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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

716-718

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Martin, Karl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Dietrich Bonhoeffer: Herausforderung zu verantwortlichem Glauben, Denken und Handeln. Denkanstöße – Dokumente – Positionen. Hrsg. im Auftrag des Dietrich Bonhoeffer-Vereins (dbv) unter Mitarbeit v. D. Bald.

Verlag:

Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2008. 508 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 29,00. ISBN 978-3-8305-1524-1.

Rezensent:

Christiane Tietz

Eine der größten Herausforderungen für den Umgang mit Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers liegt darin, nicht selektiv einzelne pointierte Sätze Bonhoeffers herauszugreifen, sondern durch gründliche historisch-philologische Arbeit dem historischen Kontext, den Nuancen wie auch den Spannungen seiner Theologie gerecht zu werden. Solches mag zwar angesichts mancher aus seinem Werk zu entnehmender provokanter Forderungen auf den ersten Blick wie ein nivellierender Verrat an seinem Erbe erscheinen, ist jedoch unbedingt erforderlich, wenn Bonhoeffer nicht zu einer pauschal kirchenkritischen Chiffre erstarren, sondern sein Denken in seiner theologischen Tiefe wie Unfertigkeit, seiner historischen Verortetheit sowie dem ständig neuen Suchen nach Gottes konkretem Gebot zur Geltung kommen soll.
Das zu besprechende Buch wurde 2008 veröffentlicht anlässlich des 25. Gründungsjubiläums des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins, der »es sich zur Aufgabe gemacht [hat], die Wahrnehmung christlicher Verantwortung in Kirche und Gesellschaft zu fördern« (17). In bewusster Abgrenzung »von einer rein philologisch-historischen Beschäftigung mit Bonhoeffer«, stattdessen mit dem Ziel, »die Bedeutung der Theologie Bonhoeffers für das kirchliche und gesellschaftliche Leben darzustellen« (17), versammelt es ein Dutzend Vorträge und Aufsätze aus der Geschichte des Vereins sowie Grußworte zum Jubiläum, andere kleinere Dokumente und Beiträge. Es schließt mit den 44 Resolutionen, die der Dietrich-Bonhoeffer-Verein zwischen 1987 und 2007 verabschiedet hat.
Die abgedruckten Aufsätze (auf welche sich diese Rezension beschränkt) beginnen mit einem Vortrag von Ferdinand Schlingensiepen, der an die entscheidende Rolle Bethges bei der Vermittlung von Bonhoeffers Theologie erinnert: »… Schüler Dietrich Bonhoeffers kann man nur mit Hilfe von Eberhard Bethge sein« (34). Andreas Pangritz mustert in einem Beitrag zur Person Bonhoeffers an­hand der dissonanten Stichworte »Verräter, Märtyrer, Patriot« mal mehr, mal weniger kritisch verschiedene Einschätzungen Bonhoeffers nach dem Krieg. Die beiden abschließenden Aufsätze von Friedrich Schorlemmer und Hans-Jürgen Fischbeck beschreiben die »innere Krise« (289) der Kirchen im Osten Deutschlands, weil »Eigentum wieder zum höchsten Glück der Erdenkinder« (291) geworden bzw. der Weg »zu einem Totalitarismus des Marktes« (305) eingeschlagen worden sei, der die Kirche »vor die Bekenntnis- und Existenzfrage zugleich« (311) stelle.
Die beiden Beiträge zu Bonhoeffers Theologie widmen sich Bonhoeffers nichtreligiösem Christentum und seinem Gewissensbegriff. Axel Dennecke will »einen neuen Versuch«, Bonhoeffers »nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe« zu verstehen, vorlegen: »Aus der nrI [nichtreligiösen Interpretation] biblischer Begriffe durch Gott selbst in seinem Handeln in Jesus Christus, dem Da-Sein-für-andere, folgt die nrI biblischer Begriffe durch uns Menschen in unserem Da-Sein-für-andere in der gelebten Solidarität zu anderen Menschen und im Mit-Leiden am Leid dieser Welt.« (102) Dem herrschenden Verständnis der »nichtreligiösen Interpretation« hingegen wird eine Engführung auf das Sprachproblem vorgeworfen. Dass dafür Eberhard Bethge als Gewährsmann genannt wird, erstaunt angesichts der Äußerung Bethges, nichtreligiöses Interpretieren sei bei Bonhoeffer »mehr eine ethische als eine hermeneutische Kategorie« (E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, 82004, 987) – genauso wie die Kritik an Christian Gremmels These, das religionslose Christentum »müsse mit einer ›neuen Sprache … befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu‹ einhergehen« (97), irritiert, insofern dies nicht Gremmels’, sondern Bonhoeffers Formulierung zur Sache ist. – Karl Martin bespricht Bonhoeffers Ablehnung einer am ruhigen Gewissen orientierten Ethik. Zutreffend wird herausgestellt, dass in Bonhoeffers Sicht nicht die Unantastbarkeit des eigenen Gewissens, sondern die Verantwortung für den Nächsten handlungsleitendes Kriterium sein sollte.
Weitere Aufsätze beschäftigen sich mit der Friedensthematik: In Martin Stöhrs Beitrag zu Bonhoeffers Friedensethik wird eindringlich Bonhoeffers damaliges Eintreten für die Verhinderung eines weiteren Krieges vor Augen geführt, wobei nicht verschwiegen wird, dass Bonhoeffer in seinen jungen Jahren noch die Meinung äußerte, wenn es gelte den eigenen Nächsten zu schützen, könne die Liebe zum eigenen Volk den Krieg heiligen. – Karl Martin be­spricht anschließend den Rekurs eines Minderheitenvotums ge­gen den Einsatz deutscher Soldaten während der EKD-Synode im November 2001 auf Bonhoeffers Forderung, die Kirche sollte im Entscheidungsfall eines Krieges konkret sagen können: Geh in diesen Krieg, oder: Geh nicht in diesen Krieg. Der Rekurs sei gerechtfertigt, das dort zu findende Argumentieren mit dem Gedanken der ultima ratio hingegen von Bonhoeffer her nicht, denn dieser lehne die Anwendung des ultima ratio-Gedankens ab. Doch warum no­tiert Bonhoeffer dann, wer »die außerordentliche, als Grenzfall sich ereignende Notwendigkeit des Gewaltgebrauchs [als] ultima ratio bestreite … [sei] ein Schwärmer und kein Staatsmann« (Dietrich Bonhoeffer Werke [DBW] 6, 274)? – Theodor Ebert kritisiert in seinem Beitrag Bonhoeffers Entwicklung vom wahrscheinlich »prinzipiellen Pazifisten« (206) zum »Ex-Pazifisten« (197). Er fragt »nach den pazifistischen Alternativen …, die für Bonhoeffer bestanden hätten« (198), gerade angesichts seines Interesses für den gewaltfreien Widerstand Gandhis, und kritisiert, Bonhoeffers »Nachfolge« enthalte »nicht einmal Spurenelemente der strategisch-taktischen Information über gewaltfreies Handeln« und sein »autoritäre[s] Verständnis« von Nachfolge stehe »der gruppendynamischen Vermittlung von gewaltfreien Verhaltensweisen im Wege« (206 f.). Ob Bonhoeffer zum »prinzipiellen Pazifisten« taugt, ist freilich angesichts seiner grundsätzlichen Skepsis gegenüber einer Prinzipienethik eher fraglich. Bonhoeffer hat bei seinen eigenen Aufforderungen zum Frieden stets eingeschärft: Dieser Frieden ist Gottes konkretes Gebot heute.
Schließlich werden ekklesiologische Fragen diskutiert: Sabine Bobert zeichnet in ihrem Beitrag das Kirchenverständnis Bonhoeffers nach, indem sie Bonhoeffers Motiv der »Kirche für andere« als »Kirche auf dem Weg nach unten« interpretiert, die sich in Solidarität zur Gesellschaft positioniert. Ein besonderes Hindernis der Kirche auf diesem Weg sieht sie im Festhalten der Kirche an ihren Privilegien. – Martin Stöhr entfaltet weiter, es sei mit dem Bonhoeffer von »Sanctorum Communio« (DBW 1) Zeit, über den »Weg von der Volkskirche zur Freiwilligkeitskirche« (239) nachzudenken. CA 7 sei »anzureichern. Als Kennzeichen der wahren Kirche sind nicht nur Wort Gottes und die Sakramente, sondern auch … Lex Christi oder Nachfolge Christi wahr- und ernst-­zunehmen« (239). – Axel Dennecke kritisiert die gegenwärtige Kirchensteuerpraxis, weil sie durch Anonymität und unpersönlichen Automatismus ge­kenn­zeichnet sei. Dennecke empfiehlt, »streng zwischen der (universalen) ›Kirche Jesu Christi‹ als geistliche Größe und der Mitgliedschaft in einer sichtbaren Organisation (Volks)Kirche als einer ›Körperschaft öffentlichen Rechtes‹ (KöR) zu unterscheiden« (264). Statt von einer Kirchensteuer will Denecke von einem »Mitgliedsbeitrag in einer Kirchen/Religionsgemeinschaft als KöR« sprechen, bei der das »Kirchen(vereins)mitglied … seinen Beitrag … freiwillig einer kirchlichen Körperschaft zukommen lässt, wie einem vergleichbaren nicht-kirchlichen, weltlichen Verein« (270).
Auf Bonhoeffers Dissertation kann man sich mit diesen Überlegungen schwerlich berufen. Bonhoeffer betont zwar, die Kirche besitze einen »wesentliche[n] Freiwilligkeitscharakter« (DBW 1, 150). Gleichzeitig sollte die Kirche Christi aber Volkskirche sein, weil sie »mit der Predigt des Wortes … über sich selbst hinaus[greift] und … sich an alle [wendet], die auch nur der Möglichkeit nach zu ihr ge­hören könnten« (DBW 1, 149). Erst am Jüngsten Tag werde der Unterschied zwischen Unkraut und Weizen offenbar. Die ge­schichtliche Kirche solle nur dann ihre Volkskirchlichkeit aufgeben, wenn sie »in ihrer volkskirchlichen Art nicht mehr das Mittel sehen kann, zur Freiwilligkeitskirche durchzudringen« (DBW 1, 150). In allen anderen Fällen aber empfiehlt Bonhoeffer von »Versuchen … zur Reinigung der Kirche« abzusehen, weil man damit beabsichtige, »nun endlich das Reich Gottes nicht mehr im Glauben, sondern im Schauen gegenwärtig zu haben« (DBW 1, 150 f.). Bonhoeffers Grundansatz in »Sanctorum Communio« ist, dass eine »logische und soziologische Einheit zwischen Freiwilligkeits- und Volkskirche, wesentlicher und empirischer Kirche, ›unsichtbarer‹ und ›sichtbarer‹ Kirche« (DBW 1, 149 f.) besteht. Kirchensteuer als »Vereinskosten« zu konzipieren, lehnt Bonhoeffer expressis verbis ab, weil der Gedanke des Vereins dem theologischen Wesen der Kirche, jedem zugänglich zu sein, widerspricht (vgl. DBW 1, 174 f.). Stattdessen muss »die kirchliche Gemeinde … sich selbst erhalten und zahlt darum ihre Steuern, wie in einer Familie jeder zur Erhaltung der Gemeinschaft beisteuert« (DBW 1, 179). Bonhoeffers Kritik an der damaligen Kirchensteuerpraxis in seiner Dissertation (vgl. DBW 1, 287; erscheint in der Druckfassung nicht mehr) richtet sich nur gegen die zwangsweise Eintreibung der Steuern durch den Staat.