Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

841–851

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Haendler, Gert

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen bei der Vetus Latina und den Fontes Christiani 1997/1998

1. Zum Leitungswechsel in der Vetus Latina 1998

Das ehrwürdige Unternehmen Vetus Latina erfuhr im letzten Jahr einen schmerzlichen Verlust. Am 29. Mai 1998 ist Hermann Josef Frede, der langjährige wissenschaftliche Leiter des Unternehmens, heimgegangen. Einige Punkte dieses Gelehrtenlebens seien genannt: Nach seiner Promotion in Bonn 1958 war er in die Arbeit an der Vetus Latina in Beuron eingetreten, für die er seine Arbeitskraft 40 Jahre lang voll eingesetzt hat. 1962-1971 brachte er in 12 Lieferungen die Bände 24/I und 24/II der Vetus Latina heraus mit den Briefen des Paulus an die Epheser, Philipper und Colosser. 1972 übertrug man ihm die wissenschaftliche Leitung in Beuron. Im ungarischen Nationalmuseum Budapest entdeckte er einen unveröffentlichten Kommentar zu den Paulusbriefen, der um 400 in Norditalien verfaßt und von Pelagius benutzt worden war. Sein Ergebnis legte er 1973/74 in zwei Bänden vor: Ein neuer Paulustext und Kommentar = Aus der Geschichte der lateinischen Bibel, 7-8.

Es folgten die Bände 25/I und 25/II der Vetus Latina mit dem Text der Thessalonicherbriefe, der Pastoralbriefe, des Briefes an Philemon und des Hebräerbriefes in 22 Lieferungen 1975-1991.

Breitere Kreise hat Frede 1981 und 1995 erfreut durch die 3. und 4. Auflage des Bandes "Kirchenschriftsteller - Verzeichnis und Sigel", der zu einem grundlegenden Nachschlagewerk für Patristiker geworden ist. Frede wurde 1983 Honorarprofessor an der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen, zweimal erhielt er die Würde eines Ehrendoktors von Katholischen Universitäten: 1986 in Löwen und 1997 in Mailand. 1993 wurde ihm und seinem Kollegen Walter Thiele zum 75. Geburtstag eine Festschrift "Philologia sacra" überreicht (2 Bände, hrsg. v. Roger Gryson). In den Jahren 1996/97 hat er gemeinsam mit Herbert Stanjek in zwei Bänden den Pauluskommentar des Sedulius Scottus herausbringen können, der ihn lebenslang beschäftigt hatte (Aus der Geschichte der lateinischen Bibel, Bd. 31/32). Der 42. Arbeitsbericht der Stiftung enthält einen Nachruf auf Hermann Josef Frede, in dem es u. a. heißt: "Die letzten Gefühle, die ihn erfüllten, bleiben sein Geheimnis; unter ihnen waren ohne Zweifel das Bewußtsein, seine Pflicht erfüllt zu haben, und ebenso die stärkende Gewißheit, ein auf lange Zeit nützliches Werk geschaffen zu haben" (12).

Zum neuen wissenschaftlichen Leiter des Beuroner Instituts wurde Roger Gryson berufen, der sich dieser Arbeit seit langem verbunden weiß: Mit der Vorlage des Buches Jesaja in zwei Bänden 1987-1998 in 21 Lieferungen hat er einen wesentlichen Beitrag geliefert; seine Edition des Hieronymus-Kommentars zum Propheten Jesaja steht vor dem Abschluß, eine neue Aufgabe für den Text der Vetus Latina hatte Gryson 1997 mit der Apokalypse (Bd. 26/2) übernommen.



2. Neue Lieferungen zum Text der Vetus Latina



Die Lieferungen zum Buch Jesus Sirach wurden weiter planmäßig fortgesetzt: Walter Thiele legte eine neue (7.) Lieferung vor, die wieder mehr als drei Kapitel umfaßt.1 Er kommt bei seiner Arbeit zügig voran, meistens bietet er auf jeder Seite 2-3 Textzeilen. Thieles Voraussetzung ist bekannt: Er führt die erhaltenen lateinischen Texte nicht auf Eigenarten lateinischer Übersetzer zurück, er will vielmehr aus den lateinischen Texten Rückschlüsse ziehen auf frühere griechische Texte, die uns sonst nicht mehr erhalten sind. Eine 8. Lieferung ist angekündigt, die bis Sir 23,15 führen soll. Dem nunmehr 77jährigen Heraus-geber kann man nur gute Kräfte zum Abschluß dieses Buches wünschen.

Zu Band 22 "Epistula ad Corinthios I" bringt Uwe Fröhlich seine 3. Lieferung.2 Er beschließt zunächst die Liste der Manuskripte. Auf S.168-226 untersucht er in Abschnitt B "Die Texttypen": Er beginnt mit der Textzeile X (Tertullian und Viktorin von Pettau), es folgt Texttyp K, der sich auf Cyprian stützt (183-194). Zum Texttyp D gehört auch jene Budapester Handschrift, deren Fund durch Frede oben genannt worden war. Auch für den I-Typ beruft sich Fröhlich mehrfach auf Frede: Dessen Edition des Pauluskommentars von Sedulius Scottus wird hier sinnvoll ausgewertet (209-212). Im Abschnitt "Die Vulgata V (mit S)" wird die Erkenntnis formuliert, "daß es sich bei der Paulusvulgata nicht um eine Neuübersetzung handelt, sondern um eine Vetus-Latina-Rezension" (213). Abschnitt C "Der griechische Text" sagt zur griechischen Textzeile: Sie beruht auf dem "seit 1975 unverändert gebliebenen ,Komiteetext’ des Neuen Testaments, der durch das ,Greek New Testament’ (GNT, 3.-4. Aufl.) und das ’Novum Testamentum Graece’ (Nestle-Aland, 26.-27. Aufl.) die weiteste Verbreitung erfahren hat" (227). Zuletzt wird noch auf armenische, koptische und syrische Versionen des Neuen Testaments eingegangen. Angestrebt wird "Konzentration auf das Wesentliche und die Richtigkeit der positiven Notierungen - Vollständigkeit hingegen nicht" (240).

Der 42. Arbeitsbericht informiert auf Seite 23-38 über weitere Arbeiten an anderen biblischen Büchern: Jean-Marie Auwers
bereitet eine Vetus-Latina-Edition des Buches Tobit vor (Bd.7/1). Pierre-Maurice Bogaert hat nach Abschluß seines Artikels "Judith" im RAC seine Arbeiten für eine Edition des Bandes 7/2 "Judith" in der Vetus-Latina wieder aufgenommen und ist "schon sehr weit voran geschritten" (25). Eva Schulz-Flügel verspricht für Lieferung 2 ihrer Ausgabe des Canticum (Bd. 10/2) "Forschungsergebnisse zu den Texttypen und den patristischen Zeugen, die in besonderem Maße die lateinische Sprachform des Canticum beeinflußt haben" (25). Für Bd. 21 "Epistula ad Romanos" will Hugo S. Eymann mit der 2. Lieferung die Einleitung abschließen und die Edition des Textes beginnen. Roger Gryson teilt mit, die Arbeit an der Apokalypse (Bd. 26/2) am Centre de recherche sur la Bible latine gehe ihren Gang (36). Alle Mitarbeiter sind also bei der Arbeit und geben Zwischenstände mit vielen Einzelheiten, so daß man für das Jahr 1999 mit hoher Wahrscheinlichkeit mehrere neue Lieferungen erwarten darf.






3. Aus der Geschichte der Lateinischen Bibel

3.1. Band 34: Der Römerbriefkommentar des Origenes -

Kritische Ausgabe der Übersetzung Rufins (Abschluß)3



Der von Rufinus um 406 in Süditalien ins lateinische übersetzte Römerbriefkommentar des alexandrinischen Theologen Origenes aus den Jahren kurz nach 240 ist in zweifacher Hinsicht von Interesse: Er ist zunächst aufschlußreich für die ostkirchliche Auslegung des Römerbriefs im 3. Jh. Für das Unternehmen "Vetus Latina" ist dieser Text aber vor allem interessant für die lateinische Übersetzung des Textes, wie sie am Anfang des 5. Jh.s in Italien vorlag. Die Erarbeitung eines kritischen Textes war lange ein Desiderat. Diese Arbeit stellt ein wesentliches Lebenswerk der 1995 heimgegangenen Patristikerin Caroline Penrose Bammel geb. Hammond dar. Am Abschluß dieses Werkes hat Hermann Josef Frede wesentlichen Anteil. Er erinnert an die Geschichte ihrer Arbeit zu Beginn des jetzt erschienen Abschlußbandes.

1965 hatte die Vfn. in Cambridge promoviert mit einer Dissertation "The Manuscript Tradition of Origen’s Commentary on Romans in the Latin Translation by Rufinus". 1985 beschrieb sie die überlieferten Handschriften des Textes in einem deutschen Buch unter dem Titel: "Der Römerbrieftext des Rufin und seine Origenesübersetzung" (Vetus Latina - Aus der Geschichte der Lateinischen Bibel, Band 10). Für die ThLZ schrieb Walter Thiele eine ausführliche Rezension (112/1987, 173-176), die den Satz enthielt: "Hier ist ein wahrer Thesaurus gegeben, auf den man immer wieder gern zurückgreifen wird" (175). Die Edition des Textes begann 1990 mit Band 16 jener Reihe: Der Römerbrief des Origenes. Kritische Ausgabe der Übersetzung Rufins, Buch 1-3. In der Einleitung waren summarisch die Handschriften, Fragmente sowie auch Zitierungen im Mittelalter genannt worden (ThLZ 118, 1993, 185 f.). Der 2. Band mit den Büchern 4-6 war weithin fertig, so daß H. J. Frede und H. Stanjek ihn nach dem Tode der Bearbeiterin recht zügig zum Druck bringen konnten. (ThLZ 123, 1998, 1136 f.).

Der jetzt vorliegende abschließende Band konnte nur mit größerer Mühe aus dem Nachlaß herausgegeben werden. Zu Problemen, die bei dieser Arbeit auftauchten, schrieb H. J. Frede: "Vielleicht hätte die Autorin noch gelegentlich Änderungen an der Rezension vorgenommen oder sich zur Textherstellung in den letzten Büchern des Kommentars näher geäußert, wie sie auch einen Nachtrag zur Klassifizierung der ihr erst später bekannt gewordenen Handschrift in Padua plante.
Unsere Aufgabe sahen wir in der Fertigstellung und Veröffentlichung ihrer kritischen Edition" (551). Man kann nur herzlich dankbar sein, daß Hermann Josef Frede noch kurz vor seinem Heimgang das Lebenswerk einer vier Jahre zuvor verstorbenen jüngeren Kollegin zu einem guten Abschluß bringen konnte.

Der überlieferte Text endet mit einem Epilog des Rufinus, der sich zu den Schwierigkeiten seiner Arbeit äußerte. Rufinus wollte vollständig wiedergeben, was Origenes einstmals im Raum der Kirche aus dem Stegreif geäußert hatte. Rufinus hat sich darum bemüht, für den lateinischen Leser Fehlendes zu ergänzen, was einst der Prediger Origenes übergangen hatte: "Quem laborem adinplendi quae deerant, idcirco suscepimus, ne pulsatae quaestiones et relictae, quod in omiletico dicendi genere ab illo saepe fieri solet, Latino lectori fastidium generarent" (860). Für den Quellenapparat sind die Herausgeber verantwortlich, sie haben noch neue Beobachtungen hinzugefügt. Das Verzeichnis von Bibelstellen bezieht sich auf alle drei Bände der Edition (865-903). Die Autorin hatte noch einen Band mit griechischen Fragmenten des Römerbriefkommentars des Origenes herausbringen wollen. Über diesen Plan werden nur etwas kryptische Andeutungen gemacht: Jener Band soll noch folgen, er ist jedoch "von anderer Seite geplant" (552). Es wird leider nicht gesagt, wer diesen Band bringen will; offensichtlich soll er aber wohl nicht in der Reihe "Vetus Latina" erscheinen (?).



3.2 Band 35: Kommentar des Hieronymus zum Propheten Jesaja4



Der jetzt vorgelegte vierte (und vorletzte) Band der Edition des bedeutendsten Jesajakommentars der alten Kirche bringt den Abschnitt Jes 40,27-57,2, den Hieronymus als die Bücher 12-15 seines Werkes zählte. In den Jahren 408/409 hatte Hieronymus seine "Explanationum in Esaiam libri 18" geschrieben, bei der er eigene Vorarbeiten aufnahm und auch ältere Kommentare benutzte: Einen verlorenen Kommentar des Origenes, einen erhaltenen des Euseb von Caesarea. Über Band 1 mit den Büchern I-IV war in ThLZ 119,1994, 954 f., über Band 2 mit den Büchern V-VII und Band 3 mit den Büchern VIII-XI in ThLZ 122, 1997, 968 f. berichtet worden. Gryson hatte bereits in der Introduction zu Band 3 nach dem Buch XI einen gewissen Bruch in der Überlieferung des Textes signalisiert: Manche wichtigen Handschriften brechen an dieser Stelle ab, dafür beginnen andere bei Buch 12 oder etwas später. Die Herstellung eines Textes wird nach Grysons Worten eine Aufgabe "de plus en plus délicate" (1265). Dafür wird die Textgeschichte insgesamt übersichtlicher, da weniger Zeugen vorhanden sind. Immerhin stellt Kapitel 1 der Introduction noch einige neue Manuskripte vor, die erst bei Buch 12, 13 oder 14 einsetzen (1271-1278).

Ein Text wird in der Londoner British Library, Egerton 2831, aufbewahrt, der in Tours noch vor der Regierungszeit Alkuins - also noch vor 800 - geschrieben worden ist (1271). In München und in St. Gallen liegen Manuskripte aus der späteren Karolingerzeit. Die Mailänder Bibliotheca Ambrosiana bewahrt einen Text der Bücher 12-16 des Hieronymus-Kommentars, der auf einem Palimpsest erhalten ist, der ursprünglich den zweiten Korintherbrief und weitere Fragmente von paulinischen Briefen in gotischer Sprache enthielt, also Teile der sogenannten Wulfila-Bibel (1275). Wieder andere Probleme enthält ein Text vom Ende des 9. Jh.s, der in Tours überliefert wurde (1276-1278).

Der Text des Hieronymus auf den Seiten 1289-1611 gliedert sich in Buch 12 mit Jes 40,27-45,7, Buch 13 mit Jes 45,8-50,3,
Buch 14 mit Jes 50,4-53,12 und Buch 15 mit Jes 54,1-57,2. Nachdem Roger Gryson bereits den altlateinischen Text des Propheten Jesaja in der Vetus-Latina-Ausgabe kontinuierlich im
Laufe von 11 Jahren in regelmäßig erscheinenden 21 Lieferungen als Band XII,1 (1987-1993) und Band XII,2 (1993-1997) herausgebracht hat, darf man mit gutem Grunde die Hoffnung hegen, daß er auch den Kommentar des Kirchenvaters Hieronymus zum Buch Jesaja in zügiger Weise zum Abschluß führen wird. Im Arbeitsbericht 42 der Stiftung (1998) wird jedenfalls ausdrücklich angekündigt, daß der fünfte und letzte Band des Werkes (mit den Büchern XVI-XVIII) für Ende des Jahres 1999 vorgesehen sei (40).



4. Fontes Christiani - Restbände aus der ersten Reihe



Die Zahl der in der ersten Reihe der Fontes Christiani noch nicht erschienenen Bände nimmt weiter ab. Der Römerbriefkommentar des Origenes kommt mit zwei Bänden zum Ab
schluß, das Werk des Irenäus gegen die Häretiker kommt auch voran. Es fehlt nun in dieser ersten Reihe nur noch ein einziger Band: Der Band V des Irenäus, der vermutlich schon recht bald nachgemeldet werden kann.



4.1. Origenes: Römerbriefkommentar, Band IV und V5



Fast gleichzeitig mit der neuen kritischen Edition des Kommentars zum Römerbrief des Origenes durch Caroline Hammond-Bammel, über die der vorangehende Abschnitt 3,1 dieser Sammelrezension informiert, erschienen die restlichen Bände dieses Kommentars in der ersten Reihe der Fontes Christiani mit der Übersetzung und Bearbeitung von Theresa Heither (OSB). Den Band IV leitet sie ein mit Erörterungen zu Kapitel 8 des Römerbriefs (7-10) sowie zu Römer 9-11 (10-28). Sie kommt darin auf den schon früher von ihr herausgehobenen Begriff "Translatio" zurück, d. h. den "Übergang der Religion von den Juden zu den Heiden" (27). Dabei bleiben die Verheißungen Gottes für das Volk Israel bestehen. "Gott nimmt nichts zurück" (28). Band V geht auf Textprobleme ein (7-9) und faßt den Inhalt der Kapitel 12-16 des Römerbriefs zusammen unter der Überschrift "Die Praxis im Geist". Der Text des Bandes endet mit dem Epilog des Rufin (286-291) sowie mit den bei jedem Bande üblichen Registern (292-312).

Über die erschienenen drei Bände hatte ThLZ berichtet in Jahrgang 117, 1992, 410 f.; 118, 1993, 623 f. und 119, 1994, 957 f. Schon die Formulierung des Buchtitels zeigt ganz deutlich, daß die Problematik der lateinischen Übersetzung durch Rufinus zweitrangig ist. Es geht primär um Origenes und seine Gedanken, die er im Anschluß an den Römerbrief des Paulus geäußert hat. Die Freiburger Reihe Fontes Christiani hat andere Ziele als die Vetus Latina.

Die Fontes wenden sich an einen möglichst weiten Leserkreis, dem der Text gerade durch die deutsche Übersetzung nahe gebracht werden soll. Dafür konnte der über hundert Jahre alte Text der Patrologia Graeca von Migne (PG 14) zugrunde gelegt werden. Ein Vergleich mit der neuen kritischen Edition zeigt, daß man ziemlich lange nach Abweichungen suchen muß, die zudem nicht gravierend zu sein scheinen. Frau Dr. Heither hatte also gute Gründe für ihren Entschluß, ihr Unternehmen für die Reihe Fontes Christiani kontinuierlich durchzuziehen und nicht erst die neue kritische Edition abzuwarten, deren Erscheinen sich leider aus den oben in Abschnitt 3.1 genannten Gründen hinausgezogen hat.

Nachstehend sei eine Leseprobe gegeben, die an einer Stelle in die Denkweise des Origenes einführt und zugleich die gelungene Übersetzung beispielhaft aufzeigt. Der Vers Röm 13,1 ist weithin bekannt in der Übersetzung Luthers: "Jederman sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat". Im griechischen Text steht aber "Pasa psychä", in der lateinischen Übersetzung "Omnis anima". Von diesem Wortlaut her legt Origenes aus: "Laßt uns jetzt also sehen, was der Apostel im folgenden noch anfügt: Jede Seele sei den höheren Gewalten untertan (Röm 13,1). Meiner Meinung nach hat er es hier sehr gut gemacht, daß er den Ausdruck ,Seele’ gebraucht, wenn er den Auftrag gibt, sie solle den Gewalten unterworfen sein. Niemals nämlich hätte er gesagt, jeder Geist solle sich der Gewalt unterwerfen, sondern ,jede Seele’. Von dieser Unterscheidung haben wir schon oft geredet und gesagt, der Mensch werde manchmal durch die Seele, manchmal durch das Fleisch und manchmal durch den Geist bezeichnet. Doch wenn er vom besseren Teil her bestimmt wird und als geisterfüllter Mensch verstanden werden soll, wird er ,Geist’ genannt, wenn vom niedrigeren Teil her, ,Seele’, wenn er aber seinen Namen vom schlechtesten Teil her bekommt, wird er ,Fleisch’ genannt" (Bd. V, 91).

Die Bearbeiterin des Bandes stellt kritisch zu dieser Auslegung fest: "Origenes bezieht sich immer auf die Schrift. Wenn er seine philosophischen Meinungen nicht aus der Schrift belegen kann, läßt er sie fallen. Manchmal merkt er nicht, daß sein Denken andere Voraussetzungen hat" (ebda, S. 91, Anm. 64). Für Origenes ist die Dreiteilung des Menschen in Geist, Seele und Fleisch eine völlig selbstverständliche Voraussetzung: Die Herausgeberin hatte das Thema schon in Band I, 98-101 erörtert, sie verweist jetzt darauf zurück (Bd. V, 91, Anm 63). Bei dieser Einteilung des Origenes gilt das Gebot Röm 13,1 also nicht für einen geisterfüllten Christen, es bezieht sich nur auf die (niedere) Seele. Origenes erinnert in dem Zusammenhang an ein Wort Jesu, das in der Auslegungsgeschichte häufig mit Röm 13,1 zusammengestellt worden ist: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist" (Mt 22,21). Dieses Jesus-Wort bezieht sich eindeutig auf das Geld. Origenes zieht daraus Folgerungen: "Wer dies nicht hat, der hat nichts, was er dem Kaiser zurückgeben könnte, und von daher auch nichts, weswegen er den höheren Gewalten untertan sein müßte. Wer aber Geld oder Besitzungen hat oder irgendein Geschäft in dieser Welt, der soll hören: ,Jede Seele sei den höheren Gewalten untertan’" (93).



4.2. Irenäus: Adversus haereses. Gegen die Häretiker. Buch IV6



Die Werke des Irenäus in 5 Bänden erscheinen kontinuierlich: Über Band 1 hatte ThLZ 119, 1994, 956 f. berichtet, über die Bände 2 und 3 ThLZ 122, 1997, 969. Das jetzt vorgelegte Buch IV bringt in einer Vorrede ein klares Programm des Irenäus: "Hiermit, mein Lieber, lasse ich dir, wie versprochen, das vierte Buch meines Werkes über die Entlarvung und Vernichtung der falschen Gnosis zukommen. Was ich bisher gesagt habe, werde ich durch die Reden des Herrn noch verstärken, damit du deinem Wunsch gemäß von allen Seiten die Mittel in die Hand bekommst, alle Häretiker in die Schranken zu weisen..." (13). Im letzten Kapitel des 4. Buches formuliert Irenäus im Rückblick: "Weil es zahlreiche Worte des Herrn gibt, die alle verkünden, daß der Vater und der Schöpfer dieser Welt ein und derselbe ist, mußten wir sie wegen der Leute, die in zahlreichen Irrtümern befangen sind, mit zahlreichen Argumenten widerlegen" (41,4 = S. 361).

Über die Komposition des Buches IV äußert sich der Herausgeber Brox jedoch kritisch. Buch IV ist schlecht gegliedert, Irenäus reiht Teilthemen aneinander und geht "über eine oberflächliche, vordergründige Anordnung der Themenblöcke nicht hinaus" (7). Er erörtert sein Thema "vielfältig mit unterschiedlichen Argumenten, mit unzähligen Bibeltexten und theologischen Denkfiguren". Die Argumente des Irenäus sind aber "so disparat oder auch derart deckungsgleich, daß sie sich nur schwer beziehungsweise gar nicht in eine größere, kontinuierliche Anordnung einpassen lassen. Irenäus arbeitet ständig unter einem Überhang an Materialien, Ideen, Schriftzitaten. Da ist es nicht überraschend, wenn man etliche der vielen polemischen Mittel weniger gelungen als andere nennen muß" (8). Eine Gliederung des Irenäus wird nicht erkennbar. "Ein Stichwort, eine Bibelstelle, eine Erinnerung oder Tradition geben die Idee zum nächsten Argument. Die lockerste Assoziation, die Irenäus in den Sinn kommt, ist Grund für einen weiteren Exkurs" (9). Brox hat dankenswerterweise Zwischenüberschriften eingesetzt, die dem Leser die Lektüre erleichtern.

Am Schluß des Buches IV sagt Irenäus noch einmal, was für ihn die Wahrheit ist, "nämlich daß der eine Gott Vater der ist, der zu Abraham gesprochen und das Gesetz gegeben hat, daß er die Propheten vorausgeschickt hat, in den letzten Zeiten seinen Sohn geschickt hat und seinem Geschöpf das Heil schenkt, das heißt einem Wesen, das aus Fleisch besteht" (41,4 = S. 361). Zuletzt gibt Irenäus einen Vorblick auf das letzte Buch seines Gesamtwerkes: "Wenn wir uns dann noch mit den restlichen Worten des Herrn befassen, die er nicht in Gleichnissen, sondern ganz direkt und im Wortlaut als Lehren von seinem Vater gesagt hat, und die Erklärung der Briefe des seligen Apostels im nächsten Buch unternehmen, dann kann ich dir mit Gottes Hilfe ein vollständiges Werk zur Überführung und Vernichtung der fälschlich so genannten Gnosis (Erkenntnis) an die Hand geben, so daß ich mich selbst und auch dich zum Widerspruch gegen alle Häretiker in fünf Büchern übe" (IV, 41,4 = S. 361/363).



5. Fontes Christiani - Neue Reihe



Fünf Bände der neuen Reihe der Fontes Christiani waren besprochen worden: Bd. 22, Gregor von Nazianz, Theologische Reden, und Bd. 24, Gregor der Wundertäter, Dankrede an Origenes in ThLZ 122, 1997, 968-970; Bd. 23,1-3, Johannes Philoponos, Über die Erschaffung der Welt in ThLZ 123, 1998, 1136 f. Jetzt liegen die Bände 25 und 27-29 vor, als Band 26 ist Abälards Römerbriefkommentar geplant.



5.1 Band 25,1-3: Paulinus von Nola, Briefe7



Der aus der reichen Aristokratie Galliens stammende Paulinus war in jungen Jahren zu hohen politischen Ämtern aufgestiegen und hatte eine vermögende Frau geheiratet. Schwere Schicksalsschläge führten dazu, daß er 393 mit dem Verkauf seiner Güter begann. In Barcelona ließ er sich - wohl widerstrebend - zum Priester weihen. 395 wanderte er nach Nola in Süditalien aus, wo er als Mönch und zeitweise auch als Bischof lebte. Vor 415 starb seine Frau, er selbst ist 431 gestorben. Die Ausgabe seiner 51 Briefe beginnt mit einer umfassenden Einleitung, die zunächst sein Leben und Werk schildert (9-73). Eine detaillierte Chronologie seiner Briefe und Gedichte durchzieht die Jahre 389 bis 426 (31-34).

Aufschlußreich sind die Zeugnisse mehrerer Zeitgenossen. Augustin lobte Paulinus wegen seiner Tapferkeit bei der Invasion der Goten 410 (De civitate Dei 1,10, 61-63), er empfiehlt einem strebsamen jungen Mann, sich Paulinus zum Vorbild zu nehmen (Ep. 26,5), er erwähnt ihn noch mehrfach (10). Dagegen hat der römische Bischof Siricius den 395 durchreisenden Paulinus nicht empfangen, Paulinus nennt mit kritischem Unterton die "urbici papae superba discretio" (V,14, = Bd. I,188). Vermutlich wurde Siricius "durch Paulinus an Hieronymus erinnert, der sich kurz zuvor in Begleitung zweier aristokratischer Damen nach Betlehem abgesetzt hatte, um dort Klöster zu bauen" (18). Hieronymus hat in 3 Briefen Paulinus eingeladen, auch nach Bethlehem zu kommen (Ep. 53, 58, 85).

Das wirkungsvollste Zeugnis stammt von Sulpicius Severus, der in seiner Vita Martini 25,4-5 von der Hochachtung berichtet, die Martin von Tours für Paulinus empfand: "Als ganz herausragendes Beispiel aus unserer Zeit stellte er mir den oben erwähnten hochangesehenen Paulinus vor Augen. Dieser habe seinen gewaltigen Reichtum aufgegeben, sei Christus nachgefolgt und fast der einzige, der in unseren Tagen die Weisungen des Evangeliums befolgt habe ... Gemäß dem Willen Christi habe ja der reiche und begüterte Mann all seinen Besitz verkauft und den Erlös an die Armen verteilt und so, was unmöglich erschien, durch sein Beispiel möglich gemacht" (11). Paulinus selbst bezeichnete sein Leben in Nola als das eines Monachus, seine Gemeinschaft als fraternitas monacha und seine Gründung als monasterium. Aber er hatte als Mönch noch erhebliche Mittel für Bauten: Für die Reparatur eines Aquädukts, der die Stadt Nola mit Wasser versorgte, den Neubau einer Basilika in Fundi (32,7), die Aufstockung des Hospizes, die Renovierung der Basilika des heiligen Felix und den Anbau einer neuen Basilika" ... (19).

Die Einleitung geht auf die einzelnen Briefempfänger ein (73-99), verweist auf die Bedeutung jener Briefe im Spiegel der antiken Briefgattung und beleuchtet deren Sprache und Stil, die durch die antike Rhetorenschule beeinflußt war (108). Briefe des Paulinus sind einzeln handschriftlich bei Augustin, Hieronymus und Rufin überliefert, sieben Handschriften enthalten nur seine Briefe. Eine editio princeps erschien 1516 in Paris, eine Ausgabe von Muratori 1736 übernahm Migne 1861 als PL 61. Die grundlegende kritische Edition erarbeitete Wilhelm von Hartel, der 1894 in der Wiener Kirchenväterausgabe Paulini Nolani epistulae vorlegte (CSEL 29). Diese Edition wird hier wiedergegeben. Die "Übersetzung ist um ein flüssiges Deutsch bemüht, das allerdings auch die lateinischen Sprachstrukturen durchscheinen lassen will, so daß die Übersetzung auch zur Erschließung des lateinischen Textes herangezogen werden kann" (112). Das erscheint gelungen. Es ist zu begrüßen, daß die Briefe des Paulinus von Nola erstmals auch in einer deutschen Übersetzung vorgelegt wurden, nachdem Übersetzungen in die englische und die italienische Sprache bereits vorliegen (111).

5.2 Band 27 : Hugo von St. Viktor, Studienbuch8



Das um 1127 verfaßte Didascalion (Studienbuch) gilt als die "bekannteste und wichtigste Wissenschaftssystematik der frühen Scholastik" (7). Die Einleitung schildert zunächst den sozialen Hintergrund: Das Aufblühen der Städte und "die herausragende Ausnahmestellung der nordfranzösischen Bildungszentren" (11). Dazu gehört auch der Aufschwung der Domschulen als "deutliches Signal für die neue Wertschätzung der Kirche für Bildung und Wissen" (13).

Glaubenssätze sollten nicht einfach "fraglos akzeptiert, sondern erst einmal bezweifelt und neu durchdacht werden" (15).
Neben der neuen Denkweise blieb aber auch die alte, mönchisch geprägte Theologie. "Die Anstrengung, für beide Denkströmungen offen zu sein, für die Dialektik ebenso wie für den Symbolismus, unternahmen nur wenige, und kein Name ist mit diesem Versuch so eng verbunden wie der Hugos von Sankt Viktor" (22). Die Abtei von Sankt Viktor, in der Nähe von Paris gelegen, war erst um das Jahr 1108 durch den gelehrten Wilhelm von Champeaux gegründet worden, sie wurde aber schon 1113 als königliche Abtei anerkannt und 1114 von Papst CalixtII. bestätigt.

Offergeld charakterisiert das Ziel in St. Viktor: Von Anfang an hat das Wort Bildung hier einen sehr hohen Stellenwert. Man wollte "die monastische Bildungstradition mit den gestiegenen Ansprüchen des modernen Schulbetriebs" verbinden (30). In einer bestimmten Weise wird der Begriff "Ambivalenz" verwendet für Hugos Studienbuch, "das weltliche wie auch geistliche Gelehrtheit in programmatischer Weise verbindet" (33). Von Hugos Leben weiß man wenig: Sicher ist nur, daß er am 11. Februar 1141 in St. Viktor vestorben ist (36). Zeitgenossen und Schüler haben ebenso seine Ausgeglichenheit wie seine Vielseitigkeit gerühmt. Seine Werke wurden vielfach abgeschrieben. Bonaventura stellte Hugo "an die Spitze aller frühscholastischen Geistesgrößen" (39).

Im Vorwort seines Studienbuches formuliert Hugo: "Zwei Dinge sind es vor allem, durch die jeder Wissen erlangt, nämlich Lesen und Meditation. Von diesen beiden steht das Lesen an erster Stelle der Unterweisung, und davon handelt auch dieses Buch, indem es Regeln zum richtigen Lesen gibt" (107). Aber dieser Rahmen wird erheblich überschritten.

Offergeld beschreibt den weit gespannten Inhalt des Werks mit einer bildlichen Wissenschaftssystematik (55). Buch 2 erörtert zunächst die Unterscheidung der einzelnen Wissenschaften, in diesem Rahmen handelt Abschnitt 2 auf nur 10 Zeilen "de theologia" (158). Es folgen Mathematik, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie und Physik (Abschnitt 3-16). Hugos folgenden Gedankengang hätte man im 12. Jh. jedoch kaum erwartet. Er beschreibt die Mechanik, die sieben Wissenschaften umfaßt: Mechanica septem scientias continet (192). Kapitel 20-27 erörtern Tuchherstellung, Waffenschmiedekunst, Handelsschiffahrt, Landwirtschaft, Jagd, Medizin und Theaterkunst (192-207).

Erst Buch 3 nimmt die Ankündigung des Vorworts auf und schreibt über das Lesen: "De ordine et modo legendi et disciplina", "De ordine legendi", "De modo legendi" sowie "De meditatione" und "De memoria" (216-249). Buch 4 gilt dem geistlichen Studium. Kap. 2 nennt die Bücher der Bibel nach der Überlieferung des Hieronymus, (der später auch Luther folgte). Über die "Apokryphen" heißt es: "Sie werden ,Apokryphen’, d.h. ,geheime’, genannt, weil sie zweifelhaft sind". Hugo beruft sich dabei auf ein Wort Isidors von Sevilla, den er häufig als Gewährsmann zitiert. Den Schriften des Neuen Testaments schließt Hugo die Dekretalien oder Kanones sowie die zahlreichen Schriften der Kirchenväter an: Im Vergleich zu diesen Vätern "zeigt sich unsere ganze Trägheit, können wir doch nicht einmal alles lesen, was diese zu diktieren vermochten" (277). In Buch 5,9 nennt Hugo 4 Stufen auf dem Wege zur Vollkommenheit: Belehrung, Meditation, Gebet und Handeln (349)- also doctrina, meditatio, oratio et operatio (348). Im 6. Buch untersucht er den dreifachen Schriftsinn: Der Literalsinn ist die unverzichtbare Grundlage für den allegorischen und tropologischen Sinn.

Offenbar ist es die Meinung Hugos von St. Viktor, daß der Mensch durch Wissenschaft und Künste die einst im Sündenfall verlorene Erkenntnisfähigkeit wieder erlangen und die Vereinigung mit der göttlichen Weisheit erreichen könne. Der informative Band wird abgeschlossen durch drei Appendices (402-413), ein Verzeichnis der Abkürzungen, Bibliographie und Register. Für weitere Arbeiten über die Theologie der Viktoriner und die Kirchengeschichte nach 1100 überhaupt bietet der vorliegende Band gute Grundlagen.



5.3 Band 28, 1-2: Gregor der Große: Evangelienharmonie9



Der Bearbeiter und Übersetzer Michael Fiedrowicz ist durch ein Buch ausgewiesen: "Das Kirchenverständnis Gregors des Großen. Eine Untersuchung seiner exegetischen und homiletischen Werke" (Freiburg 1994). Er skizziert Leben und Werk Gregors sowie seine Bedeutung als Homilet und Exeget (1-16), danach wendet er sich detailliert den Evangelienharmonien zu: Sie entstanden in den Jahren 591/592, also ganz am Anfang von Gregors Pontifikats (19).

Gregors Widmungsbrief zeigt, daß er selbst auch bereits die 40 Homilien als eine besondere Einheit gesehen hat: "sancti Evangelii quadraginta lectiones exposui" (46). Schon zu seinen Lebzeiten wurden diese Homilien abgeschrieben, in der Karolingerzeit waren sie bereits über das Abendland weit verbreitet: "Beda Venerabilis, Hrabanus Maurus, Aelfric, Haymo
von Halberstadt und Honorius von Autun haben mit vielfachen Entlehnungen auf die Homilien Gregors zurückgegriffen" (24).

Gregor hält sich weithin an den Text der Vulgata, er bringt jedoch "die zur Interpretation herangezogenen weiteren biblischen, insbesondere alttestamentliche, Texte zuweilen in einer von der Vulgata abweichenden Form" (26). Seine Auslegung verknüpft "die Technik versweiser Kommentierung des Evangeliums" mit der allegorischen Interpretationsmethode (27). Gregors Spiritualität ist vor allem bestimmt vom Endgericht: "Die bis zur endgültigen Wiederkehr Christi verbleibende Zeit betrachtete Gregor als eine den Menschen vom Weltenrichter gewährte Frist, um mit der Bekehrung Ernst zu machen" (35). Die folgenden Abschnitte sind überschrieben: "Sehnsucht nach der Gottesschau", "Loslösung von der Welt", "Zuwendung zum Nächsten" und "Bestimmung des Menschen im Spiegel des Kirchenjahres" (37-40).

Bei seiner Beweisführung stützt sich F. immer wieder auf Zitate aus Gregors Werken sowie einschlägige Literatur (XXII-XXXI). Gregors altkirchliche Quellen sind schwer genau bestimmbar; viele Gedanken klingen wohl vertraut, "ohne daß jedoch eine konkrete Quelle präzise ermittelt werden könnte" (40). Gregor steht der allegorischen Methode des Origenes nahe, noch deutlicher sind "Berührungen gedanklicher Art mit der Verkündigung Augustins" (40). Der abgedruckte lateinische Text folgt der Edition von H. Hurter (Innsbruck, 1892), die zuletzt auch noch übernommen wurde für den zweiten Band der Opere di Gregorio Magno (Rom 1994). Letztlich folgen freilich alle diese Ausgaben der mehr als 200 Jahre alten Ausgabe, die die Mauriner erarbeitet hatten. Auch Migne hatte für PL 76 ihren Text zugrunde gelegt. Eine neue Ausgabe ist in Arbeit, doch sind "hinsichtlich des bisherigen Maurinertextes wenig substanzielle Änderungen zu erwarten" (43).

Abschließend soll noch eine kurze Textprobe aus einer Predigt Gregors zum Osterfest seine historische und allegorische Auslegungsart zeigen sowie die Art der Übersetzung verdeutlichen, die sich eng an den lateinischen Wortlaut hält und doch im Deutschen gut lesbar ist: "Die Lesung des heiligen Evangeliums, die ihr, Brüder, eben vernommen habt, ist hinsichtlich der äußeren geschichtlichen Darstellung sehr klar, doch müssen wir deren Mysterien kurz untersuchen. ,Als es noch dunkel war, kam Maria von Magdala zum Grab’ (Joh 20,1). Gemäß des geschichtlichen Ereignisses wird die Stunde angegeben, gemäß des mystischen Verständnisses jedoch wird die Einsicht der Suchenden bezeichnet. Maria suchte nämlich den Schöpfer aller Dinge, den sie im Fleisch tot gesehen hatte, im Grabe; und da sie ihn nicht fand, glaubte sie, er sei weggenommen worden. Es war also noch dunkel, als sie zum Grabe kam" (II, 393, Homilie 22,2).



5.4. Band 29: Hildegard von Bingen:

Leben und Heiligsprechung10



Die Herausgeberin und Übersetzerin Monika Klaes hat 1993 für das Quellenwerk "Corpus Christianorum" den Text der Vita sanctae Hildegardis des Theoderich von Echternach ediert (Continuatio mediaevalis, 126). In der Einleitung kritisiert sie die heute verbreitete Tendenz, "einzelne Elemente aus ihrem Werk herauszulösen und in den Vordergrund zu stellen sowie Hildegards schillernde Persönlichkeit im Dienst eigener Interessen auf Teilaspekte zu reduzieren" (7). In der ersten Anmerkung sagt die Editorin, Hildegard sei heute "in erster Linie als Ratgeberin in Ernährungsfragen und als magische Heilkünstlerin bekannt". Der jetzt vorgelegte Band will die historischen Quellen darstellen, die über Hildegard berichten. Die recht verwickelten Vorgänge werden in der Einleitung detailliert dargelegt (7-77).

Einige feste Daten über Hildegard sind sicher oder können doch zumindest als sehr wahrscheinlich gelten: Geburt 1098, Übergabe an das Kloster 1112, Lehrerin (Magistra) 1136, zögernder Beginn der schriftlichen Aufzeichnungen von Visionen 1141, päpstliche Bestätigung für Hildegards Schriften 1147/48, Neugründung des Klosters Rupertsberg bei Bingen 1150/51, Heimgang 1179. Der Verfasser der Vita, Theoderich von Echternach, hat Hildegard wohl nicht selbst gekannt, aber er fand reichlich Material vor. Er beruft sich auf Gottfrieds Aufzeichnungen, die in den Jahren 1174-1176 geschrieben sein dürften. Hildegard beklagt den Tod dieses Mitarbeiters 1176, wahrscheinlich war Gottfried Propst des Rupertsberger Klosters (31f.). - In der Überlieferung Gottfrieds war bereits der entscheidende Papstbesuch Eugens III. in Trier 1147/48 geschildert worden, den Theoderich übernimmt. Dem Papst waren Schriften Hildegards vorgelegt worden: "Nach diesem Bericht ließ der Papst die Schriften der seligen Hildegard vorstellen, die er als Gabe aus dem genannten Kloster empfangen hatte. Und er hielt sie in seinen eigenen Händen, übernahm selbst das Amt des Vorlesers und las sie dem Erzbischof, den Kardinälen und allen, die aus dem Klerus anwesend waren, öffentlich vor. Und als er die Antworten der Männer verkündete, die er ausgesandt hatte, dies zu erkunden, entzündete er Geist und Stimme aller zum Glückwunsch und zum Lob des Schöpfers" (I,4, 95). Dieser Vorgang ist auch für die Papstgeschichte von erheblicher Bedeutung:

Eugens Empfehlung "scheint der erste schriftlich belegte Fall zu sein, in dem ein Papst eine formelle Approbation für ein theologisches Werk gibt, für das eine kontroverse Rezeption erwartet wird" (34). Theoderich von Echternach hatte jedoch mehr Material, er wollte nach eigenen Worten aus duftenden Blüten eine Girlande flechten und Hildegards Visionen mit einarbeiten (Prolog, 81).

Das zweite Buch bringt zwölf Visionen; es sind "zwölf einzelne, nach Umfang und Charakter unterschiedliche Texte" (36 f.). - Der Anfang der ersten Vision sei im Wortlaut wiedergegeben; die Übersetzung lehnt sich ganz eng an den lateinischen Text an: "In geheimnisvoller Schau" - so spricht sie - "und im Licht der Liebe habe ich von der Weisheit, die niemals vergeht, diese Worte so gehört und gesehen: Fünf Töne der Gerechtigkeit, von Gott dem Menschengeschlecht geschickt, donnern laut auf, in denen Heil und Erlösung der Glaubenden besteht. Und diese fünf Töne übersteigen alle menschlichen Werke, weil alle menschlichen Werke von ihnen genährt werden. Diese sind es, die nicht im Klang dahergehen, aber mit denen alle Werke des Menschen in den fünf Sinnen seines Körpers vollendet werden..." (II,2, 123). Die fünf Töne werden erklärt, sie sind das Opfer Abels, die Arche Noah, das Gesetz des Mose, die Menschwerdung Christi sowie seine Wiederkunft.

Buch III bringt Wundertaten Hildegards: De virtutibus sanctae virginis (180). Es endet mit Kapitel 27, das ihren glücklichen Heimgang und besondere Zeichen bei ihrem Tod mitteilt (230-235). Die Darstellung Theoderichs "weist über das Selbstverständnis Hildegards als Prophetin hinaus und macht sie zum Vorbild einer Generation von Mystikerinnen, die im 13. Jh. vor allem in den Niederlanden ihre Blütezeit erleben" (63).

Theoderich dürfte seine Vita in den Jahren 1181-1186 geschrieben haben; sie bildet den Abschluß des in Wiesbaden aufbewahrten "Riesencodex", der vermutlich noch zu Hildegards Lebzeiten geplant war und schon freie Blätter für die Vita Theoderichs vorbehalten hatte. Der Riesenkodex ist eine "Sammlung aller Werke Hildegards mit Ausnahme der naturkundlichen Schriften" (65). Dieser Vorlage folgte ein erster Druck 1566; eine erste deutschsprachige Fassung lag schon 1524 vor. Es handelte sich dabei freilich um eine "sehr freie Übertragung, die an manchen Stellen längere Zusätze bietet, aber auch einiges ausläßt" (70). Erst 1854 wurde die Vita Hildegardis vollständig ins Deutsche übertragen.

Über die Heiligsprechung berichtet die Einleitung, 71-74. Es gab schon bald nach ihrem Tode entsprechende Bemühungen, der "Riesenkodex" dürfte wohl auch diesem Zweck gedient haben. Aber erst 1228 beginnt ein Verfahren unter Papst Gregor IX., der noch genauere Unterlagen anforderte. 1233 wurde ein Zeugenbericht nach Rom geschickt, der 1243 unter Papst Innozenz IV. ergänzt wurde. "Das Interesse an einer Kanonisation Hildegards scheint zu dieser Zeit in Rom größer gewesen zu sein als in Mainz selbst ... " (72). Der Band überliefert ein Schreiben Papst Gregors IX. von 1233 im Wortlaut; darin gab er den Auftrag, Leben, Schriften und Wunder Hildegards "sehr sorgfältig zu erforschen und uns dann unter eurem Siegel glaubwürdig darzulegen" (247). Das geschieht dann auch in aller Ausführlichkeit (248-279). Die einzelnen Zeugenaussagen wirken jedoch "wenig zuverlässig", es gibt Doppelungen, "über viele Wunder wird nur pauschal gesprochen" (74). Das Verfahren um die Heiligsprechung Hildegards von Bingen fällt freilich in eine Zeit, "in der sich die Form der apostolischen Heiligsprechung erst entwickelt" (72).

Fussnoten:

1) Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel. Nach Petrus Sabatier neu gesammelt und in Verbindung mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hrsg. von der Erzabtei Beuron. 11/2: Sirach (Ecclesiasticus). Hrsg. von W. Thiele. 7. Lfg.: Sir 16,21-19,28. Freiburg: Herder 1998. S.481-560. 4. ISBN 3-451-00430-5.

2) Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel. Nach Petrus Sabatier neu gesammelt und in Verbindung mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hrsg. von der Erzabtei Beuron unter der Leitung von R. Gryson. 22: Epistula ad Corinthios I. Hrsg. von U. Fröhlich. 3. Lfg.: Einleitung (Fortsetzung und Schluß). Freiburg: Herder 1998. S. 161-240. 4 ISBN 3-451-00163-1.

3) Hammond Bammel, Caroline P. (): Der Römerbriefkommentar des Origenes. Kritische Ausgabe der Übersetzung Rufins. Buch 7-10. Aus dem Nachlaß hrsg. von H. J. Frede und H. Stanjek. Freiburg: Herder 1998. S. 551-903. gr.8 = Vetus Latina. Aus der Geschichte der lateinischen Bibel, 34. ISBN 3-451-21945-X.

4) Gryson, Roger: Commentaires de Jêrome sur le Prophète Isaie. Introduction par R. Gryson. Livres XII-XV. Texte établi par R. Gryson et C. Gabriel, avec la collaboration de H. Bourgois et V. Leclercq. Freiburg: Herder 1998. IV, S.1261-1612. gr.8 = Vetus Latina. Aus der Geschichte der lateinischen Bibel, 35. ISBN 3-451-21949-2.

5) Origenes: Commentarii in epistulam ad Romanos. Römerbriefkommentar. Übers. und eingeleitet von Th. Heither. Freiburg: Herder.

Bd. IV: Liber septimus, liber octavus. Siebtes und achtes Buch. 1994. 344 S. 8 = Fontes Christiani 2/4. Kart. DM 48,-. ISBN 3-451-22109-8.

Bd. V: Liber Nonus, liber decimus. Neuntes und zehntes Buch. 1996. 312 S. 8 = Fontes Christiani, 2/5. Kart. DM 46,-. ISBN 3-451-22122-5.

6) Irenäus von Lyon: Adversus haereses. Gegen die Häresien. Buch IV. Übers. und eingeleitet von N. Brox. Freiburg: Herder 1998. 396 S. 8 = Fontes Christiani, 8/4. Kart. DM 58,-. ISBN 3-451-22128-4.

7) Paulinus von Nola: Epistulae. Briefe. Bd. I-III. Übers. und eingeleitet von M. Skeb. Freiburg: Herder 1998. 1152 S. 8= Fontes Christiani 25,1-3. ISBN 3-451-23805-5, 3-451-23806-3, u. 3-451-23807-1.

8) Hugo von Sankt Viktor: Didascalion de studio legendi. Studienbuch. Über. und eingeleitet von Th. Offergeld. Freiburg: Herder 1997. 456 S. 8 = Fontes Christiani, 27. DM 48,-. ISBN 3-451-23910-8.

9) Gregor der Große: Homiliae in evangelia. Evangelienhomilien. 1. u. 2. Teilband. Übers. u. eingeleitet von M. FiedrowDM 82,-. ISBN 3-451-23811-X u. 3-451-23812-8.

10) Vita Sanctae Hildegardis. Leben der Heiligen Hildegard von Bingen. Canonizatio Sanctae Hildegardis. Kanonisation der Heiligen Hildegard. Übers. und eingeleitet von M. Klaes. Freiburg: Herder 1998. 300 S. 8 = Fontes Christiani, 29. DM 48,-. ISBN 3-451-23366-5