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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

706-707

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Penkert, Alfred

Titel/Untertitel:

Höhere Mächte haben entschieden. Flucht, Vertreibung und Ankommen ostpreußischer Katholiken im Spiegel ihres Briefwechsels mit Bischof Maximilian Kaller. Mit einem Abriß der ermländischen Nachkriegsgeschichte.

Verlag:

Berlin-Münster: LIT 2008. 468 S. m. Abb. gr.8° = Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, 15. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-8258-1227-0.

Rezensent:

Christa Stache

Der Band stellt eine Zusammenfassung und Erweiterung von drei älteren Arbeiten des Vf.s über Flucht, Vertreibung und Nachkriegsschicksal der ostpreußischen Katholiken dar, die in den Jahren 1999 bis 2004 in der Reihe der Veröffentlichungen der Bischof-Maximilian-Kaller-Stiftung erschienen sind. Die Wiederveröffentlichung soll die Werke einem breiteren Publikum bekannt machen, als Motiv ist unter anderem die öffentliche Anteilnahme an dem 2004 begonnenen Prozess der Seligsprechung von Bischof Maximilian Kaller genannt.
Der Untersuchungszeitraum reicht von 1945 bis 2006, wobei der Schwerpunkt deutlich auf der Zeit zwischen 1945 und 1947 liegt. Die herangezogenen Quellen stammen ausschließlich aus dem Archiv des apostolischen Visitators Ermland, das im Ermlandhaus in Münster verwahrt wird; vor allem der umfangreiche Schriftwechsel von Bischof Maximilian Kaller mit den Geistlichen und Laien seiner Diözese erweist sich als aussagekräftige Quelle für viele Einzelschicksale ebenso wie für das Gruppenschicksal der Ermländer. Die zitierte Literatur schöpft zu einem erheblichen Teil aus Beiträgen im Ermländischen Hauskalender. Dementsprechend zeigt das Werk in erster Linie die Entwicklung aus der Innensicht der Ermländer und sie konzentriert sich auf die Perspektive der geistlichen Leitung.
Die ostpreußischen Katholiken stammen zum ganz überwiegenden Teil aus dem Ermland, das bis 1945 als ländlich-agrarisch strukturiertes, geschlossenes katholisches Siedlungsgebiet inmitten der überwiegend evangelischen Provinz Ostpreußen existierte. Diese Situation hatte bei seinen Einwohnern ein intensives Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Verwurzelung einer besonderen Tradition entstehen lassen, für die die Bindung an die katholische Kirche und eine enge und vertrauensvolle Beziehung zur Geistlichkeit ganz wesentliche Elemente waren. Dieses katholisch-ermländische Gemeinschaftsbewusstsein wirkte über Vertreibung und Zerstreuung hinaus und prägte auch nach 1945 das Selbstbild und das Handeln dieser besonderen Gruppe unter den Heimatvertriebenen.
Im ersten Kapitel wird zunächst das Schicksal der ermländischen Geistlichkeit, im zweiten Kapitel das der Laien zwischen 1945 und 1947 dargestellt. Im Zentrum steht die Person des Bischofs Maximilian Kaller, des letzten deutschen Bischofs im Ermland, der nach seiner Ausweisung aus Polen 1946 zum Flüchtlingsbischof ernannt und mit den besonderen Aufgaben der Seelsorge für die heimatvertriebenen Katholiken im gesamten Restdeutschland betraut wurde. Der intensive Schriftwechsel, den er mit seinen Diözesanen zwischen 1945 und 1947 führte, ist die zentrale Quelle für die Darstellung der Schicksale geflohener und vertriebener Geistlicher wie Laien in diesen Jahren. Die anschaulichen Schilderungen in den Briefen über die Lebenssituation, die Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen bringen den Nachgeborenen die Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit eindruckvoll nahe. Neben den körperlichen Nöten und Entbehrungen und der Trauer über den Verlust der Heimat ist es vor allem die schmerzliche Erfahrung, die Geistlichkeit wie Laien teilten, dass die gewohnte katholisch geprägte Umwelt nicht mehr existierte, sondern die Mehrzahl der Ermländer nun in der Diaspora in einer mehrheitlich protestantischen Umwelt leben musste. Auf geistlicher Seite verband sich damit die Befürchtung, dass mit der allmählichen Integration in die neue Umgebung mit dem Verlust der alten Heimat auch eine Lockerung der kirchlichen und konfessionellen Bindung einhergehen könnte. Daher wurden wiederholt – erfolglose – Versuche un­ternommen, im Westen ein geschlossenes Siedlungsgebiet für die katholischen Ermländer zu finden, die sogar den Plan einer ge­meinsamen Auswanderung nach Südamerika einschlossen. Nach dem Scheitern blieb als Alternative nur der Aufbau tragfähiger Ge­meinschaften zur Pflege der verbindenden Tradition und Konfession.
Zwar hatte Maximilian Kaller bereits im September 1945 hellsichtig das Ermland verloren gegeben und seine Diözesane aufgefordert, sich in der neuen Umgebung religiös einzubinden und einzubringen; trotzdem bemühten sich Kaller und seine Nachfolger intensiv um die Erhaltung des ermländischen Bewusstseins und der ermländischen Tradition. Die langsame, aber stetige Entfernung und Lösung von der alten Heimat war nichtsdestoweniger nicht aufzuhalten und wurde als schmerzlich erlebt. Diese Entwicklung wird im letzten Drittel des Buches, das die Zeit von 1947 bis 2003 behandelt, nachgezeichnet. Im Mittelpunkt steht dabei das Wirken der Nachfolger Maximilian Kallers im Amt der Kapitularvikare des Bistums Ermland.
Unter den Ostpreußen blieben die Ermländer eine besondere Gruppe, verbunden in der Ermlandfamilie, bzw. dem Ermlandbund unter geistlich berufener Leitung; ihr Verhältnis zur Landsmannschaft Ostpreußen blieb ein angespanntes, zeitweise konfliktbeladenes. Aber auch die besonderen Organisationsformen konnten nicht verhindern, dass sich mit fortschreitender Zeit und dem Nachwachsen einer neuen Generation Bindungen lockerten und Gemeinsamkeiten veränderten. Zwar konnte jahrzehntelang das deutsche Bistum Ermland, wenn auch nur als Fiktion, erhalten bleiben, der Priesternachwuchs gesichert und schließlich mit dem Bau des Ermlandhauses 1960 ein neues geistliches Zentrum ge­schaffen werden. Die allgemeine Entwicklung lief jedoch in eine andere Richtung. Nicht ohne Wehmut zeichnet der Vf. die fortschreitende Distanzierung zu den alten Verhältnissen nach: das Ende des Kalten Krieges und die neue Ostpolitik, die zur Aufgabe politischer Forderungen nach Rückgabe der historischen deutschen Ostgebiete führten, dazu das allmähliche Versiegen finanzieller staatlicher Unterstützung; die Neuorientierung der vatikanischen Politik gegenüber Polen, die 1972 eine Neuorganisation der polnischen Bistümer bewirkte und in letzter Konsequenz 1998 das Erlöschen des Amtes der Apostolischen Nuntiatur und Einordnung der Flüchtlingsseelsorge in die Aufgaben der deutschen Bischofskonferenz. Andererseits eröffneten sich vor allem nach 1989/90 neue Wege zum Kontakt und zur Fürsorge für die im Ermland verbliebenen Deutschen und zur Begegnung mit den neuen, polnischen Bewohnern des Ermlandes, eine Begegnung, die durch die gemeinsame Konfession gefördert wird. So steht am Ende nicht nur die Trauer über das Verlorene, sondern der positive Ausblick auf ein neues Miteinander mit dem katholischen Nachbarn in Europa.
Auch wenn die Darstellung ganz überwiegend aus ermländischer Perspektive gearbeitet ist, so ist sie doch nicht nur ein Beitrag zur historischen Selbstvergewisserung dieser besonderen Gruppe unter den Heimatvertriebenen, sondern schildert anschaulich das Erleben der Vertriebenengeneration, ihren Weg in die Integration und die Chancen zum Neubeginn in der Situation des 21. Jh.s. Sie ist insofern ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur.