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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

753-755

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Stricker, Gerd

Titel/Untertitel:

Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche in der Diaspora.

Verlag:

Berlin: Verlag Osteuropa-Zentrum 2009. 141 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 12,90. ISBN 978-3-940452-45-0.

Rezensent:

Erich Bryner

Die Vereinigung der jahrzehntelang miteinander verfeindeten Russischen Orthodoxen Kirche, Patriarchat Moskau (ROK) und der Russischen Orthodoxen Kirche außer Landes (Auslandskirche, ROKA) am 7. Mai 2007 war der äußere Anlass für die Darstellung der höchst komplizierten Geschichte der russischen Orthodoxie in der Diaspora. Der Autor, lange Jahre Redaktor und dann Chefredaktor der Zeitschrift »Glaube in der 2. Welt« (heute »G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West«), Zürich, und ausgewiesener Kenner der Materie, hatte die Entwick­lung der russischen Diasporakirchen in zahlreichen Artikeln dargestellt und kommentiert, zuletzt in der »Internationalen kirchlichen Zeitschrift«, Bern. Hier legt er eine klare und übersichtliche Gesamtschau vor.
Das erste Kapitel gilt der ROKA. Nach der Oktoberrevolution 1917 emigrierten oder flohen zahlreiche Russen aus ihrer Heimat, gründeten eigene Kirchgemeinden und schufen eine kirchliche Organisation »außer Landes«, die ihr Zentrum zuerst in Karlowitz in der Vojvodina hatte, nach dem Zweiten Weltkrieg nach Karlsbad, dann nach München und schließlich 1952 nach Jordanville bei New York zog. Das erste geistliche Oberhaupt war der profilierte, politisch und theologisch streng konservative Metropolit Antonij (Chrapovickij) (gest. 1936). Die Auslandkirche kämpfte für die Erneuerung Russlands mit einer christlich-monarchistischen Struktur und die Vertreibung der Bolschewiken aus ihrer Macht. Sie führte durchgehend einen streng nationalistischen, antikommunistischen und antiökumenischen Kurs und wurde in der Sowjetunion als »Hort der antisowjetischen Reaktion« bezeichnet. 1938 verfügte die ROKA weltweit (in Europa, Nord- und Südamerika sowie in China) über 24 Metropolien und Vikariate, 28 Hierarchen, ca. 1000 Kirchgemeinden und 18 Klöster. Besondere Probleme stellten sich im Deutschen Reich vor und während des Zweiten Weltkrieges und im Heiligen Land, wo die Russische Orthodoxe Kirche schon in der Zarenzeit eine Vertretung und mehrere Klöster besaß; ihrer Geschichte mit den Konflikten zwischen Moskau und Jordanville sind eigene Abschnitte gewidmet. Nach dem Zusam­menbruch der Sowjetunion gründete die ROKA eigene Eparchien in Russland, was als ein nicht ganz unproblematisches Unterfangen erwähnt ist.
Dass sich nicht alle Emigranten aus Russland dem streng konservativ-monarchistischen Kurs der ROKA anschließen konnten und eine eigene, »liberalere« Kirche gründeten, zeigt S. im 2. Hauptabschnitt. In Paris sammelten sich Spitzenkräfte der russischen Intelligenz, die philosophisch und theologisch eigene Wege gingen, an einer Inkulturation mit dem Westen interessiert waren und sich den ökumenischen Bestrebungen der Weltchristenheit öffneten. 1926 trennte sich die russische Erzdiözese in Westeuropa unter der Führung von Metropolit Evlogij (Georgievskij) (gest. 1946) von der Auslandskirche und bildete eine eigene Kirchenstruktur unter dem Patriarchat Moskau. Wegen der starken Einflussnahme der Sowjetregierung auf die Kirche unterstellte sie sich 1931 dem Ökumenischen Patriarchat Konstantinopel, dem sie heute noch angehört. Das Institut St. Serge in Paris leistete vor allem in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg eine äußerst kreative theologische und ökumenische Arbeit. Der profilierteste Theologe war Sergij Bulgakov, zum Umfeld des Institutes gehörte u. a. der Religionsphilosoph Nikolaj Berdjaev. Die Zeitschrift »Der Bote der christlichen Studentenbewegung« (Verlag YMCA Press, Paris) wurde zu einem viel beachteten Publikationsorgan, in dem nicht nur hervorragende Theologen, sondern auch Schriftsteller wie Boris Pasternak, Anna Achmatova, Aleksandr Sol zˇenicyn und Iosif Brodskij Werke veröffentlichten. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion leben viele »neue Russen« in Paris, die einen Anschluss der Erzdiözese an das Patriachat Moskau betreiben, doch zwei Drittel der Gläubigen wünschen sich zurzeit den Verbleib bei Konstantinopel, wie die Erklärung des Pariser Diözesanrates von 2005 (bei S.: 60–67) klar zeigt.
Der dritte Hauptabschnitt ist der »Orthodox Church in America« gewidmet. Diese geht auf die russische Alaska-Mission 1794 zurück, die in der 2. Hälfte des 19. Jh.s die Gegend von San Francis­co erreichte und im 20. Jh. zahlreiche Emigranten aus Russland aufnahm. 1970 verlieh ihr das Patriarchat Moskau die Autokephalie, also die volle kirchenrechtliche Unabhängigkeit. Heute gehören ihr zumeist Amerikaner mit russischen Wurzeln an. Ihr theologisches Seminar, das St. Vladimir’s Seminary in Crestwood, NY gehört neben St. Serge in Paris zu den besten orthodoxen Hochschulen. Finanzielle Affären in der Kirchenleitung sorgten vor wenigen Jahren für unschöne Schlagzeilen. – Der vierte Hauptabschnitt gilt den Auslandsdiözesen des Moskauer Patriarchates, die in der Sowjetzeit Außenposten des Patriarchats waren und u. a. der Propagierung der sowjetischen »Friedens«politik dienten und seit der Wende nicht zuletzt mit aktiver Unterstützung Putins offiziell gefördert werden. Im Schlusskapitel kommt S. nochmals auf die Vereinigung von ROK und ROKA zurück und zeigt die Hintergründe auf: Putin hatte sich im Interesse seiner Machtpolitik persönlich stark für sie eingesetzt und eine »Umarmungsstrategie« geführt.
S. hat das Verdienst, die sehr komplizierte Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche außerhalb Russlands in klaren und übersichtlichen Zügen und gut verständlich nachgezeichnet und analysiert zu haben. Das Schwergewicht seiner Darstellung liegt in den höchst verworrenen jurisdiktionellen Problemen, hierarchischen Strukturen und kirchenpolitischen Querelen, in denen sich viel kirchliche Machtpolitik und damit auch viel Menschlich-Allzumenschliches widerspiegelt. Demgegenüber ist von den bahnbrechenden theologischen Leistungen des Institut St-Serge in Paris und des St. Vladimir’s Seminary in der Gegend von New York nur sehr knapp die Rede. Die großen Theologen sind zwar alle genannt, aber das theologische Profil hätte ausführlicher gewürdigt werden dürfen. Die Arbeit des Radiosenders »La Voix de l’Orthodoxie«, Paris, ist leider nicht erwähnt.