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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

704-705

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Jauer, Joachim

Titel/Untertitel:

Urbi et Gorbi. Christen als Wegbereiter der Wende.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 344 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 19,95. ISBN 978-3-451-32253-2.

Rezensent:

Ehrhart Neubert

Joachim Jauer war mehr als zwei Jahrzehnte westlicher Fernsehjournalist in der DDR und anderen kommunistischen Staaten. Er ist ein Zeitzeuge, der den Ost-Westkonflikt aus dem Blickwinkel westlicher Entspannungspolitik – was auch immer das war – gesehen hat. Und er war fasziniert, wie aus dem Wandel im Osten ein Zusammenbruch wurde. Das bezeichnet er als ein »Wunder«, meist aber nennt er es »Wende«, eben das »Wunder der Wende« (244).
Das Buch liest man gern. Zum einen bietet es Einblicke in die Arbeit eines westlichen Journalisten, der die manchmal auch eingeschränkte Möglichkeit hatte, aus dem Ostblock für die freien westlichen Medien zu berichten. Solche Korrespondenten wussten wohl immer, dass sie ihr Publikum nicht nur im Westen hatten, sondern auch im Osten gehört und gesehen wurden. J. zeigt, dass ihm eine Fülle von Daten zu Personen, Ereignissen und Konstellationen zugänglich war. Den kommenden Kollaps des Kommunismus haben auch solche Beobachter nicht geahnt. Doch im Nachhinein fügen sich die Mosaiksteine des Erfahrenen zu einen Gesamtbild. Auch die journalistischen Memoiren J.s bieten ein solches Bild, ein Bild mit einer Botschaft: »Die Christen als Wegbereiter der Wende«. Wenn J. die »Wende« als Revolution verstände, wäre ihm zuzustimmen, denn der Wegbereiter des Begriffs »Wende« war Egon Krenz.
Die Christen haben entscheidend zum revolutionären Ende des Kommunismus beigetragen. Die empirischen Daten zu dem Phänomen sind erdrückend. J. trägt sehr vieles davon liebevoll zusammen. Das macht das Buch überzeugend. Polen und der Papst Johannes Paul II. liefern ihm die meisten Beispiele. Aber auch die Rolle der Kirchen in der DDR oder in Rumänien wird anschaulich geschildert. Hier zeigt J. seine journalistische Erfahrung und die Kunst seines Handwerks. Sein Verdienst ist es, durch den Überblick über die jeweilige politische Bedeutung der Christen in der Revolution des Kommunismus anzuzeigen, dass es sich nicht um zufällige Konstellationen in den einzelnen Ländern handelte. Vielmehr wird deutlich, dass es in der Auseinandersetzung zwischen Chris­tentum und Kommunismus um einen grundsätzlichen kulturellen und zivilisatorischen Konflikt handelte, der in spezifischen nationalen und konfessionellen Gestalten offenbar wurde.
Da J. das Thema journalistisch anpackt und sich erstaunt an den Phänomenen festhält, die zum Staunen animieren sollen, fehlen übergreifende und erklärende Theoreme nahezu völlig. Das große Thema leidet daher etwas an Schwindsucht. Politologisch wird der Kommunismus nicht erklärt. Und die kultursoziologische Deutung der unerwarteten Geschichtsmächtigkeit der durch den Kommunismus in vieler Hinsicht beschädigten Kirchen bleibt aus. Stattdessen vermutet der Leser, dass J. alles nur Mögliche in eine etwas reduzierte Heilsgeschichte zwängt.
Solches findet sich etwa im Kapitel über den Papst und Gorbatschow »Wie das Wunder geschah«. Dort heißt es am Schluss (254): »Der eine (Johannes Paul II) hat die Wende angestoßen, der andere (Gorbatschow) hat sie zugelassen.« Abgesehen davon, dass ein solcher Satz Ausfluss einer Hofberichterstattung ist, verkürzt er das Problem. Tatsächlich steht der polnische Papst als exorbitantes Beispiel für die Unabhängigkeit und Unerreichbarkeit der Gesellschaft und deren Kultur von kommunistischen Konstruktionsexperimenten. Und Gorbatschow war ein Getriebener, der alles getan hat, um den Kommunismus zu retten. Er gewährte nur, was er angesichts der finalen Krise des Kommunismus gewähren musste. J. aber malt aus dem Verhältnis beider Persönlichkeiten eine Ikone, eigentlich weniger, ein Plakat, das die unverstandene Geschichte mit Sinn auflädt. Und es ist nicht untypisch, dass er an dieser Stelle lauter Vermutungen und Spekulationen anstellt, die Gorbatschows Verhältnis zur Religion betreffen. Beim Lesen erinnerte ich mich an die Erzählungen russischer Freunde, die glaubten, dass Stalin im Krieg heimlich vor den aus den Kirchen gestohlenen Ikonen für den Sieg gebetet hätte.
Das letzte Kapitel des Buches »Ohne Gott in Schrottgorod«, ist eine Reportage über die religiöse Verwüstung der kommunistischen Kunststadt Eisenhüttenstadt. Das unterstreicht das Paradox der Wirkung der christlichen Minderheit. Jetzt redet J. auch vom »Aufstand«, in dem Christus »mit seiner rettenden Macht« (329) gekommen sei. Einen solchen Satz trauen sich Theologen selten zu.