit einem "vielleicht" eingeführt (I.102, Kursivierung im Original). Schrage hält es für denkbar, dass der Sprachgebrauch auf die Jerusalemer Urgemeinde zurückgeht und dass damit eine Selbstbezeichnung des apokalyptischen Judentums aufgegriffen wurde. "Jedenfalls erhob man den kühnen Anspruch, die weltweite Schar derer zu sein, in und an der Gott endzeitlich handelt" (I.102). Schrage hat damit eine Öffnung hin zu anderen exegetischen Positionen vollzogen.
Besondere Hervorhebung verdient m. E. die Auslegung von 1Kor 12,1-11 (III.108-203), insbesondere 12,4-11 (III.133ff.). Vergleicht man damit etwa die Auslegung von Hans Conzelmann im KEK, so zeigt sich einerseits, wie sich die Zeiten gewandelt haben (was die Exegese anbelangt), andererseits wird deutlich, welch immense Arbeit hinter Schrages Auslegung steht. Die Wirkungsgeschichte ist hierbei besonders wichtig. Dabei werden auch nicht dem kirchlichen Mainstream zugehörende Phänomene berücksichtigt. Großer Wert wird auf die Interpretation und Wirkungsgeschichte der Aussagen über Glossolalie gelegt. Der Abschnitt hat für die Beurteilung aktueller Phänomene in der Weltchristenheit eine Bedeutung, wie sie bei wissenschaftlichen Kommentaren eher unüblich ist.
Ein vieldiskutiertes Problem des 1Kor stellt die Rede von der Gemeinde als "Leib Christi" dar. Schrage versucht herauszuarbeiten, dass es um mehr als nur ein Bild geht (III.210.213 u. ö.). Bei einer rein bildhaften Vorstellung könnte weder das eis Christon baptizesthai wirklich erklärt werden, noch das häufig lokal zu verstehende en Christo sachgemäß Berücksichtigung finden (III.210; vgl. dagegen jedoch Wolff, ThHK 7, 1996, 298: Nur bei lokalem Verständnis von eis gibt es Probleme. Dazu liegen aber keine zwingenden Gründe vor. Auch finales Verständnis enthält den Gedanken, dass "die Einheit der Gemeinde nicht durch ihre Glieder, sondern von Christus her konstituiert wird"). Nach Schrage lassen sich auch die mele tou Christou in 1Kor 6,15 f. nur vom Gedanken des soma Christou her verstehen (II.25, Anm. 316). Darüber müsste man diskutieren. Denn in 6,15 f. geht es um die einzelnen Leiber und ihre Beziehung zu Christus, beim Leib-Christi-Gedanken aber jeweils um die Einheit mit Christus und untereinander. Schrage vermerkt, dass das Motiv vom Leib Christi als zentrales ekklesiologisches Modell des Paulus überbetont wurde. Eine Diskussion dieses Sachverhaltes kann nach Schrage aber nur erfolgen unter Einbeziehung von en Christo (III.212, Anm. 575). Trotz der Bedeutung des Motivs vom Leib Christi für die paulinische Theologie gibt es nach Schrage bislang noch keine eindeutige Klärung der Herkunft des Syntagmas (III.213 mit Anm. 577). Schrage hält das Verständnis des Motivs als "paulinische[n] Konsequenz aus der Formel en Christo" für die wahrscheinlichste Ableitung (III.214). "Schon wegen ihrer Häufigkeit, vor allem aber wegen ihres christologischen Fundaments" muss sie von "zentraler Ausstrahlung" gewesen sein. "Sie impliziert zwar als solche nicht die soma-Vorstellung, wohl aber eine räumliche Dimension" (III.214). Schrage muss jedoch zugeben, dass auch die Formel en Christo in ihrer Bedeutung umstritten und keineswegs an allen Stellen einheitlich zu interpretieren ist (ebd.). Schrage hat in diesem Abschnitt die Möglichkeiten des Verständnisses weitgehend umfassend diskutiert. Man hätte sich gewünscht, dass auch das Verhältnis von Leib-Christi-Motiv und Volk-Gottes-Vorstellung in die Diskussion einbezogen wird. Das Zitat aus MekhSh (III.219, Anm. 625) hätte hierfür z. B. Anlass gegeben wie auch die übrige ekklesiologische Begrifflichkeit im 1Kor.
6. Auferstehung in Korinth
Mit dem Auferstehungskapitel in 1Kor 15 erreichen wir nach Schrage den Höhepunkt der paulinischen Ausführungen im 1Kor (III.72, vgl. III.7). Wer sich mit der gegenwärtigen und auch der vergangenen Diskussion um die Auferstehung Jesu beschäftigen will, findet bei Schrage umfassende und zuverlässige Information. Schrage unterteilt 1Kor 15 sachgemäß in drei Abschnitte: 1-11: Das Zeugnis von der Auferweckung Christi; 12- 34: Die Auferweckung Jesu und die Auferweckung der Toten; 35-58: Die Leiblichkeit der Auferstehung. Da die nähere Charakterisierung der Auferstehungsleugner sich nur indirekt aus den Ausführungen des Paulus erschließen lässt und "die Versuche ihrer religionsgeschichtlichen Einordnung sehr bald an Grenzen stoßen", muss das Hauptkriterium für ihre Bestimmung "die Zuordnung zu anderen Zügen der korinthischen Position" sein (IV.111).
Nach Schrage lässt sich ihre Position so kennzeichnen, dass sich bei ihnen die "Negation einer futurischen und einer somatischen Dimension der Eschatologie verbinden" (IV.113). Schrage korrigiert hierbei die in Band I.58 f. vertretene Sicht hinsichtlich des Verhältnisses zu 2Tim 2,18. Die Vorstellung in 2Tim 2,18, wonach die Auferstehung bereits geschehen sei, ist der Position der Auferstehungsleugner in Korinth verwandt, aber nicht mit ihr identisch, denn nach 1Kor 15,12 liegt es nahe, dass sie "die Vorstellung der Auferstehung überhaupt" leugnen (IV.115). 15,44b-49 lassen Einflüsse der alexandrinisch-jüdischen Weisheitstradition, speziell "Philos Lehre von den beiden Urmenschen" erkennen (IV.117). Schrages Kommentierung geht daher davon aus, "daß die Korinther einerseits geglaubt haben, bereits ins teleion gelangt zu sein und keiner zukünftigen Auferweckung mehr zu bedürfen. Andererseits aber werden sie aus ihrer Leibfeindlichkeit heraus eine spiritualisierte Jenseitshoffnung vertreten und allenfalls das Abfallen der Materie, aber keine somatische Auferstehung erwartet haben" (IV.118). Schrages Position erscheint, nachdem insbesondere die Beziehung zu anderen Stellen im 1Kor hergestellt wird, überzeugend. Zu Recht geht Schrage davon aus, dass Paulus die Vorstellung einer Auferweckung aus der alttestamentlich-jüdischen Tradition übernommen hat, wobei er die Differenziertheit und das spannungsvolle Nebeneinander unterschiedlicher Ausprägungen betont (IV.119-123). Bei der Erwartung der Auferweckung geht es - bei aller Differenziertheit der Belege - letztlich um das Gottsein Gottes, dessen Macht auch am Tod keine Grenze findet, es geht mithin um die "Theodizee" (IV.122).
7 Anfragen
Zu dem umfassenden Kommentar von Wolfgang Schrage, dessen wissenschaftliche Qualität und stupende Gelehrsamkeit außer Diskussion steht, ergeben sich drei Fragen, die ich trotz des insgesamt beeindruckenden Werkes nicht umgehen kann. Es sind u. a. auch Fragen an die Herausgeber des EKK und die betreffenden Verlage. Sie sind nicht gedacht, die admirable Leistung Schrages zu schmälern.
a) Wer sind die Adressaten? Der Kommentar von W. Schrage enthält auf Grund seiner immensen Fülle von Material für nahezu jeden Leser etwas. Der Vf. schreibt im Vorwort zu Band I: "Weil ich davon ausgehe, dass den Benutzern vor allem ältere und ausländische Kommentare im Regelfall nicht zur Verfügung stehen, habe ich statt bloßer Verweise dort, wo mir das nützlich schien, öfter die Meinung anderer, auch zu Unrecht längst vergessener, zitiert" (I. Seite VI). Hiernach können also nicht nur Fachwissenschaftler die Adressaten sein, denn diesen stünden die genannten Kommentare, auch die älteren und ausländischen, in ihren Bibliotheken wohl zur Verfügung. Wer aber ist dann Adressat einer solchen Auslegung? Pfarrer und Pfarrerinnen, die eine Predigt zu einem Text aus dem 1Kor vorbereiten? Lehrer und Lehrerinnen an weiterführenden Schulen? Wohl kaum, denn sie können diese Fülle an Material für einen bestimmten Anlass nicht bewältigen. Studierende, die an ihrer Seminararbeit sitzen? Auch sie haben in der Regel eine Bibliothek zur Verfügung. Es bleiben solche Kollegen, die keinen oder nur einen erschwerten Bibliothekszugang haben. Wurde dafür der EKK ins Leben gerufen?
Ein Nachdenken über den Adressatenkreis könnte zu einer stärkeren Profilierung auch in der Materialauswahl führen. Will man Pfarrer und Lehrer erreichen, so wären angesichts schwindender Sprachkenntnisse Übersetzungen der altsprachlichen Zitate wünschenswert (so z. B. in der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte von 1Kor 15,1-11 in IV.72-108).
b) War dieser Umfang sachlich geboten? Diese zweite Frage hängt mit der ersten zusammen, setzt jedoch einen anderen Akzent. W. Schrage entschuldigt sich im Vorwort zu Band I für den Umfang: "Die uferlose Publikationsflut ist neben der ausführlichen Auslegungs- und Wirkungsgeschichte auch einer der Gründe, warum der auf zwei Bände konzipierte Kommentar nun leider [?] doch in drei Teilbänden erscheinen wird." (I. S. VI) Diese Entschuldigung ist nicht ganz unproblematisch: Abgesehen davon, dass es inzwischen nicht mehr drei, sondern vier Bände geworden sind (vgl. dazu das Vorwort in Band III, wonach der Kommentar bereits "ursprünglich auf zwei bis drei Teile angelegt ..." war; III. S. V), wären Kürzungen durchaus denkbar gewesen. Aber das ist nicht der Punkt: Wollte man die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte wirklich umfassend darstellen, dann genügten vermutlich keine sieben Bände zum 1Kor. Wird nicht durch die Breite - die dann aber doch wiederum nicht umfassend sein kann - ein falsches Signal gesetzt? Man meint, es nun alles kompakt zusammenzuhaben, hat es aber doch nicht.
c) Was ist Wirkungsgeschichte? Im Vorwort zu Band I schreibt W. Schrage: "Unter Wirkungsgeschichte verstehe ich eine über die Auslegung in Kommentaren hinausgehende Wirkung des Textes in Predigten, Liedern, Kirchenordnungen u. ä. ebenso wie in profanen Dokumenten, nicht aber eine rezeptionsästhetisch orientierte Konzeption, die den Text primär vom gegenwärtigen Leser statt vom biblischen Autor her begreifen will. Das dürfte schwerlich in Einklang zu bringen sein mit dem Anspruch des Apostels, das unüberholbare Fundament (1Kor 3,10) gelegt zu haben, auf dem weitergebaut werden soll, das aber nicht ausgewechselt werden kann." (I. S. VI Anm. 1). Ich kann diesen Gegensatz so nicht nachvollziehen. Was die rezeptionsästhetische Konzeption herausgearbeitet hat, ist wohl die Tatsache, dass ein Text nicht ohne seine Leser- bzw. Hörerschaft zu denken ist, und erst in der Begegnung mit dem Leser/Hörer zu verstehen ist. Wir Leser/Hörer im 20./21. Jh. sind nicht die gleichen wie die im Korinth des 1. Jh.s. Und das gilt auch für den Exegeten des 1Kor.
Ungeachtet dieser Anfragen gilt: Nicht nur derjenige, der an der Theologie des Paulus interessiert ist, wird am Kommentar von W. Schrage nicht vorbeikommen. Auch für die Geschichte des Urchristentums und für die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte paulinischer Topoi ist er unverzichtbar. Wer die Anstrengung nicht scheut, sich durch exegetische Details durchzuarbeiten, erhält in dieser gediegenen Auslegung wissenschaftlich absolut zuverlässige Informationen, gepaart mit der Absicht, die Aktualität der paulinischen Theologie auch dem heutigen Leser nahe zu bringen.
Fussnoten:
* Schrage, Wolfgang: Der erste Brief an die Korinther. 1. Teilbd.: 1Kor 1,1-6,11. X, 436 S. Kart. ¬ 59,00. ISBN 3-545-23121-6 u. 3-7887-1378-X. 2. Teilbd.: 1Kor 6,12-11,16. VII, 541 S. Kart. ¬ 74,00. ISBN 3-545-23126-7 u. 3-7887-1491-3. 3. Teilbd.: 1Kor 11,17-14,40. VIII, 501 S. Kart. ¬ 79,00. ISBN 3-545-23131-3 u. 3-7887-1679-7. 4. Teilbd.: 1Kor 15,1-16,24. 484 S. Kart. ¬ 79,00. ISBN 3-545-23132-1 u. 3-7887-1822-6. Zürich-Düsseldorf: Benziger u. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1991/1995/1999/2001 gr.8 = Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, VII/1-4.