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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

707-710

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Schneider, Thomas Martin

Titel/Untertitel:

Gegen den Zeitgeist. Der Weg zur VELKD als lutherischer Bekenntniskirche.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 314 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 49. Geb. EUR 63,00. ISBN 978-3-525-55749-5.

Rezensent:

Klaus Grünwaldt

Vorweg: Die folgende Rezension ist in doppelter Weise perspektivisch. Zum einen schreibe ich sie nicht als Kirchenhistoriker, sondern als Alttestamentler, der sich in den vergangenen Jahren überwiegend mit systematisch-theologischen und kirchlich-praktischen Fragen befasst hat; zum anderen schreibe ich sie als jemand, der sieben Jahre gerne und mit innerer Überzeugung als theologischer Grundsatzreferent im Lutherischen Kirchenamt der VELKD gearbeitet und die Debatte um das engere Zusammengehen von EKD und VELKD von 2002 bis 2007 am eigenen Leibe miterlebt und streckenweise auch miterlitten hat. Insofern habe ich die Arbeit von Thomas Martin Schneider voreingenommen gelesen, mit Sympathie für den Gegenstand.
Das Buch, die Druckfassung einer Münsteraner Habilitationsschrift, hat zwei Rahmenkapitel und drei Hauptteile.
Das erste Kapitel – der vordere Rahmen – benennt Thema und methodische Vorentscheidungen und legt dar, mit welchem Begriff des »Luthertums« im Folgenden operiert wird. Letzteres ist insofern nötig, als man Luthertum ja auf mindestens zwei Weisen verstehen kann: Man kann es auf die Person Martin Luther und seine Theologie (bzw. Theologien) beziehen; oder man nennt »lutherisch«, was sich in Übereinstimmung mit den lutherischen Be­kenntnisschriften befindet. Eine dritte Möglichkeit – die bei S. allerdings ausgeblendet wird – wäre noch eine hermeneutische: dass man die Bekenntnisschriften nicht als Material, sondern als Methode bzw. Schlüssel versteht, mit der/dem man theologische Fragen angeht. S. legt dar, dass bereits in dem der Studie zugrunde liegenden Zeitraum der Begriff des Luthertums unterschiedlich verwendet wurde. Gleichwohl wurde die Definition Hermann Sasses bestimmend, die er 1934 (2. Aufl. 1936) auf gut 160 Seiten vorgelegt hat und die »Luthertum in traditioneller Weise als Kirche im Sinne der ungeänderten Augsburger Konfession« versteht (32). Eine knappe Skizze lutherischer Einigungsbestrebungen bis Ende der 1920er Jahre schließt das einführende Kapitel ab. Schon hier, insbesondere in dem Abschnitt über die Frage, was Luthertum sei, und die ganz unterschiedlichen Antworten, die darauf gegeben wurden, wird ein Grundmotiv sichtbar, das letztlich mit dafür gesorgt hat, dass die Einigungsbestrebungen nie zu dem angestrebten Ziel geführt haben: Eine wirklich eingehende theologische Durchdringung der anstehenden Fragen hat nicht stattgefunden. Positionen bleiben nebeneinander stehen, ein sorgfältig erarbeiteter magnus consensus wird nicht erzielt.
Das zweite Kapitel bzw. der erste Hauptteil behandelt die Jahre 1933 bis 1936 mit den Einigungsbestrebungen bis vor der Gründung des Lutherrates. Hier lässt S. den Lutherischen Rat, den Lutherischen Pakt und den Lutherischen Tag vor dem Auge des Lesers vorbeiziehen, aber auch die Mitwirkung der Lutheraner an der Barmer Theologischen Erklärung 1934. Eine einheitliche Haltung zur Barmer Theologischen Erklärung konnte während der gesamten Zeit des sog. Dritten Reiches, aber auch darüber hinaus nicht gefunden werden und hat letztlich zumindest indirekt (Oldenburg) auch dazu beigetragen, dass nicht alle lutherischen Kirchen Gliedkirchen der VELKD wurden. Liegt das auch daran, dass man sich nicht darüber verständigen konnte, was »lutherisch« meint? Wurde auch hier vielleicht nicht intensiv genug theologisch gearbeitet?
Herz- und Kernstück des Buches ist die Beschreibung der Arbeit des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, des sog. Lutherrates, die S. anhand der bislang noch unveröffentlichten Archivalien D 15 aus dem Landeskirchenamt Hannover vornimmt. Hier liegt eine besondere wissenschaftliche Leistung der Arbeit. Dabei nehmen die Jahre von 1936 bis 1939 den breitesten Raum ein, da sich der Lutherrat während des Zweiten Weltkrieges viel seltener getroffen hat und weil naturgemäß kirchenpolitische Fragen gegenüber den Lebensfragen des Krieges in den Hintergrund rückten.
Inhaltlich ist an dem Dargestellten bemerkenswert, dass hier eine kirchenhistorische Perspektivkorrektur stattfindet. Die Zeit der Kirche im Nationalsozialismus ist bislang vornehmlich aus der Sicht der Bekennenden Kirche unierter und reformierter Prägung, also aus der Sicht von »Barmen« und »Dahlem«, geschrieben worden, wobei die lutherischen Theologen des Widerstandes bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Asmussen) zumeist unerwähnt blieben. S. gelingt ein wesentlich differenzierteres Bild. Er legt dar, wie der Lutherrat aus Treue zum lutherischen Bekenntnis nicht nur Eingriffe des Staates in die kirchliche Organisation vehement zurück­weist und gegen sie angeht, etwa in der Auseinandersetzung mit dem Reichskirchenausschuss, sondern auch aus Bekenntnisgründen eine klare Grenze zu den Deutschen Christen markiert. Mit dem Medium von »Worten« richtete sich der Lutherrat an die Pfarrerschaft und an die Gemeinden mit dem Ziel, Trost und Wegweisung in der Zeit großer Bedrängnis zu geben. Die Zielrichtung der Arbeit des Lutherrates – Pfarrer und Gemeinden – hat die VELKD bis heute als lebendige Tradition des Lutherrates bewahrt.
Deutlich wird aber auch die innere Diversität der Protagonisten. Man fragt sich beim Lesen ständig, wie es zur Einheit des deutschen Luthertums kommen soll, wenn nicht einmal die »Hauptpersonen« an einem Strang ziehen. Insbesondere der hannoversche Bischof Marahrens fällt durch seine größere Nähe zum NS-Staat, zumindest aber seine mangelnde Bereitschaft zur Abgrenzung aus dem Kreis der anderen leitenden Geistlichen und Juristen heraus (vgl. hierzu die Edition seiner Wochenbriefe durch Thomas Kück), aber S. macht – abgesehen von dauernden Alleingängen Württembergs bzw. Wurms – z. B. auch Risse zwischen Hans Meiser (dessen Verhältnis zum Judentum, das seit 2006 in Bayern schmerzhaft debattiert wird, hier merkwürdig ausgeklammert bleibt) und »seinem« Oberkirchenrat Thomas Breit aus. Breits resignierter Rücktritt von der Leitung des Lutherrates bildet den Abschluss des zentralen dritten Kapitels, und man ahnt nichts Gutes, wenn man weiterliest, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg weitergegangen ist.
Hiervon handelt das vierte Kapitel. Der entscheidende Satz steht auf S. 254: »Das landeskirchliche Eigeninteresse war stärker als der Gedanke der konfessionellen Zusammengehörigkeit.« Ein Satz, der heute ebenso aktuell ist wie 1945–1948. Die zentrale Aufgabe der Jahre, die Arbeit an der Verfassung der VELKD, steht im Mittelpunkt der Darstellung, und man muss beobachten, wie der Gedanke der einen deutschen lutherischen Kirche immer weiter zerbröselt angesichts der eigenen Wege Württembergs und Oldenburgs, angesichts der mangelnden Bereitschaft der Landeskirchen, Kompetenzen abzugeben, und angesichts einer EKD, die schon damals beansprucht hat, die deutsche evangelische Kirche zu sein, obwohl noch nicht einmal Abendmahlsgemeinschaft innerhalb der ganzen EKD bestand – die kam erst nach Leuenberg (1973 bzw. 1974/75).
Die Abschnitte über das Ausscheren bzw. Fernbleiben Württembergs und Oldenburgs lesen sich wie ein Hilfeschrei nach einer vertieften theologischen Diskussion. Württembergs Diktum, nicht die Bekenntnisse sollten im Mittelpunkt stehen, sondern die Bibel, möchte man entgegenhalten, dass die Bekenntnisse doch zur Bibel hinleiten, sie aufschließen und dass niemand die Bibel unvoreingenommen, also ohne Vorverständnis liest. Und das Fernbleiben Oldenburgs ist – es wurde oben angedeutet – späte Saat einer unzureichend aufgearbeiteten lutherischen Position zu Barmen. Angedeutet wird schließlich, dass es über den Lutherischen Weltbund und sein Deutsches Nationalkomitee doch noch einen Weg zu einer größeren lutherischen Einheit gegeben hat als in der VELKD. So schließt das Buch – vor seinem zusammenfassenden fünften Kapitel – doch noch tröstlich.
Das Buch ist flüssig, manchmal spannend geschrieben, ja er­zählt. Insofern habe ich es gerne gelesen. Mir ist deutlich geworden, dass sich die Argumente und Positionen im Blick auf die Landeskirchen, die VELKD und die EKD seither kaum verändert haben. Viele Vorbehalte gegenüber einer größeren lutherischen Einigkeit in Deutschland waren mir aus der Strukturdebatte bekannt. Die Hausaufgaben, die damals nicht gemacht worden sind und deren Fehlen S. ganz klar benennt, haben die Strukturdebatte möglich gemacht, die vielleicht zu einem Bedeutungsverlust der VELKD führt. Andererseits sind die Hausaufgaben bleibende Aufgaben, ins­besondere die theologische Arbeit an den zentralen hermeneutischen und ekklesiologischen Fragen.
Was ist lutherisch? Was ist Luthertum? Je überzeugter und überzeugender die VELKD an diesen Fragen arbeitet, desto mehr Bindungskraft wird von ihr ausgehen. Dies nachdrücklich deutlich gemacht zu haben, ist das über die gründliche historische Darstellung hinausgehende Verdienst des Buches.