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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

789–791

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Leiner, Martin

Titel/Untertitel:

Tillich-Biographien. Ein Literaturbericht

Die Wirkungsgeschichte eines Theologen entscheidet sich unter anderem daran, ob er einen Biographen findet, der zumindest zwei Fähigkeiten besitzt: Er muß das, was zu Lebzeiten von der Persönlichkeit ausging, bewahren und künftigen Generationen eindrücklich und anregend vor Augen führen. Der Forschung muß er überdies ein zuverlässiges Hintergrundwissen für die Interpretation des Werkes liefern. K. Barth und D. Bonhoeffer haben in diesem Sinne durch E. Busch und E. Bethge hervorragende Biographien von bleibender Bedeutung erhalten.

Anders ist es mit Tillich. Von der Parteien Gunst und Mißgunst zerrissen, wird sein Bild in der Geschichte wohl immer etwas Schwankendes behalten Die Biographie des Ehepaares Pauck, die eigentlich die Standardbiographie hätte werden sollen, ist voller sachlicher Fehler. Für die wissenschaftliche Arbeit ist sie beinahe unbrauchbar. Die wichtigsten Fehler sind im Ergänzungsband V der Gesammelten Werke (im folgenden E. W. V) durch das Namensregister zu Pauck leicht zu finden.

Nur einige Beispiele: Paucks Darstellung von Tillich beginnt mit der eindrücklichen Behauptung, er habe seine Geburt beinahe nicht überlebt. Dies habe in ihm eine "Lebenslange Furcht vor dem Tode" und eine "Neigung zur Schwermut" (15) hervorgerufen. Wie eine Tagebucheintragung seines Vaters be-weist, erkrankte der Säugling aber erst im Alter von 6 Wochen (vgl. E.W. V 16; 25). Das Geburtsjahr von Tillichs Schwester Johanna war 1889 und nicht 1888 wie die Pauck-Biographie behauptet (19; vgl. E.W. V 25). Es trifft auch nicht zu. daß er sie als "Frau"(80) angeredet habe und wahrscheinlich eine Art kindliches Liebesverhältnis zu ihr gehabt habe (90). Johannas Kosenamen "Wumming", den Tillich noch benutzte, als er schon verheiratet war, kann auf keinen Fall mit "Frau" übersetzt werden (vgl. E.W. V 82; 110). Im l. Weltkrieg sind die Datierungen und Lokalisierungen völlig durcheinander geraten. Durch einen Lesefehler wird behauptet: "In den ersten Märztagen klagte er (Tillich, M. L.) ein wenig großsprecherisch seinen Vater darüber, das feindliche Feuer sei zu passiv" (56). Im Brief steht, daß die "Passivität in feindlichem Artilleriefeuer" schwer zu ertragen gewesen sei (E. W. V 87). Wegen dieser und anderer Mängel ist das Erscheinen neuer Tillich-Bücher zu begrüßen.

Nicht als wissenschaftliche Biographien konzipiert sind die eher privaten Zeugnisse von Hanna Tillich und Rollo May. H. Tillich "outet" nicht ohne Zorn und Eifersucht sehr intime Details aus dem Leben ihres Mannes. Der Quellenwert ihrer Darstellung ist schwer zu beurteilen Immerhin scheinen einige Angaben in From Time to Time nicht zutreffend zu sein. Daß ihr Buch erst 20 Jahre nach dem amerikanischen Original in deutscher Übersetzung erschienen ist, beruht auf einem Prozeß, der mit einer Abmahnung endete. Das gerichtliche Verfahren zeigte unter anderem. daß die für ihr Verhältnis zu ihrem Mann besonders wichtige Darstellung der Hochzeitsnacht unzutreffend ist.

Rollo May stellt Tillich als seinen "großen spirituellen Lehrer" und Freund heraus. Seine "Erinnerungen an eine Freundschaft" stellen Tillich beeindruckend vor Augen und erfüllen so die erste Forderung an eine Biographie in einem hohen Maße. Nicht für alle überzeugend ist die psychologische Analyse, mit der der große humanistische Psychologe sein Zeugnis verbindet.

In rororo-Monographie von Gerhard Wehr ist verläßlich und schafft vor allem durch die Bilder den ersten Eindruck von Tillichs Person. Als Grundlage für wissenschaftliche Arbeit ist sie aber zu kurz und zeigt zu wenig die Spannungen in Tillichs Entwicklung auf. Die Darstellung der Theologie Tillichs (98-120) ist sehr gedrängt und verstärkt den (unzutreffenden) Eindruck, Tillichs Theologie lasse sich als widerspruchsfreies System fassen.

Die in der Reihe Biographien zur Kirchengeschichte erschienene Darstellung von Ilse Bertinetti übernimmt Fehler aus der Biographie von M. und W. Pauck und beweist damit nur, wie notwendig eine öffentliche Richtigstellung der Fehler in der Pauck-Biographie ist.

So bleibt nur die im wesentlichen von Renate Albrecht verfaßte und von Werner Schüßler nach ihrem Tode zu Ende geführte Biographie Paul Tillich. Sein Leben. Sie bietet einen exakten und zitatenreichen Überblick über Tillichs Leben. Zitiert wird - wenn auch in bescheidenen Umfang so doch in interessanter Weise - auch aus bisher unveröffentlichten Dokumenten. Aus den Briefen an Erich Seeberg beispielsweise wird der Bruch mit Barth und Tillichs Sorge vor einer überhandnehmenden antiliberalen Haltung in der Theologie sehr deutlich (vgl. bes. 78 f.). Einen guten Eindruck gewinnt der Leser auch durch die vielen Zeugnisse von Freunden P. Tillichs. Bislang unveröffentlicht ist der längere Bericht von Prof. Durwood Foster über Tillichs Zeit am "Union Theological Seminary"' in New York (120-123).

Auf dieser Grundlage gewinnt der Leser einen soliden Eindruck von Tillichs Persönlichkeit. Deutlicher als in den anderen Biographien kommt dabei heraus, wie seine Persönlichkeit zwischen zwei Polen schwankte. In seinen Kriegsschilderungen begegnen wir einer manchmal erschrecken ästhetisierend-distanzierten Haltung. Tillich bezeichnet den Anblick der deutschen Verwundeten als "erhebend" (38), widmet dem Krieg ein Gedicht (40) und schreibt zur Schlacht bei Tahure: "Es war das gewaltigste militärische Schauspiel, das ich je gesehen" (42). Auf der anderen Seite sieht man aber, wie Tillich mit warmherzigem Einfühlungsvermögen und Humor (z.B.. 27 f., 38f.) um seine Mitmenschen bemüht war. Ein besonders schönes Zeugnis ist der Brief an seine Tochter, aus dem die Biographie zitiert (17; auch die längere Fassung in E.W. V 18 f. ist lesenswert!) Der emphatische Zug setzt sich im Lauf seines Lebens immer mehr durch, vor allem dank Tillichs Passion, öffentlich zu reden. Er besaß dabei offensichtlich die besondere Fähigkeit, gleichermaßen der Sache und den Zuhörern zugewandt und
authentisch zu sein: "Wenn Tillich in seinem gebrochenen Englisch sprach, spürte jeder von uns Hörern, daß er lebendige Wahrheiten hörte" (Zeugnis von Rollo May; 99).

Obwohl viele Zeugnisse einen ähnlichen Eindruck wiedergeben, haben die Autoren der Versuchung widerstanden, Tillichs negative Seiten auszublenden. Seine "Unreife" in jungen Jahren und besonders in seinen Beziehungen zu Frauen (20, 29 f., 33) wird ebenso benannt wie seine "Lockerheit" gegenüber seinem geschriebenen Werk (132). Tillich nannte einige seiner Zeitschriften-Artikel im Nachhinein "unmöglich" (132). Eine Bemerkung, die die Interpreten vor Fehleinschätzungen bewahren kann! Albrecht/Schüßler bringen außerdem ein Zitat H. G. Gadamers: "Wir Heidegger-Schüler fanden Tillichs Art viel zu wenig fundiert in wirklicher Forschung, und ich muß sagen, daß uns Tillich in gewisser Weise später recht gegeben hat" (65 f.). Eine ähnliche kritische Distanz sucht man in den verdienstvollen Biographie von Busch und Bethge vergebens.

Wegen seiner Objektivität und seiner Überlegenheit gegenüber allen anderen Tillich-Biographien bleibt zu hoffen, daß das Büchlein von Albrecht und Schüßler die Normalbiographie für alle an Tillich Interessierten wird. Problematisch bleibt dabei eines: Die Biographie von Albrecht/Schlüßler ist mit 135 Seiten sehr kurz. Für wissenschaftliches Arbeiten müssen zusätzlich die Dokumente in W. V gesichtet werden. Selbst die Biographie von Pauck wird man trotz ihrer zweifelhaften Zuverlässigkeit weiterhin immer mit heranziehen müssen. Es bleibt darum nur zu hoffen, daß eines Tages noch eine umfassende und zuverlässige Tillichbiographie geschrieben wird.

Fussnoten:

Marion und Wilhelm Pauck, Paul Tillich. His Life and Thought. Vol. 1. New York 1976. (Dtsch.: Paul Tillich. Sein Leben und Denken Bd. 1: Leben. Stuttgart 1978).

Hanna Tillich, From Time to Time. New York 1973. (Dtsch.: Ich allein bin. Gütersloh 1993).

Rollo May, Paulus. Reminiscences of a Friendship. New York 1973. 2.Ed.: Paulus: Tillich as Spiritual Teacher. Dallas 1988.

Gerhard Wehr, Paul Tillich in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1979.

Ilse Bertinetti, Paul Tillich. Berlin 1990.

Renate Albrecht u. Werner Schüßler, Paul Tillich: Sein Werk. Düsseldorf 1986.

Renate Albrecht u. Werner Schüßler, Paul Tillich. Sein Leben. Frankfurt/M.; Berlin; Bern; New York; Paris; Wien 1993.

Renate Albrecht und Margot Hahl [Hrsg.], Paul Tillich: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte. Gesammelte Werke. Ergänzungsband V. Stuttgart 1980.