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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

729-731

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lintner, Martin M.

Titel/Untertitel:

Eine Ethik des Schenkens. Von einer anthropologischen zu einer theologisch-ethischen Deutung der Gabe.

Verlag:

Berlin-Münster: LIT 2006. 496 S. gr.8° = Studien der Moraltheologie, 35. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-8258-9762-8.

Rezensent:

Philipp Stoellger

Martin M. Lintner (OSM) geht bei diesem Buch von Derridas Thesen zur »Gabe« aus: Sie gehöre »stets der Ordnung des Glaubens an« und nicht der des Wissens (21). Daher sei sie nicht in der Ökonomie des Tauschs zu verstehen, sondern anökonomisch, so dass die Frage entsteht, mit der L. beginnt: »Kann man geben, ohne zurückzugeben?« (ebd.), also ohne sich »im ökonomischen Teufelskreis von Tausch, Verpflichtung und Schuld« zu drehen (ebd., mit Wetzel/ Rabaté). Unter dieser Voraussetzung sucht L. nach einem Verständnis von Gabe als »Annahme des Anderen« und »Hingabe« an ihn, nach Maßgabe des Lebens und Wirkens Christi.
Dazu geht er zunächst dem »Phänomen des Schenkens« nach (I: 33–112), das er etymologisch, semantisch sowie natur-, human- und sozialwissenschaftlich erörtert: von Balz- und Brutpflege über Mahl und Opfer, den Gabentausch, die Verausgabung, Almosen, das Schenken (in neuzeitlichen Formen wie Weihnachten) bis in die psychologischen Ambivalenzen von Lust, Schuld und Wiedergutmachung. Dieses immens weite Spektrum von sprachlichen, sozialen, religiösen und psychologischen Phänomenen ist so erhellend – wie doch auch von einer Überfülle gezeichnet, die für sich genommen zu entfalten bereits mehr als genug wäre. In diesem weiten Horizont verdichtet sich der Aspekt L.s auf die sym­-bolische Dimension der Gabe als Kommunikations- und Beziehungsgeschehen zwischen den Grenzwerten der »königliche[n] Haltung« des zweckfreien Schenkens aus Liebe (mit Chr. Meves) einerseits und gefühlloser Berechnung andererseits (112). Die (seit Mauß) vertraute Frage ist dann, ob das freie Schenken denn möglich ist angesichts der Verpflichtung zwischen Gabe und Gegen­-gabe.
Das führt in den zweiten Teil »Philosophische und anthropologische Aspekte« (113–208). Von der Tugend der Freigebigkeit bei Aris­toteles und Thomas aus erscheint die Neuzeit vor allem als Miss­trauen gegenüber dem Schenken, wie es Nietzsche repräsentiert (127 ff.). Dagegen stellt L. eine kurze Darstellung der Gabetheorien von M. Buber und vor allem E. Levinas und J. Derrida (140 ff.). Auffällig ist, dass andere relevante Positionen wie Ricœur oder Waldenfels nicht eigens analysiert werden. Erhellend über das in den diversen Gabediskursen der letzten 20 Jahre Bekannte hinaus ist vor allem, wie Levinas dargestellt wird: Im Geben verdichte sich seine These vom Primat der Ethik vor der Ontologie. Als Geben gilt das »Werk« als »Aufbruch ohne Wiederkehr«, die Transzendenz als »ursprüngliches Geben« und das »Sein-für-den-Anderen« (165). Bestimmt ist die Gabe damit immer schon durch eine vorgängige Schuld in der Verantwortung für den Anderen (wie »vor dem Gesetz«). Dieses Verhältnis zum Anderen ist nicht als zu erfüllende Forderung konzipiert, sondern als »Aufbruch in die Rückkehrlosigkeit« (169 ff.), also nicht als Tausch, sondern »unökonomisch« (oder anökonomisch, wie es bei Derrida heißen wird).
Verkörpert wird diese Differenz metaphorisch durch Odysseus versus Abraham. Im Grunde wird das metaethische Verhältnis zum Anderen sogar als Gnaden- und Stellvertretungsverhältnis gefasst (und nicht einfach »gesetzlich«, wie manche Kritiker meinen). Gabe nach Levinas ist zwar möglich, aber nicht aus eigener »Kapazität«, sondern erst aufgrund des Anderen. Sie er­scheint als Einbruch der Transzendenz in die Immanenz. Ihre Phänomenalität zeigt sich paradigmatisch in Prophetie und Zeugnis (172 ff.). Im Anschluss und in symptomatischer Abweichung fokussiert Derrida die »unmögliche Möglichkeit« der Gabe (178 ff.). Damit wird treffend das Vorurteil korrigiert, Der­-rida erkläre die Gabe für unmöglich, weil sie als »reine« nie erscheinen könne. Es geht vielmehr darum, sie in Differenz zur Logik von Tausch und Ökonomie zu denken – und das führt Derrida in seine Weiterführung eines Denkens »vom Ereignis« (184 ff.). Mit Lacans These, Liebe heiße zu geben, was man nicht hat, ist Gabe – wenn sie denn ist – nicht Funktion des Vermögens eines Subjekts, so dass gerade ein Stück Falschgeld versehentlich als Gabe wirken kann. Damit ist sie ebenso wenig zu beherrschen wie »anzueignen«, sondern bleibt entzogen wie ein amphibolisches Phänomen. Ein Paradigma des Gabedenkens von Derrida ist, wie zu erwarten, »der Text«, der in der Dynamik der Dissemination mehr gibt, als er hat oder ist. Lektüre wird so zur Subjektwerdung des Lesers, nicht ohne Verantwortung. Die wird thematisch in Derridas »Den Tod geben« (191 ff.): Der Tod wird zu derjenigen »Gabe«, die das Subjekt in äußerster Verantwortung konstituiert. Das gipfelt indes nicht im heroischen Suizid, sondern im »Sterben für den Anderen« (194 f.), womit sich Interferenzen zur Chris­tologie abzeichnen. Wie bei Levinas gilt auch bei Derrida Abraham (in der »Opferung Isaaks«) als Paradigma der anökonomischen Gabe. Hier formuliert L. im Anschluss an Derrida seine These: »Die Gabe bleibt ein Geheimnis, das sich nie einer Ordnung des Wissens, sondern nur des Glaubens darbietet« (207). Ob allerdings mit dieser Differenz, zumal in der Gestalt eines Gegensatzes (?), genug zu verstehen gegeben wird?
Der dritte Teil entwirft eine »Bibeltheologische und christologische Annäherung« (209–355) und bildet den theologischen Hauptteil der Arbeit. Angesichts der mit Levinas und Derrida skizzierten Aporien der Gabe wagt L. die Skizze eines christologischen Konzeptes von Gabe jenseits von Generosität und Freigebigkeit, Lohn oder Gegenseitigkeit, um die »Lebenshingabe Christi als Gabe bzw. Opfer zu deuten« (208). Damit wird zweierlei Kritik aufgenommen: die am Lohndenken wie die Nietzsches an den Verschuldungsverhältnissen. Durch die Logik der Vergeltung werde sonst »selbstloses Ge­ben« verunmöglicht (209). Zunächst sammelt und interpretiert L. extensiv synoptische Szenen der Gabe in Lehre und Wirken Jesu (209 ff.: Mt 5,43–48; 6,1–18; 20,1–16; 18,23–35; 25,14–30; Lk 7,36–50; 19,1–10). Die Bergpredigt, die bessere Gerechtigkeit, die Gleichnisse von den Arbeitern im Weinberg, dem unbarmherzigen Schuldner und den anvertrauten Talenten, die Begegnung mit der Sünderin und die mit Zachäus versammelt L. unter dem Begriff der »Gratuität« der Gabe (274 ff.). Damit wird die Barmherzigkeit Gottes biblisch-theologisch als bedingungslose Liebe so traditionell wie treffend dargestellt, beinahe rechtfertigungstheologisch; wenn es denn nicht hieße, dass die Gabe der Barmherzigkeit Gottes »der freien Annahme seitens des Menschen bedarf« (276). Das überrascht an­-gesichts der Rolle Derridas im Bisherigen, es überrascht vielleicht weniger angesichts der konfessionellen Tradition L.s. Eindeutig aber wird der Lohngedanke hier theologisch destruiert.
Entsprechendes widerfährt im Folgenden dem Verschuldungsmodell. »Die Lebenshingabe Jesu Christi als Gabe und Opfer« (283–355) entwirft eine kurze Christologie im Zeichen der Gabe. Jesu Leben als Proexistenz führt zu einer Kreuzestheologie als Versöhnungslehre (300–324). Die Gabe darin ist dann nicht Entschuldung, sondern Versöhnung, die L. mit Balthasar entfaltet (317 ff.). Bedauerlicherweise wird Luthers Interpretation des admirabile commercium nur sehr verkürzt nachgezeichnet (327). Stattdessen mündet die Ausführung in eine kurze Eucharistielehre (328–345).
Der vierte Teil ist der »Versuch einer theologisch-ethischen Verortung« (356–455). Hier reflektiert L. fundamentalethisch das Verhältnis von Dekonstruktion und Ethik, das er vor allem mit J. L. Marion und Levinas bearbeitet. Als ethische Urimpression des »Transzendenz-Einbruchs« gilt die »Grundentscheidung« (385. 387)– wobei Entscheidung im Horizont einer »heteronomen Autonomie« verstanden wird: Autonomie entsteht erst angesichts des Anspruchs des Anderen. Für das christliche Leben leitend (als »Nachfolge Christi«, 396) wird die Metapher des Zeugnisses, und das Verständnis des Lebens als Nachfolge (mit Bonhoeffer, 422 ff.). Das wird exemplarisch konkretisiert an der Debatte um Kommerzialisierung von Organspenden (439–455).
Abschließend fragt L. nochmals: »Geschenkt – umsonst gegeben?« und antwortet »Von wegen« (456). Denn das Schenken sei bei aller Aporektik »Glaubensbekenntnis und Vertrauenserweis«, dass trotz aller »ökonomischen Kontamination« ohne Zweck, Verschuldung und Vergeltung gegeben werde (460). Damit endet die Arbeit so hoffnungsvoll wie nur möglich. Als Darstellung ausgewählter Aspekte der diversen Gabediskurse ist sie ebenso lesenswert wie als Versuch einer christlich-theologischen Antwort darauf. Dass darin die eigene konfessionelle Tradition zur Sprache kommt, ist plausibel. Protestantische Perspektiven könnten indes noch anders und anderes sehen. Gleichwohl ist die Arbeit ein eindrucksvolles Zeugnis der Durcharbeitung eines ungeheuer weiten Feldes mit ge­wichtigen christologischen und ethischen Weiterführungen.