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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

751-752

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Gertler, Thomas

Titel/Untertitel:

Bundestheologie und Religionsfreiheit. Religion und Gemeinwesen in Nordamerika und Deutschland.

Verlag:

Würzburg: Echter 2009. 192 S. gr.8° = Religion in der Moderne, 19. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-429-03087-2.

Rezensent:

Rolf Schieder

Dieser Band vereint drei bereits veröffentlichte und zwei unveröffentlichte Aufsätze des im Eichsfeld geborenen, in Erfurt ausgebildeten, zeitweise in Cambridge, MA studierenden und nun in Sankt Georgen tätigen habilitierten Jesuiten Thomas Gertler. Sein Versuch, aus deutscher katholischer Sicht das US-amerikanische protestantische Experiment einer staatskritischen, antihierarchischen und voluntaristischen Kirchenorganisation und dessen religionspolitische Konsequenzen zu verstehen und die daraus gewonnenen Grundeinsichten für die katholische Kirche in Deutschland fruchtbar zu machen, ist in vieler Hinsicht bemerkenswert.
Überzeugend arbeitet G. in der Analyse von James Madisons Schrift »Memorial and Remonstrance« heraus, dass die amerikanische Religionsfreiheit – anders als in Frankreich – nicht gegen die Mehrheit der Frommen durchgesetzt werden musste, sondern mit deren Zustimmung und auf deren ausdrücklichen Wunsch etabliert wurde. Erhellend ist ferner seine Untersuchung zur Ge­schichte des von Thomas Jefferson eingebrachten Gesetzesentwurfs »A Bill for Establishing Religious Freedom«. An diesen historischen Miniaturen kann G. den Weg vom bloßen Toleranzgedanken hin zur Religionsfreiheit auf der Grundlage individueller Religions- und Gewissensfreiheit rekonstruieren. Beide Texte sind im englischen Original ebenso wie in einer deutschen Übersetzung abgedruckt.
Bekanntlich steht am Ende dieses Prozesses das First Amendment der amerikanischen Verfassung: »Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof«. Ob allerdings dieser Verfassungszusatz hinreichend mit der Formel »Trennung von Kirche und Staat« beschrieben ist, darf schon deshalb bezweifelt werden, weil der Begriff »Kirche« in diesem Text überhaupt nicht vorkommt. Gerade auf die »Trennung von Kirche und Staat« legt G. aber besonderen Wert – und bleibt darin seiner deutschen und katholischen Perspektive auf die US-amerikanische Verhältnisbestimmung von Religion und Politik mehr verhaftet, als es sich dessen vielleicht selbst bewusst ist.
Er sei zutiefst, so G., von der Frage bewegt, »ob denn nicht auch in Deutschland die Religion wieder eine solche lebendige Rolle innerhalb der Gesellschaft spielen kann wie in den USA. Gibt es da etwas zu lernen und neu zu verstehen?« (10) Im Schlusskapitel lässt er uns wissen, dass die hinkende Trennung von Kirche und Staat in Deutschland sukzessive in eine vollgültige Trennung überführt werden müsse. Gerade um der eigenen Glaubwürdigkeit willen »muss die Kirche Schritte einer deutlicheren Trennung gehen« (175). Es gehe darum, »die Privilegien eher abzubauen, um der Eindeutigkeit des Zeugnisses willen, um der Reinheit der Motivation willen, und am wichtigsten um der Verbindung mit den eigenen Quellen des Glaubens willen« (169).
G. scheint freilich zu übersehen, dass die zunächst vom Baptis­ten Roger Williams geforderte, dann vom aufgeklärten Thomas Jefferson bekräftigte »wall of separation« nur die Konsequenz eines religionskulturellen Transformationsprozesses ist, in dessen Zentrum man in der Tat den Bundesgedanken stellen kann. Aber G. arbeitet das spezifisch US-amerikanische Profil einer Bundestheologie nur sehr unzureichend heraus. Es ist theologiegeschichtlich richtig, dass die Wurzeln der Bundestheologie in der Schweizer Reformation zu finden sind. Eine Antwort auf die wesentlich wichtigere Frage jedoch, wie sich aus einem europäischen Calvinismus ein optimistischer, selbstbewusster, demokratischer und an die Verbesserung der Verhältnisse glaubender Evangelikalismus entwickeln konnte, bleibt G. ganz und gar schuldig. Er konstatiert den Niedergang des Puritanismus, verfolgt aber die für die amerika­nische Frömmigkeit so entscheidende Geschichte des Evangeli­kalismus nicht weiter. Vergeblich sucht man beispielsweise den Namen von Mark Noll, dem herausragenden Historiographen des Evangelikalismus, im Literaturverzeichnis.
Noch gravierender ist freilich, dass die Produktivität des Exodusmotivs und des Sinaibundes von G. nicht gesehen wird. Vielmehr wird das puritanische Experiment als eine anachronistische »Restauration eines alttestamentlichen … Staates« (42) gedeutet, die der »neutestamentlichen Freiheit vom Gesetz« (ebd.) widerspreche. Wer aber nicht versteht, dass das amerikanische Sendungsbewusstsein zutiefst vom Glauben beseelt ist, dass dieses Land »God’s New Israel« ist, der wird auch das subtile Wechselspiel von amerikanischer Zivilreligion, zivilgesellschaftlichem kirchlichem Engagement und individuellem religiösem Voluntarismus nicht wirklich verstehen, geschweige denn Konsequenzen für die kirchliche Entwicklung in Deutschland ziehen können. Ein spannender Titel, schöne historische Miniaturen – und dann doch ein Buch, das den Konfessionen überspannenden Glauben der Amerikaner, sich in Analogie zum Bundesschluss am Sinai und als »one nation under God« auf dem Weg ins gelobte Land zu befinden, ausblendet und so ein Grundelement amerikanischer Bundestheologie übersieht.