Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

736-738

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Surall, Frank

Titel/Untertitel:

Ethik des Kindes. Kinderrechte und ihre theologisch-ethische Rezeption.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 389 S. gr.8° = Forum Systematik, 31. Kart. EUR 34,80. ISBN 978-3-17-020516-1.

Rezensent:

Torsten Meireis

Unter dem Titel Ethik des Kindes zeichnet Frank Surall die Entwick­lung und Kodifizierung der Kinderrechte nach und rekonstruiert dann, inwiefern sich diese Rechte theologisch begründen und ausgestalten lassen. Methodologisch versteht er sich dabei in der Tradition der neutestamentlichen Haustafel-Ethik, die ihre Gehalte nicht durch die Deduktion von Handlungsprinzipien aus christlichen Glaubenseinsichten oder die Entfaltung narrativ angelegter Schlüsselszenen, sondern durch die von Glaubensgrundsätzen an­geleitete Auswahl und Rezeption von in der Umwelt vorgefundenen Handlungsmustern und -regeln gewinnt. Systematisch möchte er seine Ausarbeitung als Element einer »Ethik der Lebensalter« eingeordnet wissen – insgesamt geht es dabei um eine biographisch strukturierte Ethik der Lebensformen, die die Probleme einer Lebensführung in modernen, hochindividualisierten multireligiösen und multikulturellen Gesellschaften bearbeitet.
Zunächst widmet sich S. der Methodologie, klärt Fragestellung und Aufbau seiner Studie und schließt sich begrifflich der Kinderrechtskonvention der UN an, die die Kindheit als Phase der ersten 18 Lebensjahre bestimmt. Dabei erörtert er sowohl die Ausweitung der Definition auf das vorgeburtliche Leben wie die Problematik kulturell unterschiedlicher Volljährigkeitsdefinitionen.
In einem zweiten Teil widmet sich S. den Kinderrechten. Er stellt die Ideengeschichte der Kinderrechte dar, loziert sie unter Rekurs auf Ariès’ These von der Entdeckung der Kindheit in der Moderne und führt sie von Rousseau bis zu Wiggin, Key, Paßkönig und Korczak durch. Im nächsten Schritt erläutert er die Entwick­lung entsprechender internationaler Vereinbarungen von der Genfer Erklärung von 1924 hin zur UN-Kinderrrechtskonvention von 1989. Diese sieht er als zentrales Dokument an und deutet ihren Sachgehalt von der Zentralnorm des Kindeswohls aus, die die Basisnormen Beteiligung, Schutz und Förderung impliziert. In einem letzten Abschnitt erörtert er die Kinderrechte als Menschenrechte und setzt sich besonders mit der Differenz hinsichtlich der Gleichheitsnorm auseinander. Überlegungen zum Verhältnis von internationalen Menschenrechtskonventionen und positivem nationalem Recht schließen das Kapitel ab.
Im theologisch zentralen und umfangreichsten dritten Teil der Untersuchung sucht S. theologische Zugänge zur den Basisnormen zu etablieren – dabei geht es ihm nicht um eine genetische Herleitung, sondern um die Frage, welcher Geltungsgrund dieser Normen sich in der theologischen Tradition ermitteln lässt. Als relevante Traditionsbestandteile konsultiert S. jeweils die Schrift, das reformatorische Zeugnis (in der Regel: Luther) und teils neuere Positionen, um schließlich systematische Erwägungen zu präsentieren. Das leuchtet durchaus ein, wenn man auch gerne erführe, welches Verfahren die Auswahl der Gesprächspartner jeweils motiviert. Dabei widmet er sich zunächst der Schutznorm, die er systematisch der Differenz von Kindern und Erwachsenen im sozialen Kontext zuordnet, dann der Beteiligungsnorm, die er auf die Gleich­heit von Kindern und Erwachsenen vor Gott bezieht, und schließlich der Fördernorm, die er als Verhältnisbestimmung von Schutz und Beteiligung interpretiert.
Die Normierung der besonderen Schutzwürdigkeit des Kindes verortet S. in der Differenz von Erwachsenen und Kindern. S. lässt hier – nach der Darstellung der im Alten und Neuen Testament zu findenden, vorrangig patriarchalischen Vorstellungen – vor allem Martin Luther sowie seine ordnungstheologischen Ausleger des 20. Jh.s zu Wort kommen. Hinsichtlich des biblischen Zeugnisses be­tont er die schon in alttestamentlichen Zeugnissen aufscheinende Verrechtlichung der innerfamiliären Verhältnisse sowie das Waisenrecht, die er – zusammen mit Luthers Vorstellungen eines kinds recht (128 f.) – als Ansätze einer »kritischen Begrenzung der Macht von Autoritätsträgern angesichts ihrer Verantwortung vor Gott« (165) interpretiert. Kritisch beurteilt S. dagegen die von der Antike bis zur frühen Neuzeit übliche Nachrangigkeit des Kindes – ausführlich setzt er sich dabei auch mit der ordnungstheologischen Tradition der Lutherauslegung auseinander und beanstandet, dass Eingriffe in die kindliche Selbstbestimmung nicht vom Ziel des Kinderschutzes, sondern von der Position in einer göttlich legitimierten Hierarchie abgeleitet wurden. Ausgehend von der Vorstellung einer gleichen Menschenwürde fordert er eine Neuorientierung der theologischen Ethik des Kindes (164–165), die dem Respekt vor der kindlichen Subjektivität Rechnung trägt und so auch das Recht des Kindes auf Religion zugleich als Recht des Kindes auf Freiheit von religiöser Instrumentalisierung auslegt (166–168).
Für die theologische Verortung der Beteiligungsnorm bezieht S. sich auf die Gleichheit von Kindern und Erwachsenen vor Gott, die er durch Schlaglichter auf Altes und Neues Testament sowie Luthers Überlegungen im Kontext der Kindertaufe beleuchtet. Er konstatiert ein »Gefälle der innerbiblischen Kritik an einem kinderfeindlichen Gottesbild« (194), dem die theologische Ethik folge, sucht an neutestamentlichen Belegen den kindlichen Anspruch »auf einen prinzipiell ebenbürtigen Platz in der Gemeinschaft« der Christen (195) zu erweisen und deutet die Kindertaufe als »Symbol der Gleichheit vor Gott und der Beteiligung in der Gemeinde« (196), damit aber auch als Ausgangspunkt der kinderrechtlichen Berück­sichtigung der Subjektstellung des Kindes (200). Das Recht auf Religion wird in protestantischer Perspektive als Recht des Kindes auf eine solche Religion rekonstruiert, die einem kindlichen Beteiligungsanspruch gerecht wird (202).
Die Fördernorm schließlich will S. als Vermittlung von Differenz und Gleichheit verstehen. Dabei bezieht er sich zunächst auf das Corpus Paulinum, dann auf Luthers Reflexion der Erziehung im Zusammenhang des Rechts Gottes und schließlich auf Schleiermachers Bildungskonzeption. Zentral ist dabei die These, dass Schutz- und Beteiligungsnorm unter dem Aspekt der Förderung vermittelt werden müssen, und zwar so, dass der Schutz der wachsenden Beteiligung des Kindes zu dienen hat und die Beteiligung den kindgerechten Schutz nicht verunmöglichen darf. Das impliziert S. zufolge dann auch eine Verhältnisbestimmung von Selbstbildung und Erziehung, die Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit als komplementäre Bildungsziele zu fassen er­laubt. Dem Staat ordnet S. eine subsidiäre Bildungsverantwortung zu, als deren Maßstab das (freilich nicht ganz unproblematische) Konzept der Chancengleichheit angesetzt wird. In einem Recht auf orientierende Bildung sieht S. dann auch ein kindliches Recht auf Religion im Sinne eines Förderrechts aufgehoben, ohne dass ein ausdrückliches »Recht auf Religion« festgehalten werden müsse (268).
Im vierten Teil der Studie bietet S. »exemplarische Konkretionen« seines Ansatzes anhand des in Art. 24 der Kinderrechtskonvention der UN festgehaltenen Rechts des Kindes auf das »erreichbare Höchstmaß an Gesundheit«, das er, seinem Ansatz gemäß, im Feld aller drei kinderrechtlichen Basisnormen erörtert (276). Als Implikationen der Schutznorm erläutert S. den Primat ambulanter und häuslicher Versorgung, die besondere Pflege der vertrauten Beziehungen des Kindes sowie die kindgemäße Spezialisierung der Einrichtungen und ihres Personals. Als Konsequenz einer Anwendung der Beteiligungsnorm erläutert er die Rechte auf kindgerechte Aufklärung und Beteiligung an medizinischen Therapien, und im Rahmen der Fördernorm empfiehlt er die Implementation einer Gesundheitsbildung in das Bildungssystem und der Schulbildung in stationäre Behandlungszusammenhänge.
Im fünften Teil kommt S. zu dem hier bereits einleitend aufgeführten Ausblick auf das Programm einer Ethik der Lebensalter.
S. nimmt sich in seiner verdienstvollen Studie eines zentralen gesellschaftlichen und theologischen, gleichwohl in der evangelischen Ethik bisher unterbestimmten Themas an und schließt damit eine Lücke, auch wenn sich die Frage stellen lässt, ob sich der Beitrag der theologischen Ethik des Kindes tatsächlich in einer Begründung von Kinderrechten erschöpfen muss oder ob sich aus der kontextsensiblen Reflexion des christlichen Zeugnisses nicht auch Aspekte eines guten Lebens von und mit Kindern ergeben könnten. Der Ansatz einer Prüfung gegenwärtiger, auf modernen Einsichten und Entwicklungen basierender Normen am fortgeschriebenen Zeugnis der Tradition leuchtet ebenso ein wie die biographische Ausgestaltung einer Ethik der Lebensformen, auf deren Fortsetzung man gespannt sein darf.