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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

727-729

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ricœur, Paul

Titel/Untertitel:

Kritik und Glaube. Ein Gespräch mit François Azouvi und Marc de Launay. Aus d. Französischen v. H.-J. Ehni.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 2009. 260 S. 8°. Geb. EUR 36,00. ISBN 978-3-495-48245-2.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Paul Ricœur (1913–2005) ist nicht nur ein bedeutender Vertreter der französischen Phänomenologie, sondern auch der Theologie. Jetzt liegen die Gespräche in deutscher Übersetzung vor, die er mit seinen Schülern über die Hauptbereiche seiner Arbeit im Oktober und November 1994 sowie im Mai und September 1995 geführt hat. R. hat die Transkription der Tonbandaufnahmen der insgesamt acht Gesprächsrunden gegengelesen und ergänzt. Auf diese Weise ist ein sehr persönliches Buch entstanden, das die Intentionen R.s authentisch erschließt.
Über R.s Leben ist wenig bekannt. Er wurde 1913 in Valence als Sohn eines Englischlehrers geboren. Da sein Vater im September 1915 in der Marneschlacht getötet wurde und die Mutter bereits einige Monate zuvor gestorben war, wurden R. und seine Schwester von den Großeltern väterlicherseits aufgenommen. Seine Schwester starb mit 21 Jahren. R. hatte das Gefühl, dass sie in ihrem Leben weniger erreicht hatte als ihr zustand. Daraus entwickelte sich das für sein Werk wichtige Thema der nicht beglichenen Schuld. Prägend für seine Entwicklung waren das familiäre Umfeld des Pro­-tes­tantismus und der Philosophieunterricht von Roland Dalbiez am Gymnasium zu Rennes. – Politisch verortete sich R. bei den Sozialisten, ohne den Fehler vieler christlicher Sozialisten zu begehen, den Sozialismus vollständig im Christentum enthalten zu sehen. 1940 geriet er in die deutsche Kriegsgefangenschaft bis 1945. Während dieser Zeit übersetzte er Husserls »Ideen der reinen Phänomenologie« ins Französische. 1948 schloss er seine Dissertation ab und wurde auf den Lehrstuhl der Geschichte der Philosophie in Straßburg berufen. Wichtige weitere Stationen waren die Universitäten Sorbonne, Nanterre und Chicago, wo er Nachfolger Paul Tillichs auf dem Lehrstuhl für »Philosophical Theology« wurde. 1980 wurde er in Nanterre und 1992 in Chicago emeritiert.
Die angesprochene Thematik der Schuld führte R. zur Arbeit über Freud, die unter dem Titel »Die Interpretation. Ein Versuch über Freud« 1969 auf Deutsch erschien. R. belegt die Falschheit der oft gehörten Meinung, er habe seine Freud-Interpretation von Lacan übernommen, und unterstreicht dagegen die Originalität seines Ansatzes. Auf die Thematik des Verhältnisses von Philosophie und Politik ist R. durch den politischen Umbruch von 1968 gestoßen worden. Er wird 1969 Dekan und tritt bereits 1970 zurück, weil er das Scheitern des eigenen politischen Projekts feststellt, nämlich »die Selbstverwaltung mit der hierarchischen Struktur in Einklang zu bringen, die jeder Institution inhärent ist« (61). Diese Erfahrung überträgt er auf die rechtlich politische Ebene, »dass die wirklichen Probleme der Gerechtigkeit … diejenigen [sind], die von der ungleichen Verteilung aufgeworfen sind« (62), also die Schwierigkeit, Hierarchie und Gemeinschaft miteinander zu verbinden. In der politischen Philosophie hebt R. als weiteres Problem das Verhältnis des Politischen »zum Rechtlichen und zur Ebene der Moralität« (135) hervor. Gegen Michael Walzer, der das Politische nur als eine Sphäre unter anderen sieht, betont R. die Souveränität, die nur dem Politischen zukommt und es gegenüber den Gütern »heterogen« (136) macht. Damit kann man das Politische rational denken und gleichzeitig dem Paradox Raum geben, dass es einen Bezug zur Gewalt hat.
Die Bewegung der »political correctness« (79) kritisiert R., wenn sie dazu führt, gegen die Idee der universalen Gleichheit aller Menschen die Differenz der Gemeinschaft zu betonen, da hier »repressive Bestrebungen« (83) die Folge sind. Dagegen entnimmt R. der Schrift Kants »Entwurf zum ewigen Frieden« den Gedanken eines Weltbürgerrechts aller Menschen, das auf die allgemeine Hospitalität eingeschränkt ist. »Es ist also das Prinzip des Rechts selbst – die Koexistenz der Träger der freien Willkür in einem endlichen Raum– das zur Hospitalität führt« (95). So haben alle Fremdlinge das Recht, nicht feindselig behandelt zu werden. Dieses regulative Universelle beschränkt den Anspruch der Macht.
Die Demokratie der USA sieht R. in der Religion verankert, weil »verschiedene Konfessionen im selben öffentlichen Raum leben können« (92) mussten. Damit beruht die Toleranz auf einer wirklichen Akzeptanz des Vielfältigen, die auch andere als »Träger eines Teils der Wahrheit« (93) anerkennt, seien es Mitglieder anderer Glaubensrichtungen, Atheisten oder Agnostiker. Das Verhältnis von Staat und Religion im Zeitalter des Pluralismus konkretisiert R. mithilfe einer von Rawls entwickelten Begrifflichkeit. Einerseits beruht die pluralistische Gesellschaft auf einem »übergreifenden Konsens« (176) für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Andererseits wird mit der »rationalen Meinungsverschiedenheit« (176) die Tatsache nicht auflösbarer Differenzen anerkannt. Zur Vermittlung beider Aspekte bezieht sich R. auf den Ansatz der kommunikativen Ethik von Habermas. Für das Verhältnis von Christentum, Judentum und Islam hält er fest, dass die beiden erstgenannten Religionen Theologie und Politik differenziert haben, während der Islam auf deren organischer Einheit beruht. Da es bislang keine Verständigung auf einen über die Schule einführbaren neuen Laizismus gibt, konstatiert R. das Fehlen wirklicher und das Bevorzugen repressiver Lösungen, wie es am Schleierverbot (184 f.) deutlich wird.
Befragt zum Verhältnis der für ihn nebeneinander stehenden philosophischen und theologischen Reflexionen ordnet R. den Glauben den innersten Überzeugungen und die Philosophie der Kritik zu, ohne jedoch deren Unabhängigkeit auszusagen: »Wir bilden eine Kultur, die immer starke Glaubensüberzeugungen besessen hat, die sich in bestimmten kritischen Momenten überschnitten haben« (190). An diese Überlegung schließen sich vielfältige Präzisierungen zum Verhältnis von Religion und Philosophie an, zur Relation von Altem Testament und Neuem Testament und wesentlichen religiösen Themen wie Offenbarung und Auferstehung. »Die Auferstehung ist die Tatsache, dass das Leben stärker ist als der Tod, nämlich in diesem zweifachen Sinn, dass es sich horizontal im anderen, dem, der mich überlebt, verlängert und es sich vertikal im ›Gedächtnis Gottes‹ transzendiert« (219).
Der letzte Gesprächsbereich widmet sich der ästhetischen Erfahrung, die in R.s Werk kaum eine Rolle spielt. Das Kunstwerk hat für ihn die einer Metapher vergleichbare Wirkung, »Aspekte der Sprache zu entdecken, die für gewöhnlich ihr herkömmlicher Gebrauch, ihre für die Kommunikation instrumentalisierte Funktion verhüllt« (235) und damit sonst unsichtbare und unentdeckte Eigenschaften freilegt.
Diese Hinweise zeigen den weiteren Reflexionsrahmen R.s auf, der gerade durch die Gesprächsform vermittelt wird. So ist ein außerordentlich anregendes Buch entstanden, das zur neuen und gezielten Lektüre R.s anregt und gleichzeitig seine interessante Einschätzung über die bedeutendsten Philosophen des 20. Jh.s mitteilt. Aus diesem Grund ist das Fehlen eines Namenregisters besonders bedauerlich.