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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

720-722

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Speier, Holger

Titel/Untertitel:

Gott als Initiator des Fragens. Helmut Thieli­ckes Apologetik im theologie- und zeitgeschichtlichen Kontext.

Verlag:

Marburg: Tectum 2009. 297 S. 8° = Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag. Reihe: Theologie, 5. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-8288-9909-4.

Rezensent:

Walter Schöpsdau

Dass ein bei Lebzeiten einflussreicher Theologe wie Thielicke, dessen Lebenswerk dem Gespräch zwischen Kirche und Welt dienen wollte und dessen Theologie »erst dann verständlich wird, wenn man sie von ihrem apologetischen Ansatz her bedenkt« (16), nach seinem Tod weithin in Vergessenheit geraten konnte, bildet den Ausgangspunkt dieser bei Dietrich Korsch entstandenen Dissertation. Ein erster Teil (19–88), der auch den unveröffentlichten Nachlass Thielickes berücksichtigt, skizziert die biographischen Hintergründe seiner Apologetik, die sich in der NS-Zeit zu der Überzeugung festigt, dass im Säkularismus eine objektive Gesprächsbasis nicht mehr gegeben sei und die Priorität der Frage Gottes an den Menschen einen vernünftigen und gleichberechtigten Dialog ausschließe.
Der Hauptteil (89–220) analysiert zunächst Thielickes Apologetik in ihrem Vollzug unter besonderer Berücksichtigung seiner Homiletik, um dann die »Bedingungs- und Handlungsfelder der Apologetik« in Dogmatik und Ethik zu beleuchten, die zusammen die »Koordinaten apologetischen Handelns« ausmachen. Das Schluss­kapitel (221–245) prüft die Tragfähigkeit des Konzepts, das für S. in der »besonderen Verbindung von Pneumatologie, Predigt und Apologetik« sein Proprium besitzt.
Apologetiken, die den christlichen Glauben argumentativ rechtfertigen oder erklären wollen, sind aus Thielickes Sicht historisch gescheitert, weil sie mit der Moderne das »säkulare Axiom« und die »cartesianische« Prämisse des autonomen Ich teilen. Während die »alte« Apologetik die Fragen des Menschen durch die Re­-ligion beantwortet, bedarf es nach Thielicke einer Begegnung zwischen Gott und Mensch, die das gestörte Gottesverhältnis wie­derherstellt, das auch einer Gotteserkenntnis im Horizont der ana­logia entis entgegensteht. Genuiner Ort der Apologetik ist deshalb nicht die systematisch-theologische Reflexion, sondern die ihr vorausgehende Verkündigung. Mit dieser im Gemeindepfarramt vertieften Einsicht steht Thielicke der Dialektischen Theologie Karl Barths nahe (89), mit der ihn auch die Relativierung der historisch-kritischen Exegese für das theologische Verstehen verbindet (91). Die Predigt soll nach Thielicke den Hörer »abholen«, »herumholen« und »heimholen«, setzt aber kein Vorverständnis voraus, an das die göttliche Offenbarung anknüpfen könnte. In der Hypertrophie der Hermeneutik sieht Thielicke eine Zurückweisung der pneumatologischen Möglichkeit des Selbsterweises der Verkündigung. Was Thielickes Position von der Dialektischen Theologie und von Barths Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium unterscheidet, ist das Abholen des Hörers aufgrund von Lebenserfahrungen, für die der Prediger selbst mit seiner persönlichen geistlichen Le­bensgeschichte einzustehen hat, damit es zur Tat von Gottes Gericht und Freispruch am Hörer kommen kann. In diesem heilsgeschichtlich-autoritativen Predigtverständnis, das die historisch-kritische Problematik zugunsten der Applikation vernachlässigt und dem Prediger eine priesterliche Mittlerrolle zuweist, sieht S. den Grund, weshalb es in modernen Predigtlehren kaum vorkommt (133).
Die Grundfrage an die Welt nach ihrer Bereitschaft zur Anerkennung der Gottheit Gottes ist für Thielicke letztlich die anthropologische Frage nach dem, »was der Mensch wahrhaben will«. Die Auseinandersetzung mit dem Herzen des Menschen, dessen gefallenes Wesen sich strukturell als »Welt« objektiviert, findet ihre Reflexionsgestalt in Dogmatik und Ethik. Geht es in der Verkündigung immer auch »um die Erbauung der Welt oder ihren Zerfall«, so darf sie nicht aus einem verkürzten sola fide heraus die öffentlichen Lebensbereiche von Politik, Wirtschaft und Kultur den säkularen Ideologien überlassen. Die »Auslegung der glaubenden Exis­tenz in bezug auf die Frage, was ihr ›In-der-Welt-sein‹ zu bedeuten« hat, verleiht der Ethik Thielickes ihren individualethischen Zug. Sie sieht die Welt als Makrokosmos des Herzens durch das Zugleich von Geschöpf und Sünder gekennzeichnet und thematisiert in ihrer »vorstoßenden« Funktion die supralapsarischen Ordnungen, die ein Leben im Umfeld Gottes ermöglichen, während ihre »zurückholende« Aufgabe den infralapsarischen Ordnungen gilt, in denen der Mensch zu Gott zurückfindet. Im Grunde kennt Thielickes Ethik nur Grenzsituationen in der Polarität von Sünde und Gnade, weshalb dem Kompromiss als Signatur der gefallenen Welt wie als Ausdruck der göttlichen Ermächtigung des Vorletzten durch das Letzte geradezu heilsgeschichtliche Qualität zukommt. Den katholischen Einwand, dass Thielickes Behauptung des un­ausweichlichen Schuldigwerdens des Handelnden sich eher an der Sündigkeit der geschichtlichen Strukturen als an der reformatorischen Rechtfertigungslehre orientiere, findet S. berechtigt; Letztere stehe jedoch keineswegs für eine negative Anthropologie, sondern für die nicht umkehrbare Bewegung Gottes auf den gefallenen Menschen zu.
Die Stärke von Thielickes pneumatologischem Ansatz liegt für S. darin, dass er die Kirche auf die Kernaufgabe der Verkündigung verpflichtet, von der her es auch zur Hinterfragung wissenschaftlich-theologischer Schemata kommen müsse. Andererseits notiert er eine Unschärfe in der Zuordnung von Verkündigung und Theologie (127), bei der diese selbst zum »vollziehenden Wort« wird und sich wissenschaftstheoretischer Reflexion entzieht. Da »Apologetik« für Thielicke nichts anderes als Verkündigung an den von Gott gefragten Menschen sei, könne auf den Begriff verzichtet werden und von einer Neukonzeption der traditionell ad extra orientierten Methode nicht eigentlich die Rede sein. Das »Selbstgespräch des geistlichen mit dem natürlichen Menschen«, als welches sich Thielickes Apologetik vollzieht, drohe sich gegen die Anfragen der Welt zu immunisieren (240), so dass auch sie selbst sich dem Vorwurf des »Neo-Doketismus« stellen müsse, der den Menschen nicht in der Konkretheit seiner Existenz, sondern nur in seiner Innerlichkeit erreiche (228 f.). S. teilt Thielickes Bedenken gegenüber der Korrelationsmethode Tillichs, fragt aber, ob dieser einem echten Dialog zwischen Christentum und Welt nicht eher gerecht werde (186).
Die Studie bietet – nicht zuletzt aufgrund des biographischen Zugangs – eine gute Einführung in Thielickes Denken, wobei wichtige Beobachtungen und Kommentare in den Fußnotenapparat verbannt sind. In dem gelegentlichen Schwanken des Urteils spiegelt sich das Sachproblem des Ineinanders von Anknüpfung und Widerspruch, dem die Reflexion oft nur mit einem »einerseits – andererseits« zu folgen vermag.