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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

733-736

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schockenhoff, Eberhard

Titel/Untertitel:

Zur Lüge verdammt? Politik, Justiz, Kunst, Medien, Medizin, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit. 2., erw. Aufl.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2005. 532 S. 8°. Kart. EUR 22,90. ISBN 978-3-451-28773-2.

Rezensent:

Elisabeth Gräb-Schmidt

Sollte Nietzsche doch Recht behalten? Ist die Lüge ein Mittel zur Lebenserhaltung, sind unsere Maskierungen die eigentliche Form der für uns bestimmten Wirklichkeit? Die Zweitauflage des Opus magnum von E. Schockenhoff ist jedenfalls ein Hinweis darauf, »dass das Thema der Lüge in Kultur und Gesellschaft im privaten, politischen und rechtlichen Raum ... in den letzten Jahren nichts an Aktualität eingebüßt« hat (3). Gegenüber der Erstausgabe finden sich Erweiterungen um Ausführungen über Wahrheit und Freiheit im Bereich der Kunst sowie einer Untersuchung zur Funktion der Blasphemie im gegenwärtigen Kulturbetrieb sowie um Verweise auf die zwischenzeitlich vielfältig entstandenen Publikationen zu diesem Thema.
Dabei zeigt bereits der Untertitel die Zielrichtung an. Nicht der Lüge, sondern einer »Ethik der Wahrheit« gilt die Intention des Buches. Das gilt es insbesondere aufgrund der durch die unter Biologen und Verhaltensforschern geäußerten Kritik an der These: »Nicht die Wahrheit, sondern die Lüge steht am Anfang des tierischen und menschlichen Verhaltens« (15) hervorzuheben. Der Drang zur Lüge wäre mithin tatsächlich eine evolutionäre Mitgift im Sinne eines biologischen Überlebensvorteils. Damit diskutiert S. die Frage der Lüge als anthropologisches Phänomen, dem wissenschaftlich auf die Spur zu kommen ist. Dies erübrigt aber den philosophischen und theologischen Zugang nicht, im Gegenteil, jenes anthropologische Phänomen bereichert lediglich deren Deutungsspektrum.
S. kann aufzeigen, dass die Frage nach der Möglichkeit von Wahrheit weder angesichts evolutionsbiologischer, soziologischer und psychologischer Ergebnisse noch angesichts eines nachneuzeitlichen Skeptizismus und Nihilismus obsolet ist. Auch wenn in empirischer Hinsicht das vermeintliche Recht zu lügen ubiquitär scheint, wird dieses doch nach wie vor mit großer Eindringlichkeit infrage gestellt. Die die Zielrichtung des Buches bestimmende These geht denn auch von der bleibenden Bedeutung und Geltung des achten Gebots aus, die zeigen kann, »inwiefern es beim moralischen Verbot der Lüge um das geht, was das Menschsein als solches auszeichnet« (34). Der Verstoß hebt seine Geltung gerade nicht auf. Vielmehr ist dieser ein Differenzmerkmal, »durch das sich moralische Normen von rein soziologischen oder rechtlichen Normen unterscheiden« (41). Insofern verbirgt sich hinter der Frage des Titels bereits eine rhetorische Retourkutsche gegen evolutionsbiologische Deutungen, die die Lüge nicht als Fehlverhalten, sondern als biologisch angemessenes Verhaltensprogramm nachzuweisen versuchen.
Nach einer verhältnismäßig kurzen Einführung in die ge­genwärtige wissenschaftliche Diskussion über die vermeintliche Unausweichlichkeit der Lüge dient der Rest des groß angelegten Œuvres dieser Orientierung an der offensichtlich kontrafaktischen Möglichkeit der Wahrheit und deren Problematik in ihren verschiedenen Dimensionen von der moralischen Wahrhaftigkeit, Wahr­heitspflicht bis hin zu wahrheitstheoretischen Begründungs­modellen (164 ff.). Im Durchgang durch die theologie- und philosophiegeschichtlichen Stationen – ausgehend und wegweisend bei Augustin – spezifiziert S. dann die Aspekte, die im Zusam­menhang der Diskussion der Wahrheitsfrage jeweils thematisiert und problematisiert werden, Wahrheit als unbedingte Pflicht bei Augustin, Wahrheit als Lebensziel bei Thomas von Aquin, die Relativierung der Wahrheit in der Neuzeit und die Selbstbehauptung der Wahrheit in den theologischen Debatten der Gegenwart. Leider fehlt in diesem Zusammenhang der Bezug zu Luther – dieser wird nur in dem knapp 10 Seiten umfassenden Abschnitts über die pro­-tes­tantische Theologie zur Wahrheitsfrage behandelt (116) – und dessen bemerkenswerter und eigenwilliger Interpretation des achten Gebots, die ein bedeutendes, erhellendes Licht auf die Unterscheidung von Lüge und Wahrheit im menschlichen Zusammenleben werfen könnte. Nach einem Gang durch die Geschichte der Wahrheitsproblematik (II) und einem Kapitel über das Wahrheitsverständnis der gegenwärtigen Moraltheologie (III) führt S. hin zu den einzelnen Problemfeldern der Bereichsethiken (IV). Er zeigt auf, wie der augustinische Rigorismus, der – in seiner juristischen und präzisen Auffassung der Lüge als einem mit Willen zur Täuschung festgestellten sprachlichen Sachverhalt – den bis heute auch juris­tisch gültigen Sprachgebrauch bestimmt. Diesen Rigorismus, der bei Thomas von Aquin gemildert, jedoch bei Kant in der Neuzeit in voller Schärfe wieder aufgenommen wird, stellt S. umfassend, differenziert und kritisch in seinem Richtungswert für die Debatten in den verschiedenen Sachbereichen von Wissenschaft, Politik, Recht und Medizin heraus. Denn »die notwendige Anerkennung der autonomen Strukturlogik«, die diesen professionellen Sachbereichen jeweils innewohnt, muss seines Erachtens nicht darauf verzichten, das biblische Wahrheitsverständnis, das sich nicht auf ein formales Gebot reduzieren lässt, sondern eine Lebenshaltung der Authentizität, Offenheit für den anderen widerspiegelt, auch für und in den verschiedenen Sachbereichen zur Geltung kommen zu lassen. Da­ mit kann dem vermeintlich biologischen Zwang zu lügen in menschlicher Freiheit widersprochen werden. Bemerkenswert ist am Durchgang durch die einzelnen gesellschaftlichen Funktions­bereiche der Wissenschaft, der Wirtschaft, Politik, Medizin und Medienethik, dass der Kern der Beweisführung der Möglichkeit und Wirklichkeit ethischen Verhaltens auf die Wahrheitsfrage zugespitzt wird. Damit stünde mit der im Titel gestellten Frage nicht nur die Wahrheit, sondern die Ethik überhaupt zur Disposition.
Insgesamt machen die Untersuchungen deutlich, dass eine Erinnerung an das Verbot der Lüge gegen die biologische Natur des Menschen gesetzt wird und in christlicher Sicht unter dem Vorzeichen der gefallenen Schöpfung betrachtet werden muss. Damit wird das vermeintlich Angemessene einer Lüge in biologischer Sicht von dieser biblischen Einsicht her relativiert. S. könnte so eigentlich kritisch anfragen, ob der einseitigen Sichtweise eines Lügenmüssens nicht auch durch eine ebensolche empirische Un­tersuchung der biologischen Leistungsfähigkeit der Wahrheit flankiert werden könnte und müsste. Genau das bestätigt sich nämlich für die menschliche Kultur, wenn anders die fortgeschrittenen Kulturtechniken offensichtlich ohne die Tugend der Wahrhaftigkeit nicht auskommen, die zukünftig sogar an Bedeutung gewinnen wird, denn die virtuelle Welt funktioniert nur, wenn die Nutzer sich gegenseitig vertrauen können. So zeigt gerade »die Aufklärung über die biologischen Wurzeln des menschlichen Verhaltens … den Sinn und die Notwendigkeit der moralischen Grundnormen (auf), die sich als die 10 Gebote überall in der menschlichen Kulturgeschichte finden« (20). Jedenfalls wird durch die Einbeziehung biologischer Erkenntnisse deutlich, dass Wahrheit und Freiheit unter endlichen Bedingungen immer nur als Ereignis begegnen. Das darin liegende Wissen, dass der Mensch »wesenhaft be­grenzt« ist, vermag uns dabei zu helfen – so macht S. eindrücklich deutlich–, auch in konkreten, heikelsten Situationen der Frage um Wahrheit und Verbergen von Wahrheit – die Situation am Krankenbett – behutsam abwägen zu lassen.
Aber ist der Mensch mit der Wahrheit überfordert? Das wäre wohl die falsche Konsequenz. Nehmen wir auf, dass S. Richard Dawkins zitiert, der in der Wahrheit, sollte sie denn auftreten, nicht etwas Natürliches, sondern immer etwas »Überraschendes« (20) sieht. Dann weist Wahrheit aber bereits in das Gebiet der Kultur, dem auch die Freiheit angehört, die ebenso wenig wie offensichtlich die Wahrheit das natürlich Gegebene ist. Die Wahrheit sagen, entspräche mithin einem freiheitlichen Gestaltungsakt, dem wir die Güte unserer Kultur zu verdanken haben. Indem S. die Wahrheitsfrage vor diesem Hintergrund des nicht nur natürlichen Hanges des Menschen zu lügen, sondern seiner natürlichen Bestimmtheit zu lügen aufzeigt, erweist er das Kontrafaktische, das neben der Freiheit nun auch in der Wahrheit liegt als der den Menschen adelnden Fähigkeit. Insofern stünde die Lüge als Verstellung der Wahrheit in Korrespondenz zur Sünde als Verstellung der Freiheit. Auch das Wahre ist insofern nicht »natürlich«, es entsteht in Akten unserer Freiheit.
S. hat eine profunde Studie vorgelegt für alle Disziplinen und für jeden Einzelnen, der sich mit dieser kulturrelevanten Frage beschäftigen möchte.