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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

710-712

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Springhart, Heike

Titel/Untertitel:

Aufbrüche zu neuen Ufern. Der Beitrag von Religion und Kirche für Demokratisierung und Reeducation im Westen Deutschlands nach 1945.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. 360 S. gr.8°. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02612-8.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Das auch optisch ansprechende Buch von Heike Stringhart geht einer forschungsgeschichtlich wenig beachteten Fragestellungnach, nämlich dem Beitrag von Religion und Kirche für die Demokratisierung und Reeducation im Westen Deutschlands nach 1945. Die 360 Seiten starke Studie wird von der These geleitet, dass die amerikanischen Besatzer einen Demokratisierungsprozess ermöglichten, »in dessen Kontext auch Theologie, Religion und Kirchen zu einer Neuorientierung herausgefordert waren, die die Gestaltungspotentiale derselben in der und für die Gesellschaft neu entdecken half« (13). Vor dem Hintergrund des Untersuchungsgegenstandes ist die bei Mi­chael Welker entstandene Dissertation ausgesprochen interdisziplinär angelegt: Historische und soziologische Forschung sowie systematisches Nachdenken sollen nach Auffassung der Vfn. »miteinander in ein fruchtbares Gespräch« gebracht werden (24).
Der klar gegliederte Aufbau sieht eine Dreiteilung vor, wonach das erste Kapitel (31–36) »nach den begrifflichen Wurzeln des Konzepts Reeducation und Reorientation« fragt und sie mit der These verbindet, dass »Reeducation« nicht auf den Bildungsaspekt zu reduzieren ist, sondern als »umfassender Demokratisierungsprozess der frühen Nachkriegsjahre« zu verstehen sei (26). Im zweiten großen Kapitel zeichnet die Vfn. »Planungsphase und konzeptionelle Über­legungen aus theologischer, soziologischer und sozialpsychiatrischer Perspektive« in den 40er Jahren des 20. Jh.s nach. Dabei treten – sehr gut dargestellt – die konzeptionellen Überlegungen von Richard Brickner mit der These der clear areas (als Anknüpfungspunkt der Demokratisierung) sowie von Talcott Parsons (gesellschaftlicher Wandel durch »controlled institutional change«) in den Mittelpunkt der weiterführenden Analyse (67 ff.75 ff.). Es werden die Rahmenbedingungen der Besatzungspolitik herausgearbeitet (100–134), nämlich die Garantie der Religionsfreiheit, die Verhinderung eines Wiedererstarkens des Nationalsozialismus sowie die Kooperation mit den Kirchen. Im dritten Hauptkapitel (135–268) werden die genannten Rahmenbedingungen und Ziele im Hinblick auf die Interdependenz von »Reeducation und Religion« fruchtbar gemacht. Die Vfn. arbeitet an den Beispielen der Demokratisierung, der Erwachsenenbildung, der Diakonie sowie der Öffentlichkeitsarbeit die Rolle von Religion und Kirche für die Stabilisierung einer an Werten orientierten Gesellschaft nach 1945 heraus. Es wird z. B. gezeigt, wie Jugendarbeit und Schule zu Wegbereitern einer demokratischen Zukunft werden (136–169, bes. 167 f.), wie die Arbeit der Evange­lischen Akademien als Paradigma für die Rolle von Religion in der Gesellschaft gelten kann (170–197), wie die diakonische Arbeit des Evangelischen Hilfswerks zum fruchtbarer »Boden für die Ziele der Reeducation« wird (227), und schließlich, welche Bedeutung der religiösen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für die Demokratisierung im Nachkriegsdeutschland zu­kommt (228–250).
In einem Schlusskapitel (269–321) resümiert die Vfn. – konsequent interdisziplinär – historische, theologische und soziologische Aspekte zur Bedeutung von Kirche und Religion im deutschen Transformationsprozess nach 1945. Als historischen Aspekt hält die Vfn. etwas apodiktisch fest, dass die Kirchen »Ort des Widerstands gegen den NS-Staat« waren: »Aufgrund des aus kirchlichen Wurzeln gewachsenen Widerstands sahen amerikanische Beobachter die Kirchen als einen Ort des Widerstands gegen den National­sozialismus. Dadurch hatten sie sich als Räume des ›anderen Deutschland‹, in der Brickerschen Terminologie als clear area der Gesellschaft erwiesen, an dessen Kräfte man zur Überwindung des Totalitarismus anknüpfen zu können hoffte.« (269) Theologische As­pekte werden u. a. in den geistlichen bzw. spirituellen Ressour­cen von Kirche und Religion erblickt. Hierin sei das »Ethos der Demokratie« insofern verankert, »als es hier um den Geist geht, aus dem heraus das Leben in der neuen Gesellschaftsform gespeist werden sollte. In den liturgischen Formen und durch die Tatsache der Fortdauer der liturgischen Veranstaltungen bot das spirituelle Leben der Kirche eine stabile Kontinuität.« (292)
Insgesamt komme die Kirche als »Gegenwirklichkeit in den Blick, die die historische, kulturelle und gesellschaftliche Wirklichkeit durch den Kern ihrer Botschaft, die Infragestellung der Mächte und Gewalten am Kreuz Christi, radikal in Frage stellt und sich zugleich als Teil derselben in Frage stellen lässt« (ebd.). Theologisch-ethisch komme der Ermöglichung der Begegnung und dem Umgang mit moralischer Schuld im Raum von Kirche eine besondere Bedeutung zu. Wie das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 zeige, erweise sich Kirche »als ein Bereich, der auf gesellschaftlichen Wandel hin entwicklungsoffen ist und aus ihrem Inneren heraus die Chance für jeden Einzelnen bietet, Schuld einzugestehen und zu bekennen.« (303 f.) Als einen der soziologischen Aspekte hält die Vfn. fest, dass Kirche und Religion im Blickwinkel der Amerikaner auch als »Weg der Vergewisserung in Zeiten des Wandels« (300) galten. »Aufgrund der Kontinuität ihrer Existenz und der ihr nicht nur von der Jugend zugetrauten Deutekompetenz versprach man sich von der Kirche Orientierung im geistig-moralischen Vakuum der Nachkriegszeit.« (301) Die Vfn. nimmt die Interpretationen Parsons auf, der gesehen hatte, dass die spezifisch kulturelle und sozialpsychologische Funktion der Religion im Angebot von Deutungen und Entdramatisierungen von durch gesellschaftlichen Wandel evozierten Verunsicherungen liegt.
Insgesamt handelt es sich um eine große, ja großartige Informationsleistung. Die interdisziplinäre Anlage der Untersuchung erweist sich als methodisch adäquat. Das wird besonders in der Konsistenz der Gesamtuntersuchung deutlich. Es gelingt, soziologische und historische Diskurse immer wieder systematisch zu gliedern und den komplexen Stoff begrifflich zu durchdringen und in Thesen zu fassen. Ob die sehr optimistische amerikanische Sicht auf die Widerstand leistende Evangelische Kirche im Dritten Reich (Stichwort clear area) angesichts der deutschen Faschismusforschung im Allgemeinen (Bauerkämper u. a.) und der zeithistorischen Erforschung der Rolle der Evangelischen Kirche während des Nationalsozialismus (Besier, Vollnhals u. a.) im Besonderen nicht noch entschiedener hätte hinterfragt werden müssen, bleibt ebenso kritisch anzumerken wie die zum Teil mutige Parallelisierung der Transformationsvorgänge nach 1945 mit denen in Deutschland nach 1989 (bes. 292 f.) im Hinblick auf die Rolle von Religion und Kirche in der Ablösung von totalitären Strukturen einerseits und der Stabilisation von Demokratie andererseits. In der ehemaligen DDR hatte sich unter dem Dach der Evangelischen Kirche der politische Widerstand gegen den Totalitarismus des SED-Regimes formieren können (und damit Zivilgesellschaft artikulieren), weil Kirche ein Ort war, der nicht ›gleichgeschaltet‹ war (Stichwort: »Kirche im Sozialismus«). Ob das in entsprechender Weise auch für die Kirche im NS-Staat galt (besonders in der Zeit nach der »Gleichschaltung«), muss zumindest bezweifelt werden. Schließlich ist – trotz hoher Informationsleistung – die Repräsentativität der Studie zu hinterfragen, die sich letztlich auf einen deutlich begrenzten Ausschnitt (amerikanisch besetzter Norden Baden-Württembergs) be­schränkt. Zumindest besteht eine Spannung zwischen dem viel­versprechenden Untertitel der Studie und dem tatsächlich bearbeiteten Teilausschnitt.