Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

714-716

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lessing, Eckhard

Titel/Untertitel:

Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart. Bd. 3: 1945–1965.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 523 S. gr.8°. Geb. EUR 89,00. ISBN 978-3-525-56955-9.

Rezensent:

Michael Basse

In dem vorliegenden dritten Band des auf vier Bände konzipierten Gesamtwerkes wird der theologiegeschichtliche Zeitraum von 1945 bis 1965 behandelt. Die Darstellung folgt dem bewährten Gliederungsschema, zunächst die richtungweisenden Ansätze dieser Zeit und ihre Repräsentanten vorzustellen, bevor dann die Forschungen in den einzelnen theologischen Disziplinen in den Blick kommen.
In konzeptioneller Hinsicht werden vier Richtungen der Theologie in den Mittelpunkt gestellt: die Dialektische Theologie, die lutherische Theologie sowie die Entwürfe Paul Tillichs und Fritz Buris. Inwieweit Letzterer wirklich zu den »bestimmenden Ansätze[n]« (23) dieser Zeit zu zählen ist, erschließt sich aus der Darstellung insgesamt nicht. Grundsätzlich wird betont, dass nach 1945 keine neuen theologischen Konzepte entstehen, vielmehr die nach dem Ersten Weltkrieg hervorgetretenen Richtungen weiter verfolgt und präzisiert werden. Dabei spielt die theologische Verarbeitung der Erfahrungen des Kirchenkampfes eine wichtige Rolle. Vor diesem historischen und theologischen Problemhintergrund stellt der Vf. seine gesamte Darstellung unter die Überschrift »Kirche und Welt« (23), um damit auch die fortwirkende Bedeutung Bonhoeffers zu unterstreichen.
Wie schon im vorangegangenen Band steht Bultmanns theologische Konzeption am Anfang des Abschnitts über die Dialektische Theologie. Dabei wird sein Programm der Entmythologisierung zunächst in systematischer Hinsicht betrachtet und in dieser Perspektive herausgearbeitet, wie Bultmann unterschiedlichste Einflüsse von Heideggers Existenzphilosophie über theologische Grundgedanken des Ritschl-Schülers Wilhelm Herrmann und der religionsgeschichtlichen Schule bis hin zu den Einsichten Barths und Gogartens aufgenommen hat. Gerade die Anknüpfung an die Theologie Ritschls, die der Vf. generell als ein Kennzeichen der Kontinuität in der neueren Theologiegeschichte hervorhebt, lässt aber danach fragen, inwieweit hier noch von einer »Dialektischen Theologie« mit ihrer Betonung der Diskontinuität gesprochen werden kann. Das gilt auch für Gogartens Konzeption, deren Nähe zu Bultmanns Programm hervorgehoben wird, wobei der Vf. sie letztlich als eine »mystische Theologie« (53) charakterisiert. Demgegenüber kommen im folgenden Abschnitt zur Theologie Barths fundamentale Unterschiede vor allem zwischen Barth und Bultmann zur Sprache. Als vierte Position innerhalb der Dialektischen Theologie wird Emil Brunner vorgestellt, der seine Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg in einer dreibändigen Dogmatik gebündelt hat. Die Darstellung der lutherischen Theologie nach 1945 konzentriert sich auf die Erlanger Theologen Elert und Althaus.
Im zweiten Kapitel werden die unterschiedlichen Gruppierungen der Barth- und Bultmannschüler sowie der lutherischen Theo­logen vorgestellt, indem jeweils Gemeinsamkeiten in den Grundanschauungen und besondere Akzentuierungen der einzelnen Vertreter hervorgehoben werden. So entsteht ein differenziertes Bild der theologischen Landschaft, das die relative Geschlossenheit der verschiedenen Denkschulen erkennen lässt, aber auch schon Perspektiven für die Zeit nach 1965 eröffnet.
Das umfangreiche dritte Kapitel widmet sich dann der Forschung in den theologischen Einzeldisziplinen, wobei der Einfluss der unterschiedlichen theologischen Denkschulen auch hier aufgezeigt wird. Kurze Einführungen in die jeweilige »Problemlage« der einzelnen Disziplinen vermitteln einen guten Überblick und lassen zugleich theologische Zusammenhänge erkennen, denn trotz fortschreitender Spezialisierungen konstatiert der Vf. insgesamt ein »Einheitsbewußtsein«, das im »Wissen um die Theologizität des eigenen Faches« bestanden und einen »programmatischen Sinn gewonnen« habe, gleichwohl nicht eigens reflektiert worden sei und sich deshalb nur »indirekt« zeige (223). Hinsichtlich der Entwicklung in den beiden exegetischen Disziplinen wird der Methodenproblematik und der Theologie des Alten bzw. Neuen Testaments besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Im Bereich der Kirchengeschichtsforschung kommen neben den Barthianern und den lutherischen Theologen auch solche Konzeptionen in den Blick, die in der Tradition der Hollschule sowie der kritischen und der modern-positiven Richtung standen. Da die systematisch-theologischen Entwürfe bereits als Grundmuster der gesamten Darstellung dargelegt wurden, beschränken sich die Ausführungen in diesem dritten Kapitel auf den Bereich der theologischen Ethik, die »unter dem Vorzeichen der Neuordnung Deutschlands« (366) stand und in erster Linie von den beiden »Leitvorstellungen der ›Königsherrschaft Christi‹ bzw. ›Zwei-Reiche-Lehre‹« (367) bestimmt wurde. Im Blick auf die Praktische Theologie werden schwerpunktmäßig die Homiletik und die Katechetik herausgestellt, wobei der Einfluss der Dialektischen Theologie auf die religionspädagogische Konzeption der Evangelischen Unterweisung kaum zur Sprache kommt. Gehört das Kirchenrecht zu den Disziplinen, die nach 1945 im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Welt in den Vordergrund rücken, und wird es als ein »substanzieller Bestandteil der Theologie« (474) betrachtet, so lassen die hier besonders markanten Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten nach dem (Selbst-)Verständnis evangelischer Konfession fragen. Für den Bereich der Religions- und Missionswissenschaft stellt der Vf. eine »strikte Unterscheidung« (495) zwischen Religionswissenschaft und Theologie fest und konzentriert sich deshalb um der theologiegeschichtlichen Darstellung willen auf Arbeiten von Missionswissenschaftlern. Ein knapper Exkurs zum Verhältnis von deutschsprachiger evangelischer Theologie und Ökumene nach 1945, der sich auf Ansätze bei Barth, Gollwitzer, Bultmann, Käsemann und Kinder beschränkt, bildet den Abschluss der Darstellung.
Der Band eignet sich – wie schon seine beiden Vorgänger – als Nachschlagewerk und regt darüber hinaus zur Weiterarbeit an, indem zu Beginn einzelner Unterabschnitte die wichtigste Literatur angegeben wird. Konsequent ausgeblendet bleibt erneut der historische Kontext der theologischen Konzeptionen und Forschungen in den einzelnen Disziplinen, was zu der Feststellung, dass sich die evangelische Theologie nach 1945 auf »die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Welt« (23) konzentriert habe, in einer gewissen Spannung steht. Die theologische Grundlinie, die diesen dritten Band wie auch die beiden vorangegangen bestimmt und – worauf einzelne Bemerkungen wie die zu G. Ebeling (178) schließen lassen – wohl auch im vierten und letzten Band eine Rolle spielen wird, ist es, die Bedeutung Albrecht Ritschls für die evangelische Theologie im deutschsprachigen Raum herauszustellen, um so nicht nur deren »Kontinuität« aufzuzeigen, sondern auch die Theologie insgesamt im Sinne einer Förderung wissenschaftstheoretischer »Klarheit« (ebd.) weiterzuführen. Ob nicht doch die zunehmende Distanz sowohl der Barth- als auch der Bultmannschüler zu Ritschl nach anderen »Klärungen« des wissenschafts­theo­retischen Status’ der Theologie verlangte, bleibt vorläufig – im Blick auf den noch ausstehenden Band – eine offene Frage.