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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

731-733

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Römelt, Josef

Titel/Untertitel:

Christliche Ethik in moderner Gesellschaft. Bd. 1: Grundlagen.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 248 S. 8° = Grundlagen Theologie. Kart. EUR 14,95. ISBN 978-3-451-29895-0. Bd. 2: Lebensbereiche. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2009. 445 S. 8° = Grundlagen Theologie. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-451-29995-7.

Rezensent:

Wilfried Härle

Der Erfurter Moraltheologe und Ethiker Römelt hat eine zweibändige Ethik vorgelegt, deren erster Band in sechs Kapiteln Grundlagen legt, während der zweite, weitaus umfangreichere Band unter der Gesamtüberschrift »Lebensbereiche« in sieben Kapiteln unterschiedliche Aspekte christlich-moralischer Überzeugungen als »Res­sourcen« für die heutige Gesellschaft vorstellen will. Die Bände werden abgeschlossen mit je einem Anhang, in dem zunächst die Lehre der allgemeinen und speziellen Moraltheologie »in den mo­dularisierten Studiengängen« dargestellt wird, worauf dann noch ein Literaturverzeichnis und ein (sehr dünnes) Register folgen. Insbesondere durch diese Anhänge will R. sein Werk offenbar als Arbeitsbuch auf das römisch-katholische Lehramts- und Pfarramtsstudium ausrichten.
Der erste Band dieser Ethik stellt den Versuch dar, unter Bezug­nahme auf die Bibel, die Gewissens- und Normthematik sowie den Umgang mit der Erfahrung von Schuld eine theologische Grundlage für eine christliche Ethik zu legen, die in der heutigen plura­lis­tischen Gesellschaft als Ressource brauchbar ist. Dabei setzt R. bewusst beim moraltheologischen »Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils« ein, den er vor allem in den Konzepten einer »autonomen Moral« (A. Auer, F. Böckle) erkennt und dessen hauptsächliche Kennzeichen (negativ) die Abkehr vom naturrechtlichen Denken und (positiv) die Öffnung zur modernen Gesellschaft hin sind (so Bd. 1, 15–18.140–145). Mit der durchgehenden Absage an eine naturrechtlich fundierte Ethik nimmt R. die Überzeugungen auf, die er bereits in früheren Werken zur Diskussion gestellt hat. Dabei wird in der zweibändigen Ethik ebenso wie in diesen früheren Werken nicht deutlich, ob R. lediglich eine bestimmte Version des na­turrechtlichen Denkens (als »Missverständnis« oder »Missbrauch«, so seine gelegentlichen Formulierungen) ablehnt oder ob er die Fundierung des Rechts in vorpositiven sittlichen Normen ganz grundsätzlich infrage stellt.
Die Doppelformel »Menschenwürde und Freiheit« (s. o.) be­schreibt auch in der jetzt vorliegenden Ethik die normative Basis, an die die einzelnen ethischen Reflexionen und Entscheidungen R.s zurückgebunden werden. Dabei entsteht, obwohl keine klare Verhältnisbestimmung geboten wird, der Eindruck, dass R. diese beiden Begriffe wie zwei Pole einer Ellipse versteht, von denen der eine (die Menschenwürde) eher das genuin christliche Menschenbild repräsentiert, während der andere (die Freiheit) eher für die aufgeklärte, pluralistische Gesellschaft steht. Zwischen diesen beiden Polen pendelt die Argumentation bei R. in der Regel hin und her, bevor sie schließlich im Sinne einer ethischen Entscheidung von ihm zwar nicht genau bei einem der beiden Pole, wohl aber eher in der Nähe des Pols »Menschenwürde« zum »Stehen« gebracht wird.
Dem polaren Denken entspricht es, dass R. sich nach seiner eigenen theologischen Standortbestimmung (Bd. 1, 15–25) alsbald »An­sätzen der nichtchristlichen Ethik« (Bd. 1, 26–48) zuwendet, wobei er hierunter ohne erkennbare systematische Ordnung die technische Beherrschung der Natur, die Globalisierung, Diskursethik und Pluralismus, »ökologisch-ethische Entschlossenheit«, Systemtheorie und naturalistische Verabschiedung der Person zusam­menfasst. Das von ihm daraus gezogene Fazit lautet: Die moderne Gesellschaft, die aus ethischer Perspektive grundsätzlich zu bejahen ist, gerät an Grenzen und in aporetische Situationen, in denen sie als »Hoffnung für die gegenwärtige Welt« eine »Ethik der Verantwortung« (Bd.1, 43) braucht, die ihr der christliche Glaube bieten kann.
Dieses Potential entnimmt R. vor allem der Bibel Alten und Neuen Testaments sowie der »Würde des Gewissens« (Bd. 1, 50–112). Dabei verdient es Erwähnung, dass die biblische Orientierung sich nur marginal an normativen Texten (wie z. B. dem Dekalog) orientiert, hauptsächlich jedoch nach dem Gottes- und Menschenbild fragt, von dem her das biblische Ethos zu einem »Ethos des Vertrauens in das Leben« (Bd. 1, 62) wurde und zu ihm auch anleiten kann. Das Spezifikum des Neuen Testaments sieht R. in der Schuld und Tod überwindenden Nähe der Gottesherrschaft, die auch als Handlungsprinzip in Form einer »extremen Ethik der Liebe« (Bd. 1, 71) zu verstehen sei. Die Bedeutung des Gewissens für die ethische Orientierung des Menschen erörtert R. in Auseinandersetzung mit V. Hugo, I. Kant, S. Freud, Augustinus und Thomas (als conscientia und synteresis). Am Ende dieses Kapitels wird Luther als einer der gläubigen Menschen gewürdigt, die »treu zu ihrem Gewissen gehandelt« haben (Bd. 1, 111). Dem Register ist leider kein Hinweis auf diese Stelle zu entnehmen; da taucht Luther nur im zweiten Band (71) im Kontext eines Zitats von O. H. Pesch als theologischer Ignorant auf.
In den Kapiteln 5 und 6 des ersten Bandes wird die Grundlegung der Ethik durch Reflexion der Norm- und Schuldfrage abgeschlossen (Bd. 1, 113–225). In diesen Kapiteln tritt zwar – von der Thematik her – die Würde gegenüber der Freiheit etwas in den Hintergrund, aber an entscheidenden Stellen taucht dann doch die programmatische Formel »Ehrfurcht vor der personalen Würde und Freiheit des Menschen« (Bd. 1, 209) auch hier auf. Sie ist mit ihren beiden Elementen das Leitmotiv dieser ganzen Ethik.
Das lässt sich besonders deutlich verfolgen in dem mit Abstand umfangreichsten und qualitätvollsten Teil dieser ganzen Ethik: dem Kapitel über medizinethische Fragen (Bd. 2, 117–315). Dieser Hauptteil von Bd. 2 wird flankiert von drei Kapiteln über sexualethische Fragen (»Christliches Verständnis von Treue und Familiensinn«, Bd. 2, 31–116), über »Christliche Umweltethik« (Bd. 2, 316–348) und über »Gerechter Friede« (Bd. 2, 349–402). Die drei weiteren Kapitel von Bd. 2 über christliche moralische Überzeugungen als humane Ressource der heutigen Gesellschaft (20–30), über den realistischen Umgang mit menschlicher Freiheit und Personwürde (403–408) sowie über die Kraft des Gebets (409–413) nehmen demgegenüber nur eine marginale Rolle ein. Sie fallen auch argumentativ und von der mangelnden Präzision her deutlich gegenüber den anderen Teilen ab. Das gibt dem zweiten Teilband insgesamt etwas architektonisch, stilis­tisch und inhaltlich Unausgeglichenes. Fast wünschte man sich als Leser, das informative und diskursiv weithin starke medizinethische Kapitel wäre als Monographie erschienen und hätte – in Medizin, Theologie und Philosophie – die Beachtung gefunden, die es verdient. So steht zu fürchten, dass es in der Textfülle, die in einem eher erbaulichen Stil geschrieben ist, untergeht.
Das insgesamt recht sorgfältig redigierte Werk enthält insofern ein kleines Kuriosum, als es sich kritiklos, weil offenbar unbemerkt, in die Tradierungskette einer Fehlleistung einreiht, die J. Nida-Rümelin in seinem eigenen Beitrag zu dem von ihm herausgegebenen Band: Angewandte Ethik, Stuttgart (1996) 20052, 60, unterlaufen ist. Dort kritisiert er »das ›bottom-down‹[!]-Vor­gehen der traditionellen Methode angewandter Ethik« als unangemessen. Bei R. (Bd. 1, 149, Anm. 62) wird dieser Kalauer, der an sich – wenn er bewusst eingesetzt würde – eine tiefsinnige Pointe vermitteln könnte, unkommentiert zitiert. So hat er nicht nur zwei Auflagen bei Nida-Rümelin überlebt, sondern nun auch noch durch R.s Ethik eine weitere Verbreitung erfahren, die in schwierigen Zeiten für ein wenig Erheiterung sorgen kann.