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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

45–48

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Hauschild, Wolf-Dieter

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte. Bd. I: Alte Kirche und Mittelalter.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. XVII, 693 S., 28 Ktn. gr.8°. DM 78,­. ISBN 3-579-00093-4.

Rezensent:

Ekkehard Mühlenberg

Ein Ersatz für den "Heussi"? "Nein, weil jene didaktische Meisterleistung mit ihrer konzentrierten Verarbeitung der Forschung in sprachlich komprimierter Stoffülle kaum kopiert werden kann..." (V). Das Kompliment im Vorwort klingt überschwenglich, sobald es mit dem Buch von H. verglichen wird. H. will den Studenten bei der Vorbereitung zum Examen helfen; er sieht, daß es ohne Stoffpräsentation nicht geht, aber die eigentliche Hürde seien Verständnisschwierigkeiten gegenüber den Sachverhalten der Kirchen- und Dogmengeschichte. Kann H. so helfen, daß sein Buch anstatt des bekannten Kompendiums das Repetieren erleichtert? Der "Heussi" wurde ein Jahr nach Erscheinen in zweiter Auflage gedruckt, und schon daraufhin stellte sich Walther Köhler vor, daß der Kirchenhistoriker vor leeren Bänken sprechen könnte (ThLZ 36, 1911, 332). Mengenrabatt verspricht H. nicht; denn etwas weniger als die Hälfte der 636 Textseiten ­ der Rest sind ein Namen- und ein Sachregister ­ beträgt der Normaltext, der das unerläßliche Grund- und Überblickswissen enthält, was ungefähr der vergleichbaren Lesemenge des "Heussi" entspricht.

Aber die Anlage des "Lehrbuchs" ist neu und ganz anders. Hatte Karl Heussi seinen Erfolg mit der Methode der "genetisch-chronologischen" Darstellung gewonnen, wodurch er in der gesamten Kirchengeschichte auf neun Perioden kam, so wählt H. wegen der "konzeptionellen Orientierung an der Examensvorbereitung" thematische Längsschnitte. Für die ersten 1500 Jahre der Kirchen- und Dogmengeschichte sind es 10 Themen. Ihr jeweiliger Umfang ist fast gleich, die Präsentation ist identisch schematisiert.

Jedes Thema hat drei vorgeschaltete Seiten: Bedeutung des Themas; hauptsächliche Probleme; Zeittafel für wichtige Ereignisse, Sachverhalte, Personen. Von den 280 Zeitdaten werden 94 als eiserne Ration (fett gedruckt) ausgezeichnet. Das, was H. als Probleme angibt, sind Themen, die in der Darstellung mit Stoff gefüllt vorgeführt werden; es sind z. T. geläufige Klausurthemen. Die 10 Themen, optisch durch das Paragraphensiglum hervorgehoben, beziehen faktisch den ganzen Stoff des kirchengeschichtlichen Grundwissens ein, allerdings zeitlich auseinandergerissen. Die Aufgabe, durch die jeweilig anderthalb Seiten unter der Überschrift: "Die Bedeutung des Themas" zum Verstehen anzuleiten, ist unterschiedlich gelöst. Für H. gibt es einerseits Themen, die sich für das Christentum grundsätzlich stellen und deswegen eine systematische Relevanz haben, andererseits solche, die sich aus der Notwendigkeit, Stoffkomplexe zu erfassen, ergeben und deren Bedeutung mit ihrer Nachwirkung gerechtfertigt wird. Aber hier überschneiden sich noch mehr Gedanken, manche kenntlich gemacht, während andere unter der Hand einfließen. Zumindest will die Thematisierung Fragen wecken und an theologisches Fragen anknüpfen.

Es ist natürlich nicht folgenlos, wenn unter dem Titel "Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte" die geschichtlichen Phänomene in thematische Längsschnitte umgeformt werden. Das Ineinander von geschichtlichen Bedingungen und theologischen Einsichten scheint zwar durchsichtiger zu werden, wenn die theologischen Einsichten thematisch gesondert werden, wodurch ihre geschichtlichen Bedingungen deutlicher benannt werden können. Dies ist der Vorteil der Darstellung, die H. gibt. Zu seinen Gunsten könnte H. auch geltend machen, daß selbst die Beschränkung, die etwa "Heussi" durch die Verkleinerung der herkömmlichen Epochen zu Perioden vornimmt, nicht zu Phänomenen gelangt, deren "genetische" Einheit eindeutig und allgemeiner Konsens wäre. Trotzdem ist ein Verlust an geschichtlichem Bewußtsein zu bemängeln, weil sich Aktualisierungen einschleichen und die Fremdheit verdecken, d. h. es erschweren, des Fremden gewahr zu werden.

Die zehn thematischen Längsschnitte: 1. Christliche Gotteslehre als Trinitätslehre; 2. Christliche Gemeinschaft als Institution Kirche; 3. Frühe Christenheit und römisches Reich; 4. Christologischer Streit und Zerfall der Kircheneinheit; 5. Augustin und die Lehrentwicklung der westlichen Kirche; 6. Mönchtum als wahres Christentum; 7. Die Christianisierung Europas; 8. Papsttum und römischer Katholizismus; 9. Geistliche und weltliche Gewalt im christlichen Abendland; 10. Blüte der Theologie im Mittelalter. Die Auswahl, bei den meisten auch die Formulierung, dürfen auf Zustimmung hoffen. Ihre Abfolge spiegelt historische Abfolgen. Aber die Einordnung des geschichtlichen Stoffes unter diese Themen enthält ebensoviel Richtiges wie durch Isolierung verzerrende Gewaltstreiche (natürlich durch Querverweise gemildert). Ein Beispiel: Karl der Große muß unter 5. erscheinen (§ 5; 13 Theologie im Zeitalter Karls d. Gr.), unter 7. (§ 7; 76 Das Reich Karls d. Gr. als Grundlage des christlichen Abendlandes), unter 9. (§ 9; 3 Universalherrschaft und christliches Kaisertum bei Karl d. Gr.) und kann unter 8. nicht ganz fehlen (§ 8; 5.2 Territorialherrschaft seit der "Pippinschen Schenkung"), wenn ich noch von 6. (§ 6; 8.4 Politische Instrumentalisierung unter Karl d. Gr.) absehe. Offensichtlich zeigt dieses Beispiel, daß die Aufteilung in thematische Längsschnitte historischer Dynamik nicht ausreichend ansichtig werden kann.

Eigenständig ­ wie eine methodologische Vorrede und damit die thematische Aufteilung rechtfertigend ­ beginnt H. mit der christlichen Gotteslehre. Die Kirchengeschichte soll dadurch ganz allgemein ein inhaltliches Zentrum und Kriterium finden, eben in der trinitarisch gefaßten Gotteslehre. Das begründet H. durch Verweis auf die Religionsgeschichte, weil die Gottesvorstellung für die jeweilige Religion konstitutiv sei (1). Das Wort "Religionsgeschichte" ist also das erste Wort im "Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte". Ansonsten aber ist von einer religionsgeschichtlichen Methode explizit nichts zu merken; ich bedaure das keineswegs und hätte sogar gewünscht, H. wäre sich religionsgeschichtlicher Neigungen einiger seiner Gewährsleute bewußter gewesen (z. B. § 6; 12 Religiöse Frauenbewegung; §10; 18 Theologie und Erfahrung im 14./15. Jh., und die Gentilreligion im 7. Thema). Nach dem allgemein begründenden Eingangssatz über Religion und Gottesvorstellung folgt die Anwendung auf den Gegenstand der Kirchen- und Dogmengeschichte. Das ist wohl die christliche Religion; sie wird "Christentum" genannt und hat eine ihr eigene "Identität". "Die Identität des Christentums", die dann beschrieben werden soll, ist unter einen anderen Begriff gestellt: "Identität des Christentums" ist eine sprachliche Anleihe aus der Soziologie, was zur Not religionssoziologisch angeglichen werden kann. "Die Identität des Christentums" ist aber nicht soziologisch bestimmt, sondern sie ist religiös definiert, sowohl durch eine "persönliche Bindung" als auch durch eine "Glaubensüberzeugung". H. nimmt die Unterscheidung zwischen existentiellem Vollzug und Inhalt auf, um das Christentum zu identifizieren. Die Unterscheidung selbst ist keineswegs evident, sondern erst in der christlichen Theologie entdeckt worden; sie bezieht sich auf eine Spaltung des Begriffs Glaube. Dann hat die weitere Theologiegeschichte versucht, sie wieder zu überbrücken (z. B. auctoritas und ratio in der Scholastik), bis die Reformation die Einheit durch eine Neubestimmung von Glaube wiedergewann, und die evangelische Theologiegeschichte ist von dem Versuch gezeichnet, die reformatorische Einheit festzuhalten. H. formuliert seinen zweiten Satz so: "Die Identität des Christentums ergab sich von Anfang an nicht allein aus der persönlichen Bindung der Gläubigen an Jesus von Nazareth, sondern auch aus der Glaubensüberzeugung, daß in ihm Gott in besonderer Weise präsent geworden sei."

Auf die vorreformatorische Aufspaltung von Glaube (fides qua creditur; fides quae creditur) rekurriert zu haben, erweist sich als problematisch, da eine "persönliche Bindung an Jesus von Nazareth" sich nur für die ergeben kann, die dem Jesus von Nazareth als Person begegnet sind; nach der Hinrichtung Jesu von Nazareth ist für eine persönliche Bindung vorausgesetzt, daß Jesus von Nazareth gegenwärtig, d. h. präsent ist; so sagt es H. auch selber (5 unten). Allein schon die Gegenwärtigkeit des hingerichteten Jesus ist nicht mehr durch das Wort ’Jesus’ auszudrücken, sondern erfordert eine Qualifizierung, die Jesus mit Gott verbindet. H. muß den Ausdruck wechseln, um deutlich zu machen, daß die Auferweckung Jesu von den Toten nicht heißt, Jesus ruhe jetzt bei Gott, sondern daß Jesus gegenwärtiger Gott ist; so sagt H. zu Recht: Jesus Christus. Der dritte Satz lautet also: "Heilserwartung und Zukunftshoffnung; Lebensgestaltung und Gemeinschaftsform waren abhängig von der mehr oder weniger starken Konzentration auf Jesus Christus."

Nachdem die Identität des Christentums so umschrieben ist, kann H. konsequent die Bedeutung des Themas: "Christliche Gotteslehre als Trinitätslehre" erläutern. Denn Christentum ist als Religion charakterisiert; folglich ist Kirchengeschichte durchgehend und in allen ihren Aspekten "stets verbunden mit religiösen Elementen" ­ ich würde ergänzen: sie sollen aufgesucht werden, und sie können beurteilt werden, wenn sie, wie H. angibt, in einem "wesenhaften Christusbezug" bestehen. Da H. den "Christusbezug" von der lehrmäßigen "Reflexion über die Gestalt Jesu" unterscheidet, vermeidet er, daß Kirchengeschichte zur Christologie wird, sondern Christologie soll die immer implizite Basis der Kirchengeschichte sein. Den Gedanken, daß das Thema "Christliche Gotteslehre als Trinitätslehre" das erste und fundamentale Thema der Kirchengeschichte sei, begründet H., indem er die "Reflexion über die Gestalt Jesu" in die Gotteslehre verlagert. Die "Reflexion über die Gestalt Jesu" habe "deren allgemeine Bedeutung" zu formulieren; dies sei deren "theologische Bedeutung", genau: "deren Beziehung zu Gott." Für H. ist damit auch die Wahrheitsfrage gestellt und im Dogma vom trinitarischen Gott beantwortet.

Wenn ich die ausführende Darstellung des ersten Themas richtig erfaßt habe, ergibt sich ein sehr klarer Grundgedanke: Die Wahrheit der theologischen Bedeutung Christi wird erwiesen, indem Christus als Vermittler des Transzendenten zu Gottes Wesen gehörig gedacht wird; diese Erkenntnis bewirkt der Heilige Geist durch Erleuchtung. Ich wundere mich darüber, daß entweder Karl Barth den Gang der Geschichte zum ersten Dogma der Kirchengeschichte so gut verstanden haben sollte oder hier der Gang zum Dogma so gut mit Karl Barth übereinstimmt. Denn die "metaphysisch-ontologische Reflexion", die für den modifizierten Monotheismus der christlichen Lehre von H. gefordert wird (26; vgl. 1), wird weder im Ansatz noch in der Darstellung verständlich gemacht.

H. weist sehr präzise auf das Problem hin, das den Christen und der platonischen Philosophie im 3. und 4. Jahrhundert gemeinsam war: "Denn das gemeinsame Problem war die ontologische Erklärung dessen, wie es von der ursprünglichen transzendenten Einheit zur Vielheit der empirischen Phänomene kommen könne" (17). Kenner werden Sätze dazu entdecken (z.B. 19 über Origenes); aber sie gehen unter oder sind im Kleindruck versteckt (z. B. 35 Mitte); vielleicht soll eine vorausgesetzte Vorlesung sie entfaltet haben (christliche Schöpfungslehre!). Jedoch entspricht es dem selbstgesetzten Ziel, wenn die Gotteslehre als Christologie im weiteren Sinne unter die Absicht gestellt wird, hierin den Weg zur dogmatisch ausformulierten "Identität des Christentums" vorzutragen. Folglich bleibt der Schwerpunkt der Darstellung der lange Weg zur Anerkennung der "Gottheit Christi als ’Homousie’" (29) und ihrer endgültigen "kirchenrechtlichen Fixierung des Nizänums und einer dogmatischen Interpretation der Homousie durch die Drei-Hypostasenlehre" (44).

Die Interpretamente für den dogmengeschichtlichen Weg übernimmt H. aus der uns geläufigen Nomenklatur (Modalismus, Subordinatianismus, Homöer usw.), fügt jedoch eigene Indikatoren hinzu, durch die er auf theologische Sachverhalte aufmerksam macht (z. B. 34 bei Athanasius; Inkarnation, Gemeinschaft mit Gott, Offenbarungstheologie) und Verständnishilfen anbietet. Ich hätte viel direkter eigenes Fragen eingebracht, um aufzuhellen, wie anders z. B. ein Athanasius denkt, wovon er überzeugt war, was er entdeckt hat und worauf er keine Antwort gibt. H. hat solche Konfrontationen in seiner Themabestimmung vorweggenommen, aber durch seine Aktualisierung auch entschärft. Bei einigen der weiteren Themen wäre das Gespräch noch intensiver zu führen, und die Auseinandersetzung über theologische Grundgedanken und deren historische Stützen würde radikal werden.

Didaktisch ist das "Lehrbuch" vorzüglich angelegt und ausgeführt. Die Überschriften enthalten sachbezogene Formulierungen, und diese sind durch fettgedruckte Stichworte im Haupttext ergänzt und differenziert. Der Kleindruck erfüllt, vergleichbar den alten Lehrbüchern (z. B. Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. G. Krüger) die Funktion von erläuternden Anmerkungen. Wer die Kirchengeschichte mit diesem Lehrbuch repetiert hat, wird (bei mir) nicht durchfallen.