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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

745-748

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schüßler, Michael

Titel/Untertitel:

Selig die Straßenkinder. Perspektiven systemtheoretischer Sozialpastoral.

Verlag:

Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 2006. 615 S. 8°. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-7867-2603-6.

Rezensent:

Christoph Schneider-Harpprecht

Die voluminöse Tübinger Dissertation des katholischen Theologen und Pädagogen Michael Schüßler untersucht das globale Phänomen der Straßenkinder in sozialwissenschaftlicher und theologischer Perspektive. Sie greift damit ein soziales Problem auf, das längst nicht mehr auf die armen Länder der Südhalbkugel be­schränkt ist, vielmehr als Folgeerscheinung der Globalisierung auch in den reichen westlichen Industrieländern Einzug gehalten hat. Es fällt der Blick auf die Schattenseite der Globalisierung und öffnet die eher »bodenständige« deutsche Praktische Theologie in Richtung auf eine global vernetzte, interkulturelle Sozialpastoral. Er will einen Beitrag leisten zu einem neuen Modell einer vergleichenden, interkulturellen Praktischen Theologie. Das macht die Arbeit methodisch interessant und rechtfertigt die ausführliche Methodenreflexion von S.
Er grenzt sich ab von einer eurozentrischen Praktischen Theologie, die angesichts der Globalisierungsprozesse Abschied nehmen muss »auch von den letzten imperialen Hegemoniephantasien des europäischen Diskurses von Theologie« (20), und richtet sich dabei bewusst am Rahmen der katholischen Weltkirche aus. Die Weltkirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist für S. im Anschluss an Othmar Fuchs ein Vernetzungsraum, der die lokale und globale Dimension von Theologie und Pastoral umfasst und aufgrund der Option Gottes für die Armen »im Sinne einer Art ›Dispositiv der Ermächtigung‹ … an einer weltweiten Solidarität der vom Globalisierungsprozess an den Rand Gedrängten« (549) arbeitet. In diesem Sinn geht es S. um eine »Sozialpastoral der Straßenkinder im Kontext Weltgesellschaft« (583).
Methodisch verbindet die Arbeit den Diskurs der Sozialarbeitswissenschaft und einer von der Methode der Befreiungstheologie inspirierten Theologie. Um Einseitigkeiten und Verkürzungen der katholischen Sozialpastoral (Norbert Mette/Hermann Steinkamp) zu überwinden, die befreiungstheologische Praxis aus Lateinamerika teilweise etwas idealisierend auf den Kontext der hochentwickelten Industrieländer übertrugen, will S. die Kommunikation zwischen Sozialer Arbeit/Sozialpädagogik und Theologie so gestalten, dass der theologische Diskurs anschlussfähig wird an die sozialwissenschaftliche Diskussion. Den Schlüssel dafür liefert ihm die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die am befreiungstheolo­gischen methodischen Dreischritt »sehen – urteilen – handeln« orientierte theologische Hermeneutik, die S. auch als » die Methode des zweiten Vaticanums« bezeichnet. Die produktive Verbindung von Systemtheorie und Konzilshermeneutik ergibt sich für ihn dadurch, dass Luhmanns Sicht von Gesellschaft und Religion sich kritisch gegen eine theologische Perspektive wendet, die als »theologische Zweitcodierung« sozialwissenschaftliche Erkenntnisse nur noch bestätigend »abnickt« (139). Mit der Bestimmung von Religion als Kontingenzbewältigung sei Luhmann »keineswegs an der konservativen Erhaltung bestehender Strukturen interessiert« (575), sondern strebe innovative Lösungen und wirke deshalb innerhalb der Theologie erneuernd. »Der Ort der Pastoral liegt … an der Grenze zwischen System und Umwelt. Pastoral ereignet sich im Hin- und Herkreuzen zwischen System (Evangelium) und Umwelt (Welterfahrung). Sie entsteht an den Grenzen des Systems, an denen sich im Kontakt mit dem ›säkularen‹ Außen die Identität und Wahrheit der Botschaft Jesu in jeder Operation und in jeder Situation neu herausbildet« (576). Damit wird der Theologie abverlangt, die kirchliche Binnen- und die säkulare Außenperspektive miteinander zu verbinden. Sie kann dadurch in eine »spannende und produktive Differenz« zur säkularen Perspektive der Gesellschaft kommen.
Die Analyse der sozialen Wirklichkeit der Straßenkinder be­ginnt mit einer gut informierten, erfahrungsnahen und sehr le­bendigen Schilderung der Situation der Straßenkinder in Brasilien, in welcher S. eigene Erfahrungen aus der Arbeit mit Straßenkindern in Curitiba (Bundesstaat Paraná) einbringt. Die Lebenssituation dieser Kinder wird als das Ergebnis von komplexen Prozessen sozialer Exklusion dargestellt. Historische Wurzeln sind der organisierte Umgang mit Findelkindern in romanischen Ländern, die über »Babyklappen« in Findelhäusern abgegeben wurden, weil die kirchlich gestützte öffentliche Moral uneheliche Schwangerschaften kriminalisierte, die Mütter verstieß, zugleich aber die Promiskuität der Männer akzeptierte; dann aber auch das Bettlertum, das sich als Pendant zur kirchlichen Hochschätzung von Almosen als »gute Werke« seit dem Mittelalter entwickelt hat. Nach der Sklavenbefreiung und im Zuge der Industrialisierung bildete sich eine Straßenbevölkerung, die in den Elendsvierteln am Rand der Megastädte siedelt. Mangelnde Bildung, Hunger, Alkoholismus, Drogensucht, Gewalt, sexuelle Promiskuität und Missbrauch in der Familie kennzeichnen das Milieu, aus dem heraus die Kinder (meist 8–15/16 Jahre) sich in ein Leben auf der Straße flüchten. Unterschieden wird zwischen Kindern, die auf der Straße arbeiten, um zu überleben, aber noch eine lockere Verbindung zu ihrer Familie haben, und »Kindern der Straße«, die ausschließlich dort leben. »Sie sind verlassen (meninos abandonados), auf sich gestellt und dazu gezwungen ihren ganzen Alltag Tag und Nacht auf der Straße zu bestreiten. Die meisten begehen kleinkriminelle Handlungen (z. B. Diebstahl, Mundraub) und konsumieren diverse Drogen« (174). Sie bilden häufig Gangs, prostituieren sich, werden von der Drogenmafia benutzt und machen vielfältige Gewalterfahrungen bis hin zur Verfolgung und Ermordung durch die Polizei und organisierte Todesschwadronen.
S. analysiert die prekären Versuche der Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit, des Problems der Straßenkinder dadurch Herr zu werden, dass man sie wegsperrt, umerzieht und an bürgerliche Lebensformen anzupassen sucht. Das Ergebnis waren und sind häufig: Gewalt, Missbrauch und andere Menschenrechtsverletzungen in den staatlichen und teilweise auch kirchlichen Einrichtungen. Aussichtsreich ist die soziale und pastorale Arbeit mit Straßenkindern, wenn sie das Kind als Subjekt des Hilfeprozesses ansieht und über Streetworker Kontakt aufnimmt, Vertrauen schafft, sie in der Situation des Lebens auf der Straße begleitet, die Probleme be­spricht, ihnen Unterkünfte und Ausstiegsmöglichkeiten anbietet.
Im Vergleich dazu sind Straßenkinder in Deutschland – man schätzt ihre Zahl auf 5000 bis 7000 – meist obdachlose Jugendliche oder junge Erwachsene. In der Regel sind vielfältige Krisen und Konflikte in der Familie Grund für den Weg auf die Straße. In der Zeit der Pubertät führen sie zur Trennung der Kinder von der Familie. Dazu gehören Vernachlässigung, Erfahrungen mit Ge­walt, sexueller Missbrauch, Alkoholismus oder Drogensucht der Eltern. Was das Leben auf der Straße im Umfeld von Diebstahl, Drogen, Prostitution, Bildung von Gangs und Cliquen mit strengen Hierarchien angeht, so zeigen sich viele Übereinstimmungen mit der brasilianischen Realität. Die differenzierte sozialwissenschaftliche Analyse zeigt Straßenkinder als Verlierer einer zunehmend funktional differenzierten und individualisierten Gesellschaft und ihrer Dynamik der sozialen Exklusion.
Auf dem Weg zu einer solidarischen Sozialpastoral entwickelt S. die theologische Perspektive in einer breit angelegten Untersuchung der »Straßenkinder im Licht biblischer Offenbarung«. Von Jesu Reich-Gottes-Botschaft her begründet sich die Parteilichkeit für die Ausgegrenzten. Es gilt, den gekreuzigten Auferstandenen »im Antlitz der Straßenkinder (zu) entdecken« (340). Die Ethik Jesu stellt das Wohl des Menschen über die allgemeinen Normen und revidiert von daher den gesellschaftlichen Umgang mit Norm und Ab­weichung (347). Die Exodustradition macht entgegen »ab­stiegsorien­tierten Karrieretheorien, die den Weg von Kindern und Jugendlichen auf die Straße als einen fortschreitenden Prozess der Ab­weichung Kriminalisierung interpretieren« (370), deutlich, »dass jede menschliche Situation auf die Wirklichkeit Gottes hin offen ist« (ebd.).
S. stellt eine Konvergenz dieser theologischen Sicht mit Überlegungen Luhmanns zu den Möglichkeiten des Religionssystems fest, »Inklusion halten (zu) können, auch wenn andere Systeme exkludiert haben« (373). Darauf baut das Modell einer »systemtheoretisch informierten Sozialarbeitswissenschaft« (384) auf, die Inklusionsvermittlung und Exklusionsvermeidung als Ziele verfolgt. Entsprechend sind dann Empowerment und Ressourcenorientierung die Leitmotive der Sozialpastoral mit Straßenkindern. Hier wird also eine generelle Zielsetzung sozialer Arbeit auf die Realität der Arbeit mit Straßenkindern angewandt. Sozialpastoral vollzieht sich dann als »christlich motivierte Sozialarbeit« (580) vorwiegend in der »Geh-Struktur aufsuchender Jugendarbeit« (581), der es um die helfende Begleitung der Kinder geht. Sie gehört zum Angebot kirchlicher Hilfeeinrichtungen, die konstitutiv sind für die Kirche in der Nachfolge Jesu. Sie vollzieht sich jedoch durch außerkirchliche, säkulare Hilfeangebote, die eine eigene »orthopraktische Dignität« haben, weil sie das Evangelium Jesu praktisch werden lassen (ebd.).
Die systemtheoretische These von der Globalität der Inklusions- und Exklusionsprozesse, die sich lokal in unterschiedlich verlaufenden sozialen Dynamiken entfaltet, führt S. zu dem Modell einer weltkirchlichen Sozialpastoral. Ihr bieten sich Chancen globalen Lernens. Sie legt darum eine Verbindung von lokaler und internationaler Hilfe nahe, konkret von örtlicher oder regionaler Diakonie und der weltweiten Arbeit z. B. von Misereor oder Brot für die Welt.
S. gelingt es, eine sehr gut informierte, interessant geschriebene Analyse der Arbeit mit Straßenkindern als Beispiel für ein neues Modell einer interkulturell und interdisziplinär ausgerichteten Praktischen Theologie vorzustellen. Diese Verbindung macht die Arbeit allerdings recht komplex und teilweise unübersichtlich. Erstaunlicherweise erschließt sie sich dem Leser aber dann doch recht unkompliziert. Einen Schlüssel bietet die Thesenreihe am Ende des Buches. Das Modell selbst wirft die Frage auf, ob die Methode des »sehen – urteilen – handeln« der Befreiungstheologie so einfach mit der Vorgehensweise des Vaticanum II harmonisiert werden kann. Auch könnte nicht nur den protestantischen Leser bei der Beschreibung der katholischen Weltkirche als einer Art globaler Gegenmacht, die ein Netzwerk der Solidarität der Unterdrückten wird, eine leise Skepsis beschleichen. Ideal, Wunsch und Wirklichkeit könnten hier ähnlich weit auseinanderliegen wie in anderen Kirchen.