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Ausgabe:

März/2001

Spalte:

341–349

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Honecker, Martin

Titel/Untertitel:

Zur Geschichte und Gegenwart der Sozialethik

Das Wort "Sozialethik" wurde 1867 erstmals von dem in Dorpat lehrenden lutherischen Theologen Alexander von Oettingen im Untertitel seines Werkes "Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Sozialethik auf empirischer Grundlage" verwendet. Der Begriff gehört zu den vielfach in der 2. Hälfte des 19. Jh.s aufkommenden Komposita mit "sozial", wie Sozialanthropologie, Sozialpolitik, Sozialgeschichte, Sozialhygiene, Sozialpädagogik, Sozialpsychologie. Sozialethik ist bei von Oettingen Gegenbegriff zur in Frankreich damals vertretenen Sozialphysik, die gesellschaftliche Vorgänge rein naturwissenschaftlich erklären will. Gegen diese empirische Soziologie will von Oettingen gerade auf der Grundlage der "Moralstatistik" zeigen, dass der Mensch ein "sittliches Wesen" ist. Zugleich soll damit ebenso eine reine "Personal- und Individualethik" überwunden werden, wie sie idealistischem Personverständnis entspricht. Die Diskussion um die Spannung zwischen Individualethik und Sozialethik bestimmte zunächst die innertheologische Debatte. Nur der einzelne habe ein Gewissen, betonen die Kritiker der Sozialethik. Sie sahen in der Sozialethik das Einfallstor kollektivistischer Weltsicht (vgl. Art. Sozialethik HWPh 9, 1995, 1134-1138, F. W. Graf). Die Abgrenzung zum liberalen Individualismus und zu Vertragstheorien war für die Vertreter einer Sozialethik kennzeichnend. Es waren zunächst sozial konservative Theologen, die im Luthertum für eine Sozialethik eintreten (der dänische Theologe H. L. Martensen, Die christliche Ethik. Specieller Theil, 2. Abth. Die sociale Ethik, 1878, 18884, später R. Seeberg, F. Brunstäd). Organologische Vorstellungen von Gemeinschaft, Volk und Staat wurden gegen eine "atomistische" Auffassung von Gesellschaft gesetzt. Die Grundlage für eine Sozialtheologie bot das "Reich Gottes", welches das Gemeinschafts- und Sozialprinzip des Glaubens umfasse. Der Begriff "Sozialethik" hat also ursprünglich seine Wurzel in einem spezifisch theologischen Gemeinschaftsgedanken und in der Ausrichtung auf die soziale Verantwortung, gerade auch der Kirche. Angesichts der Differenzierung der Gesellschaft und ihrer Handlungsfelder in Wirtschaft, Politik, Technik, Wissenschaft usw. und der Frage nach der "Eigengesetzlichkeit" der Handlungsbedingungen und der strukturellen Voraussetzung von Lebensbereichen und Kultursphären wird heute die Plausibilität des Begriffs Sozialethik prinzipiell in Frage gestellt und empfohlen, der Pluralisierung der Kulturen Rechnung zu tragen durch Differenzierung nach Spezial- oder Bereichsethiken (Graf, 1137). Die "Homogenitätsideale" der traditionellen Sozialethik hätten sich als irreal erwiesen.

Angesichts dieser heutigen Diskussionslage ist ein erneuter Rückblick auf die Geschichte angemessen. Ernst Troeltsch hat mit den "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen", 1912, eine Wende im Verständnis der Sozialethik gebracht und Maßstäbe gesetzt. Troeltsch bestreitet nämlich, dass aus der christlichen Tradition verbindliche Maßstäbe für die Ordnung der modernen Gesellschaft zu entnehmen sind. Zugleich ist er skeptisch gegenüber einer religiös inspirierten Sozialreform. Ernst Troeltsch ist zu den "Soziallehren" nach seiner Selbstauskunft angeregt worden durch die "Aufforderung zur Rezension des Buches von Nathusius über die ,Soziale Aufgabe' der Evangelischen Kirche" (E. Troeltsch, Meine Bücher, 1922, in Gesammelte Schriften IV, 1925, 11). Da Troeltsch sich seiner Unwissenheit bewusst wurde, schrieb er statt einer Rezension ein Buch von annähernd tausend Seiten. Troeltsch verstand sein Werk als Pendant zu A. Harnacks Dogmengeschichte. Statt einer Geschichte von Ideen, Dogmen und theologischen Prinzipien verfasste Troeltsch eine historische Untersuchung der Realfaktoren. Karl Marx Unterbau-/Überbaulehre griff Troeltsch vermittelt und angeregt durch Max Weber auf (GS IV,11). Die Sozialgeschichte entwickelte sich neben und außerhalb der Dogmen- und Theologiegeschichte. Empirische Beobachtung der sozialen und kulturellen Wirklichkeit trat gleichberechtigt neben theologische Wertungen. Lebensmächte und soziologische Realfaktoren lassen das geistige Leben selbst nach E. Troeltsch als Werk der Gesellschaft verstehen. Max Scheler hat die soziale Analyse des Christentums in den Soziallehren freilich Resignationssoziologie genannt: "Auch Troeltsch wurde Soziologe per rÈsignation ..." (Max Scheler, Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, Ges. W. 6, 2. Aufl. 1963, 377).

Thomas Schlag (Martin Nathusius und die Anfänge protestantischer Wirtschafts- und Sozialethik, 1998)1 stellt in einer im WS 1996/97 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät in München angenommenen Dissertation (bei T. Rendtorff) ausführlich und detailliert Biographie und Werk von Nathusius dar. Auf eine Einleitung (1 ff.) folgen vier Teile: I. Anfänge (1843-1873, 24 ff.), II. Grundlegungen (1873-1888, 48 ff.), III. Christlich-sozial: Entfaltungen im sozialprotestantischen Konsens (1888-1894, 143 ff.) und IV. Kirchlich-sozial: Entfaltungen im sozialprotestantischen Dissens (1894-1906, 305 ff.). Der Schluss fasst zusammen: "Eine exemplarische protestantische Begleitung" (375 ff.). Nathusius repräsentiert einen konservativen Sozialprotestantismus mit latentem Antijudaismus und Antisemitismus und ausgeprägter antiliberaler und kapitalismuskritischer Tendenz (vgl. 288 ff. "Zur Judenfrage"). Dazu kommt im Blick auf Gesellschaft und Wirtschaft ein "familienidyllisches Ständeideal romantisch-konservativer Prägung" (4). Nathusius Interesse galt nicht der Theorie, sondern es war praktisch orientiert. Soweit noch Quellen zu seinem Lebensweg vorhanden sind, wertet Schlag sie aus. Dadurch ist die Darstel-lung sehr breit angelegt. Nathusius wuchs in einem Elternhaus auf, das eine "Kinderbewahranstalt" in Althaldensleben begründete. Sein Vater gründete 1850 mit königlicher Protektion ein Rettungs- und Brüderhaus, die Neinstedter Anstalten bei Quedlinburg (32 ff.). Von Jugend an ist Nathusius dem Programm der Inneren Mission verpflichtet. Dazu gehörte die Absage an den Rationalismus. Nathusius übernahm nach dem Tod des Vaters 1872 die Leitung von Neinstedt (55 ff.). Während seiner Tätigkeit als Pastor in Quedlinburg (1873-1885) und Wuppertal (1885-1888) gab Nathusius eine Allgemeine Konservative Monatsschrift heraus, ein 1844 gegründetes konservatives Organ, das Nathusius 1879 in "Allgemeine Conservative Monatsschrift für das christliche Deutschland" umbenannte (57 ff.). Schlag erhebt Nathusius christlich-konservative Weltanschauung, welche die Weltanschauung des Glaubens gegen den (liberalen) Zeitgeist ins Feld führt. Die Publikationen "Timotheus. Ein Rathgeber für junge Theologen in Bildern aus dem Leben", 1881 und "Das Wesen der Wissenschaft und ihre Anwendung auf die Religion. Empirische Grundlegung für die theologische Methodologie", 1885, führten zur Berufung auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie in Greifswald 1888.

Nathusius geht es um eine Vermittlung zwischen den Anforderungen der Gegenwart und der kirchlichen Praxis. Dabei betont er die praktische Relevanz der Religion angesichts der Religionskritik. Die Absolutheit des Christentums soll im Tatsächlichen empirisch aufgewiesen werden. Träger der absoluten Wahrheit ist die Kirche. Theologie ist "Wissenschaft vom Kirchenglauben" (139). Die Greifswalder Fakultät wurde damals von Hermann Cremer geprägt. Die Teilnahme am Evangelisch-sozialen Kongress (1890) führte N. zum kirchenpolitischen und theologischen Anschluss an Adolf Stöcker. Aus diesem Engagement entstand sein Hauptwerk ("Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage" in zwei Bänden (Bd. I, 1893; Bd. II, 1894, 3. Aufl. 1904, in einem Band). Es geht Nathusius um den sittlichen Gehalt allen Wirtschaftens.

Schlag analysiert in einer breiten Wiedergabe das Hauptwerk von Nathusius und vergleicht die verschiedenen Auflagen. Von den Nationalökonomen sind Vertreter der historischen Schule, vor allem W. G. F. Roscher, Gewährsleute (192 ff.), sodann Gustav Schmoller und Adolph Wagner (198 ff.). Von Wagner übernommen wird ein staatssozialistisches Konzept (201). Die soziale Frage soll durch den Rückgriff auf den Ständebegriff bewältigt werden. Die ausgesprochen konservative Theologie Nathusius' wird kritiklos in die nationalökonomische Beschreibung der wirtschaftlichen Lage eingebaut (vgl. z. B. 278 ff. zum Schriftverständnis). Das Ergebnis ist eine "christliche Soziologie" (273 ff.), also die Intention einer Verchristlichung von Wirtschaft und Gesellschaft, deren Durchdringung mit christlichem Geist. Der Bruch im Evangelisch-sozialen Kongress zwischen den Anhängern von A. Stöcker und den "Jungen" um Friedrich Naumann sowie den Vertretern liberaler Theologie um A. Harnack führte 1895 zum Austritt aus dem Evangelisch-sozialen Kongress. Auslöser war die aktive Beteiligung von Frauen an der Arbeit des ESK 1894 (305 ff.): Die einbändige Neuauflage der "Mitarbeit" 1897 (330 ff.) spitzt die Absicht der Sozialethik zu: Die nationalökonomische Explikation und Rezeption wird in der Neuauflage gekürzt, dafür wird die Auseinandersetzung mit den innertheologischen Gegnern verschärft (345 ff.), vor allem mit Naumann. Auch Harnacks Wesen des Christentum wird vehement kritisiert (364 ff.). Nathusius Praxisinteresse verbindet sich mit einem Interesse "an der Repristination kirchlicher Eindeutigkeit und Einheitlichkeit" (376). Das Bemühen um einen Anschluss an nationalökonomische Forschungen, vor allem der Historischen Schule, und dadurch einen Bezug zur Empirie herzustellen, wird konterkariert durch die theologische Position: "Fatalerweise führte Nathusius Transformation ekklesiologischer Leitgedanken auf den politisch-gesellschaftlichen Bereich noch zur Überhöhung und Zementierung seines Gesellschaftsverständnisses" (380). Von einer wirklichen "Begleitung" der gesellschaftlichen Realität kann somit keine Rede sein. Troeltschs Resignationssoziologie liegt Nathusius fern, auf Grund seiner Glaubensgewissheit. Apologetische und missionarische Absichten sind leitend. Die umfangreiche Dissertation vergegenwärtigt Nathusius Leben und Werk in minutiöser, gelegentlich ermüdender Wiedergabe. Eine weiterführende Perspektive für die Sozialethik ist aus dieser Erinnerung aber nicht zu entnehmen.

Einen deutlichen Kontrast zu Schlags historischer Untersuchung bildet die Habilitationsschrift von Joachim Wiemeyer, Europäische Union und weltwirtschaftliche Gerechtigkeit: Die Perspektive der christlichen Sozialethik, 1998, die von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster 1997 angenommen wurde.2 Die Habilitationsschrift untersucht, veranlasst durch das Binnenmarktprojekt der EU, die Handels- und Entwicklungspolitik der EU. Sie erörtert also die Nord-Süd-Problematik. Ausgeklammert ist freilich die Verschuldungsproblematik. Die Studie trägt im Blick auf die Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik den Charakter eines Handbuchs. Auf eine knappe Einleitung (1 ff.) folgen drei Hauptteile: 1. Teil: Systematische Grundlagen (5 ff.). 2. Teil: Analyse und Bewertung der EU-Politik gegenüber Entwicklungsländern (82 ff.). 3. Teil: Reformen der EU-Politik (148 ff.). Der knappe Schluss (234-249) fasst in einer "Theologischen Relecture" zusammen, nachdem die Teile 2 und 3 fachlich auf Sozialphilosophie und Ökonomie sich beriefen und eine pragmatische Politik mit kritischen Vorschlägen begleiteten. Die beiden materialen Teile sind hier nicht zu besprechen. Von Interesse ist jedoch das methodische Vorgehen und die Konstruktion der sozialethischen Argumentation. Wiemeyer geht davon aus, dass innerhalb "der deutschsprachigen katholischen Sozialethik ... nicht von einem festen ,Paradigma' , d. h. von methodischen Grundideen bzw. -konzeptionen und einem allgemein akzeptierten Instrumentarium ausgegangen werden" kann. (5). Ausgangspunkt ist im 1. Kapitel des Teils eine Analyse des "epochalen gesellschaftlichen Umfeldes" (5 ff.), d. h. der Übergang von einer vormodernen europäischen Gesellschaft zur Moderne. Die christliche Sozialethik ist Reaktion auf diesen epochalen Wandel. Die Globalisierung enthält heute die Herausforderung zur Gestaltung von Institutionen jenseits des nationalen Horizonts (10 ff.). Daraus folgt eine "christliche Verantwortung für globale Strukturen" (13 ff.). Zum Beleg werden lehramtliche Äußerungen zitiert. Sie haben freilich keine normative Bedeutung. Für die Perspektiven kirchlicher Stellungnahmen zu gesellschaftspolitischen Fragen werden drei "Redeweisen" benannt: (1) Die Darlegung grundlegender christlicher Werte und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft - unter weitgehendem Verzicht auf Konkretion. (2) Prophetische Kritik an gesellschaftlichen Missständen und sozialem Unrecht. Der direkten Ansprache an Schuldige und der Vertretung radikaler Forderungen entsprechen freilich keine konstruktiven Lösungsvorschläge. (3) Pragmatische Vorschläge, die freilich in kirchenamtlichen Dokumten nur selten gemacht werden. Wiemeyer entscheidet sich für die dritte Redeweise: Der Untersuchungsgegenstand der christlichen Sozialwissenschaft - die EU-Politik- ist ein allgemeiner und säkularer. Die Untersuchung selbst geschieht freilich im kirchlichen Kontext (23).

Das 2. Kapitel "Methodologische Grundlagen" (25 ff.) setzt ein mit I. "Biblische Orientierungen". Vorgelegt wird eine kurz geraffte Sozialgeschichte des AT und des NT. Die Bibel enthält kein normatives Modell der Sozialethik. Der Bibel können für die christliche Sozialethik "Grundorientierungen und entsprechende Grundhaltungen entnommen werden, die ein ,Gefüge offener Optionen' sind" (33). Die Grundorientierung besteht hauptsächlich in der Option für die Armen. Im 2. Schritt folgt II. "die Wahl eines sozialphilosophischen Paradigmas" (34 ff.). Für die Gesellschaftsanalyse bedarf es freilich sozialphilosophischer Deutemuster. Das Paradigma für Wiemeyer ist die Theorie des Gesellschaftsvertrags im Anschluss an Kant, J. Rawls, Buchanan. Der gesellschaftsvertragliche Konsens ist "institutionsethisches Kriterium" (40 ff.). Im 3. Schritt ist noch III. "Die Wahl eines sozialwissenschaftlichen Instrumentariums" (45ff) erforderlich. Dabei geht es um die Wahl der ökonomischen Deutung zur Analyse globaler Wirtschaftsstrukturen. Wiemeyer entscheidet sich gegen das deutsche ordoliberale wie gegen das angelsächsische neoklassische Konzept, aber auch gegen die Dependenztheorie und greift vielmehr die moderne Institutionenökonomik auf (50 ff.). Dabei betont er den Unterschied zwischen einer Individual- und der Sozial-, bzw. Institutionenethik. Das 3. Kapitel "Wirtschaftsethische Kriterien im globalen Kontext" (62 ff.) bildet den Übergang zu den Analysen in den beiden nächsten Hauptteilen. Wiemeyer benutzt fünf Gerechtigkeitskriterien (66 ff.): Sicherung von Leistungsgerechtigkeit, Förderung von Chancengerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit, intergenerationelle Gerechtigkeit, Aufbringungsgerechtigkeit. Die Rangfolge und Vorrangregelung zwischen den wirtschaftsethischen Kriterien ist freilich schwer zu bestimmen. Die Kriterien werden angewandt in Form einer "Gesellschaftsvertraglichen Rekonstruktion der Kernelemente der Europäischen Union" (72 ff.), wobei das Problem ist, dass aus den Kriterien zwar eine ideale Ordnung abzuleiten ist, aber die Vermittlung mit der Realität einer nichtidealen Ordnung schwierig ist. Wiemeyer fasst schließlich die genannten wirtschaftsethischen Kriterien zusammen, um damit aus christlich-sozial-ethischer Sicht die Wirtschaftsordnung der EU zu befragen und zu bewerten.

Nach der fachlichen Analyse wird in der "Theologischen Relecture" (234 ff.) nicht nur ein Resümee gezogen, sondern auch die Bedeutung der Untersuchung für das Paradigma der christlichen Sozialethik (240 ff.) bedacht. Betont wird als Fazit die Aufgabe, strukturelles Unrecht als wesentliche Armutsursache zu beseitigen, die "Option und vorrangige Liebe für die Armen" in die Wirtschaftsordnung einzubringen und Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Das "Christliche" besteht dabei in der Motivation der Themenwahl, der Heuristik der "Option für die Armen", dem kirchlichen Kontext, der weltkirchlichen Verbindung und ökumenischen Offenheit (240 ff.). Das "Soziale" ist Gegenbegriff zu individual, individualistisch, also in der Wahrnehmung institutionelle Bedingungen anhand einer Gesellschaftstheorie und der Institutionenökonomik (243 ff.). Der Beitrag "Ethik" ist die Formulierung normativer Fragestellungen und das Einbringen wirtschaftsethischer Kriterien (246 f.).

Wiemeyer legt eine eindrucksvolle und gewichtige Darstellung der Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik vor. Wenn Schlags Darstellung von Nathusius eher zu langatmig und weitschweifig geraten ist, wirkt Wiemeyers Werk eher zu knapp und komprimiert. Breiten Raum nimmt die Darstellung und Bestandsaufnahme ein. Der Standpunkt ist reformorientiert und pragmatisch. Die wirtschaftsethischen Gerechtigkeitskriterien sind verallgemeinerungsfähig. Das Buch hat einen wichtigen Platz in der Diskussion um die EU-Politik. Dennoch bleiben Fragen offen: Wiemeyer behandelt die EU-Politik, geht aber nicht eigens auf den Zusammenhang von Ethik und Politik ein. Gibt es überhaupt eine ethische Wirtschaftspolitik? Und welche Rolle spielen Macht und Abhängigkeit? Methodisch plausibel ist die Reihenfolge "Biblische Orientierung", "Sozialphilosophisches Paradigma" (gesellschaftsverträglicher Konsens), "sozialwissenschaftliches Instrumentarium". Aber nach welchen Gesichtspunkten "Orientierung", "Paradigma", "Instrumentarium" voneinander zu unterscheiden, wie sie aufeinander zu beziehen sind, und ob es zwischen ihnen Spannungen und Konflikte gibt, wird nicht weiter erörtert. Wiemeyer liegt, durchaus verständlich, an pragmatischen Lösungen und an - z. T. weitreichenden- normativ fundierten Reformen und Veränderungen einer die Entwicklungsländer benachteiligenden EU-Politik. Fundamentalethische Überlegungen zum methodischen Vorgehen treten hinter diesem Anliegen deutlich zurück.

Traugott Jähnichen, Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur, 1998, untersucht in seiner von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum 1997 angenommenen Habilitationsschrift grundlegende anthropologische und institutionelle Bedingungen ökonomischen Handelns.3 Der ursprüngliche Titel "Begrenzen und Gestalten" gibt die Intention und Zielrichtung wieder. Der Untertitel "Sozialethische Studien zu ..." benennt den Inhalt genau. Auf eine knappe "I. Einleitung" (1 ff.) folgen sechs Einzelstudien: "II. Option für eine sozial regulierte Marktwirtschaft- Überblick über die wirtschaftsethischen Traditionen des sozialen Protestantismus" (6 ff.). "III. Das biblische Gebot der Nächstenliebe als Begrenzung und relative Würdigung des Selbstinteresses" (51 ff.) "IV. Theologisch-sozialethische Grenzsetzungen und Gestaltungsgrundsätze der menschlichen Arbeit" (102 ff.). "V. Der Gedanke der Sozialpflichtigkeit als wesentliche Begrenzung der individuellen Eigentumsrechte an Geld und Gut" (146 ff.). "VI. Die Aufgabe einer gesellschaftlichen Einbindung der schöpferisch-zerstörerischen Dynamik des Kapitalverwertungsprozesses" (211 ff.). "VII. Begrenzen und Gestalten - Grundlegende Bedingungen ökonomischen Handelns in theologisch-sozialethischer Sicht" (267 ff.).

Ausgangspunkt ist die Wirtschaftsdenkschrift der EKD "Gemeinwohl und Eigennutz", 1991, zu der bereits 1994 G. Brakelmann und T. Jähnichen einen Reader "Protestantische Traditionslinien der Sozialen Marktwirtschaft" herausgegeben haben. Das hier zu besprechende Werk setzt ein auf der Makroebene der wirtschaftsethischen Diskussion und thematisiert in der 1. Studie (Kapitel II) die Vermittlung von ökonomischer und ethischer Rationalität, von "Menschengerechtem" und "Sachgerechtem" (A. Rich). Im Überblick werden protestantische Reformimpulse auf dem Weg zur sozialen Marktwirtschaft vorgestellt. Sozialstaatliche Bestrebungen im deutschen Kaiserreich, der Beitrag des Freiburger Kreises zur Entwicklung und Durchsetzung des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft, die Denkschrift der EKD (15 ff.), marxistisch geprägte Sozialismuskonzeptionen der religiösen Sozialisten (z. B. G. Wünsch, 23 ff.), A. Richs Wirtschaftsethik (29 ff.), die Kapitalismuskritik der Befreiungstheologie (32 ff.) werden referiert, ehe die Ordnungsfrage grundsätzlich aufgenommen wird. Die Intention Jähnichens ist es, dem von Peter Ulrich gegen A. Rich erhobenen Vorwurf der "Zwei-Welten-Konzeption", d. h. einer Trennung von Ethik und Ökonomie, von Menschengerechtem und Sachgerechtem zu begegnen. Die Arbeitsweise des Autors wird hier deutlich: Es wird viel Material dargeboten, und mit Zitaten belegt. Diese Aufnahme von "Traditionswissen"(50) hemmt freilich eine stringente, geschlossene Argumentation. Die zweite Studie (Kap. III) bezieht die neuzeitliche Begründung wirtschaftlichen Handelns auf ein natürliches Selbstinteresse, das bei Th. Hobbes, Adam Smith, Thomas R. Malthus zum Grundaxiom und Schlüssel ökonomischen Handelns wurde, auf das biblische Gebot der Nächstenliebe (69 ff.). Überprüft wird die Vereinbarkeit von Selbstinteresse und Nächstenliebe. Die Transaktionskostentheorie der Institutionenökonomik (89) und der Horizont ökologischer Verantwortung (94 ff.) werden einbezogen. Die Studie ist z. T. eine bloße Auflistung von Problemen. Dies gilt auch für die folgenden Studien: Die 3. Studie (Kap. IV) konfrontiert das neuzeitliche Arbeitsverständnis seit Adam Smith und Karl Marx mit der biblischen Begrenzung der Arbeit durch das Sabbatgebot (112 ff.) und der biblischen Würdigung der Arbeit als Mandat zur Weltgestaltung (115 ff.). Weitere Themen sind: Arbeitslosigkeit und das Recht auf Erwerbsarbeit, Rechte aus Arbeit (126 ff.), Rechte in der Arbeit (Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse, 131 ff.), Ökologie und Arbeit (139 ff.) und Arbeit als individuelle Verantwortung im Beruf (142 ff.). Die 4. Studie (Kap. V) behandelt in derselben Weise den Umgang mit Eigentum und Geld. Ausgangspunkt ist die ökonomische und soziologische Sicht in der bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft (146 ff.), mit besonderer Berücksichtigung der Geldtheorie (153 ff., z. B. G. Simmel, J. M. Keynes, Niklas Luhmann u. a.); dieser modernen Sicht gegenübergestellt wird die biblisch-theologische Kritik der Idololatrie des Geldes (163 ff.), die Mammonskritik, auf welche protestantische Geldkritik sich stützt (170 ff.). Ziel der referierenden Darstellung ist es, zu einem verantwortlichen Umgang mit Geld und Eigentum anzuhalten. Angehängt ist ein Abschnitt über die institutionelle Sicherung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums: "Abgaben und Steuern als grundlegende Konkretion der Sozialpflichtigkeit des Eigentums" (183 ff.) und "Zinspolitik und Geldwertstabilität - Sozialethische Aspekte der Geldpolitik" (189 ff.), sowie zum Problem einer gerechten Eigentumsverteilung, von Armut und Reichtum in der Gesellschaft (195 ff.) und zum Preis von Umweltgütern (203 ff.). Die 5. Studie (Kap. 6) greift nochmals die Geldthematik anhand der Rationalisierungsdynamik des Kapitalverwertungsprozesses auf (211 ff.). Erich Gutenbergs Interpretation der Unternehmung als Kapitalumwandlungsprozess (214 ff.), die Dominanz technologischer Funktionsrationalisierung (219 ff.), deren Deutung durch P. Tillich mit Hilfe der Kategorie des Dämonischen (225ff.), die Übermacht zweckrationaler Organisation und die Verbesserung der Güterversorgung durch Produktivitätsfortschritt werden beschrieben. Eigene Abschnitte sind der Rolle der Großbanken im Rahmen von Unternehmensverflechtungen (239 ff.), Überlegungen zur Begrenzung der Bankenmacht (246ff.), der Betriebsorganisation und Unternehmenskultur, sowie den ökologischen Grenzen des Wachstums (259 ff.) und empirischen Untersuchungen über das individuelle Ethos von Führungskräften in der Wirtschaft gewidmet (263 ff.). Jähnichen informiert ausführlich über den Diskussionsstand. Es gibt jedoch Überschneidungen mit anderen Kapiteln. Dies gilt auch für das abschließende VII. Kapitel, in dem Jähnichen unter den Stichworten "Begrenzen und Gestalten" (267 ff.) die eigene Position markiert. Es geht ihm um ein abwägendes Urteil, um die Findung einer "via media", zwischen fundamentaler Kritik am modernen Wirtschaftsstil (als Form ökonomischer Idolbildung) bzw. einer "Kapitalismuskritik", und blinder, kritikloser Bejahung der wirtschaftlichen Realität. Mit W. Röpke wird betont: Die "Marktwirtschaft ist nicht alles. Sie muß in eine höhere Gesamtordnung eingebettet werden, die nicht auf Angebot und Nachfrage, freien Preisen und Wettbewerb beruhen kann" (273). In diesem Zusammenhang kommt auch der kulturelle Rahmen einer Gesellschaft in Sicht. Das Schlusskapitel enthält nochmals eine breite Palette von Themen: Idolbildung und Götzenkritik, Wachstumsdynamik und Zeitbeschleunigung, Europäische Integration und ökologische Regulierung ökonomischen Handelns werden angesprochen. Außerdem wird in vorhergehenden Studien Erörtertes nochmals theologisch beleuchtet. Am Ende wird die Alternative von Sozialethik und Individualethik - zu Recht - abgelehnt und analysiert, dabei zugleich die bleibende Bedeutung einer individualethischen Konkretion ökonomischen Handelns und damit das protestantische Gewissensverständnis in Erinnerung gerufen (286). Die Gesamttendenz der Studien verdient Beachtung und Zustimmung. Die Stärke der Arbeit liegt in der Vergegenwärtigung von Traditionswissen und in der Hervorhebung der Selbstverantwortung jedes Teilnehmers an der Marktwirtschaft, vor jeder prinzipiellen Systemkritik. Eine Schwäche ist, dass die nacheinander abgehandelten Themen zum Teil disparat sind und dadurch kein geschlossener Gedankengang entsteht.

Leider fehlt ein Sachregister, welches das Buch erschließen könnte. Ein Personenregister bildet den Abschluss. Auch finden sich manche Druckfehler. Besonders auffallend und störend sind auf den Seiten 203 bis 210 beim Seitenumbruch offenbar ausgefallene oder doppelt wiedergegebene Zeilen. - Ein Fazit der Besprechung sozialethischer Entwürfe aus Geschichte und Gegenwart kann einige gemeinsame Merkmale benennen.

(1) Die theologische Sozialethik orientiert sich zunehmend am Sachstand anderer Wissenschaften. Selbstgenügsamkeiten theologischer Ethik erweisen sich zunehmend als unzulänglich. Damit wird einerseits von der wissenschaftlichen Sozialethik auf Dialogfähigkeit und Kommunikabilität - eine Forderung an die evangelische Sozialethik, die z. B. K. W. Dahm immer wieder angemahnt hat - und andererseits die Operationalisierbarkeit, die Verwendbarkeit in der Praxis mitbedacht. Die Kontextbezogenheit und Kontextabhängigkeit der Sozialethik wird überdies klarer gesehen und reflektiert als dies etwa bei M. Nathusius der Fall war. Statt von Ständen ist heute von Vertragstheorien oder von Transaktionskosten die Rede. Allerdings fällt auf, dass das Thema Kultur in der Sozial- und Wirtschaftsethik allenfalls beiläufig zur Sprache kommt. Die Gefahr besteht, dass dann, wenn die kulturelle Dimension von Religion, Christentum und Kirche nicht eigens thematisiert wird, die instrumentellen, ökonomischen und institutionellen Faktoren ein zu großes Gewicht bekommen. Die Tiefendimension des Einflusses des Christentums auf die Gesamtkultur und die Bedeutung der Kultur für die Prägung von Gesellschaft und Wirtschaft bleiben dann zu unterbestimmt.

(2) Seit den Anfängen ist zwar anerkannt, dass die exklusive Orientierung an der Bibel für eine christliche, insbesondere evangelische Sozialethik grundlegend ist. Stellenwert und Funktion der biblischen Orientierung sind aber nicht eindeutig bestimmt. Hat die biblische Tradition lediglich eine heuristische Funktion oder hat sie eine besondere normative Verbindlichkeit? Wieweit gilt sie - nur für die Grundsicht von Mensch und Welt oder auch für konkrete Einzelfragen? Und wie verhalten sich Bibelautorität und Bibelauslegung, historisch-kritische Exegese zueinander? Eine sozialgeschichtliche Bibelauslegung unterstreicht die Kontextualität und Geschichtlichkeit von Sozialethik. Was ist dann aber der tragende Grund, der bleibende "Impuls des Evangeliums" für die Orientierung der Sozialethik?

(3) Die Verlagerung des Interesses an einer allgemeinen Sozialethik auf Bereichsethiken hin (Wirtschaftsethik, Forschungsethik) ist auf Grund gesellschaftlicher und sozialer Differenzierungsprozesse und des kulturellen Pluralismus verständlich und folgerichtig.

Gleichwohl ist eine übergreifende, freilich offene, also revisionsfähige Gesamtsicht der Gesellschaft unverzichtbar. Sozialethik als Reflexion des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft wie der gesellschaftlichen Gegebenheiten, Strukturen und Bedingungen ist nicht einfach durch Spezialethiken zu ersetzen. Die katholische Soziallehre hat es freilich relativ einfacher, da sie auf wenige grundlegende Sozialprinzipien (Personalität, Sozialität, Subsidiarität, Gemeinwohl) sich beruft. Der anthropologischen und institutionstheoretischen Basis evangelischer Sozialethik muss man sich dagegen immer wieder neu vergewissern.

(4) Erschwert wird die Vergewisserung der Grundlagen dadurch, dass politische oder ökonomische Interessen und ideologische Weltdeutungen (z. B. in den Leitbegriffen Sozialismus, Kapitalismus, Dependenztheorien, Nationalismus, technokratische Modelle u. a.) in Konkurrenz zu ethischen Kriterien und theologischer Orientierung stehen. Ein Verfolgen von Interessen ist zweifellos nicht apriori illegitim. Aber Interessen sind offen zu legen und vor allem sind Interessen nicht durch eine Gleichsetzung mit moralischen Anrechten und Werten, mit ethischen Kriterien ideologisch zu überhöhen. Ideologiekritik wird in den vorliegenden Entwürfen wenig geübt. Das kritische Potential einer theologischen Sozialethik könnte bei ideologiekritischer Analyse noch schärfer hervortreten. Damit stellen sich Fragen der Methodologie und des Ansatzes der Sozialethik nochmals und weiterhin unter einer anderen und neuen Perspektive.

Fussnoten:

1) Schlag, Thomas: Martin von Nathusius und die Anfänge protestantischer Wirtschafts- und Sozialethik. Berlin-New York: de Gruyter 1998. XIII, 431 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 93. Lw. DM 208,ñ. ISBN 3-11-015862-0. 2) Wiemeyer, Joachim: Europäische Union und weltwirtschaftliche Gerechtigkeit. Die Perspektive der christlichen Sozialethik. Münster: LIT 1998. XII, 284 S. gr.8° = Schriften des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften, 39. Kart. DM 59,80. ISBN 3-8258-3574-X. 3) Jähnichen, Traugott: Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur. Sozialethische Studien zu grundlegenden anthropologischen und institutionellen Bedingungen ökonomischen Handelns. Münster: LIT 1998. IX, 314 S. gr.8° = Entwürfe zur christlichen Gesellschaftswissenschaft, 7. Kart. DM 59,80. ISBN 3-8258-3686-X.