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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

701-704

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Saint Augustin

Titel/Untertitel:

Sous la direction de M. Caron avec des contributions de G. Antoni, E. Bermon, I. Bochet, A.-I. Bouton-Touboulic, M. Caron, P. Cambronne, J.-L. Chrétien, N. Depraz, D. Doucet, Th.-D. Humbrecht, H. Machefert, G. Madec (†), C. Michon, A. Pic, ph. Sellier, K. Trego, M.-A. Vannier. Avec deux textes inédits en français de J. Ratzinger - Benoît XVI et un œuvre de Saint Augustin.

Verlag:

Paris: Cerf 2009. 660 S. 8° = Les Cahiers d’Histoire de la Philosophie. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-2-204-08058-3.

Rezensent:

Karla Pollmann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Boeve, Lieven, Lamberigts, Matthijs, and Maarten Wisse [Eds.]: Augustine and Postmodern Thought. A New Alliance against Modernity? Leuven-Paris-Walpole: Peeters 2009. XVII, 277 S. m. 2 Abb. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 219. Kart. EUR 80,00. ISBN 978-90-429-2120-7.


Augustinus (354–430), Bischof von Hippo in Nordafrika, ist der einflussreichste frühchristliche Denker des lateinischen Westens. Manchmal wird die gesamte nachfolgende westliche Theologie als Fußnoten zu seinem Werk bezeichnet. Wenngleich dies wohl übertrieben ist, wird dadurch doch die bis in die Gegenwart reichende Wirkungsmacht Augustins anerkannt, die auch weit über die Theo­logie hinaus spätere Denker beeinflusst hat bzw. von selbigen als Autorität verwendet wird. Man denke besonders an die Gebiete der Philosophie (z. B. Geschichtsphilosophie, Ethik), Ästhetik, Linguistik/Semiotik, Politologie, Kunst, Literatur und Musik bzw. Musiktheorie. Es ist daher nicht verwunderlich, dass zu seinem Leben und Werk, sowie in geringerem Umfang zu dessen Nachwirkung, ein ungebrochener Strom von (mehr oder weniger) wissenschaftlichen Publikationen erscheint. Das Würzburger Augustinus-In­stitut erstellt verdienstvollerweise eine im Internet frei zu­gängliche Augustinus-Sekundärliteraturdatenbank, welche be­reits jetzt über 50.000 Titel enthält (http://www.augustinus.konkordanz.de). Die beiden hier zu besprechenden Neuerscheinungen sind von gutem wissenschaftlichen Niveau, weisen aber für die Augus­tinusfoschung insgesamt charakteristische Unterschiede auf.
In der durch den bei Les Éditions du Cerf arbeitenden Maxence Caron herausgegebenen Reihe Les Cahiers d’Histoire de la Philo­-sophie wurde, nach Hegel, Heidegger, Husserl und Kant, nun Augus­tin als zentraler Gegenstand gewählt. Wie bereits der Reihentitel deutlich macht, wird dabei besonderes Augenmerk auf die philosophischen Aspekte von Augustins Denken gelegt, worin gerade die französische Forschung eine stolze Tradition vorzuweisen hat. Der Band hat die erklärte Intention, diese Gedanken einer breiteren Leserschaft zu eröffnen (was auch der günstige Preis reflektiert), wobei sowohl übergroßes Spezialistentum als auch Oberflächlichkeit vermieden werden sollen. Zu diesem Zweck versammelt der Herausgeber fünf wiederabgedruckte und 14 eigens für diesen Band geschriebene Beiträge. Wohl marktwirtschaftlich motiviert sind die auf dem Titelblatt angekündigten »deux textes inédits en français de Joseph Ratzinger – Benoît XVI«, was nicht genügend verdeutlicht, dass es sich hierbei um erstmalige französische Übersetzungen von zwei auf Deutsch 1954 und 1957 erschienenen Aufsätzen handelt. Die am Ende (637–652) abgedruckte, durch Abt De­-voille erstellte französische Übersetzung von Augustins Traktat »Über den Glauben an die unsichtbaren Dinge« (De fide rerum invisibilium; entstanden um 400) soll noch einmal in den Worten Augustins selbst als Fazit die künstliche Trennung von Glauben und Vernunft widerlegen, welche im Christentum überholt sei; dies aufzuweisen, ist das Anliegen des Bandes insgesamt. Unklar ist, warum dieser Text Augustins im Avant-Propos als introuvable bezeichnet wird.
Die in dem Band abgedeckten Themen sind: Originalität und Überlieferung in Augustins Konzept der confessio, eine Einführung zu Augustins Psalmenkommentar, eine Analyse von De Trinitate, von Buch VII der Confessiones sowie der Verwendung der Begriffe creatio und formatio in den Confessiones, Körpersprache in Augus­tins Denken, der Zeitbegriff in Confessiones XI, Seele und Wille bei Augustin, der freie Wille bei Augustin, eine Analyse des pondus amoris aus Confessiones 13,9,10, Ursprung und Bedeutung von Augustins civitas-Lehre, eine Analyse seiner Geschichtsphilosophie in De civitate dei, der Aspekt der Schönheit in seiner Schöpfungstheologie sowie drei Beiträge zur Augustinrezeption (bei Thomas von Aquin; in der Literatur des 17. Jh.s; sein Zeitkonzept bei Denkern des 20. Jh.s), eine phänomenologische Relektüre der Confessiones sowie eine postmoderne Relektüre von Jesus als Anfang (Joh 8,25) im Lichte von Augus­tins Denken.
Auffallend ist der Mangel jeglicher gruppierender Unterüberschriften zu zusammengehörigen Beiträgen. Daher ist weder die Logik ihrer Auswahl noch die ihrer Anordnung erkennbar, mit Ausnahme der Tatsache, dass die Beiträge zur Augustinrezeption und die Relektüren am Ende stehen. Es gibt auch keinen Index, der bei der Erschließung des Bandes helfen könnte. Die Beiträge sind methodisch uneinheitlich. Zum Teil dominiert die Tendenz eines normierenden Zugangs zum Werk Augustins: Seine Gedanken an sich sollen deutlich werden, die als geschlossenes zeitloses System gesehen werden und teilweise als Augustinisme charakterisiert werden, ein Begriff, der jedoch in seiner Bedeutung keineswegs eindeutig ist und generell in der Wissenschaft nicht einheitlich gebraucht wird. Dabei wird, was bei einem philosophischen Zu­griff wenig überrascht, kaum auf den historischen Kontext der Werke und Gedanken eingegangen. Andererseits finden sich auch Beiträge, die eher deskriptiv-analytisch um die historische Einordnung von Augustins Gedankengut bemüht sind. Insgesamt sind die Beiträge von gutem bis sehr gutem Niveau.
Institutionell an der Universität Leuven verankert, präsentiert der zweite Sammelband durchweg Originalbeiträge, die auf einer 2006 in Leuven ausgerichteten Konferenz zum Thema des Buchtitels vorgetragen wurden. Anlass war die unerwartet prominente Rolle Augustins, der andererseits zuvor bereits als gestorben abqualifiziert worden war, in gegenwärtigen philosophisch-theologischen Debatten. Leuven kann als eines der Weltzentren für Theologie allgemein und für Augustinusforschung im Besonderen bezeichnet werden, wobei der hohe Grad an kritisch-analytischer Reflexion sowie historisches Bewusstsein besondere Markenzeichen sind, was auch für diesen Band gilt. Er ist thematisch unterteilt in: Trinität und Anthropologie (21–99), Augustin und Thomas von Aquin (103–165), Postmoderne Philosophie (169–207) sowie Politische Theologie (211–271), wobei die Auseinandersetzung mit postmodernen Denkern in allen Teilen das leitende Interesse ist. Ein fünfseitiger Namenindex schließt den Band ab. Auffallenderweise sind alle elf Beiträge von Männern geschrieben.
In einer sehr lesenswerten Einleitung (1–17) präsentiert Lieven Boeve eine intelligente und überzeugende Analyse der zwei Hauptformen von Augustinrezeption in postmoderner Philosophie und Theologie. Zum einen werde Augustin gegenwärtig als zeitloser Garant echter Werte angerufen, als Bollwerk oder Heilmittel gegen eine relativistische bzw. nihilistische Gegenwart. Zum anderen usur­pierten gerade postmoderne Denker Augustin als einen der Ihren, da er der Suche nach dem Ich mit der Auflösung des Ichs als dessen eigentliche Konstitution begegnet. Im ersten Hauptteil wird Augustins relationales Verständnis der göttlichen Trinität betont, in Widerlegung von Heideggers Hypothese einer christlichen Ontotheologie. Dann wird betont, dass in der neuplatonischen Tradition, der auch Augustin zum Teil folgte, übernatürliche Mystik eine große Rolle spielte, und nicht allein eine negative und apophatische Auffassung von Gott. Dann wird Augustins Christologie nicht als ontologische Vermittlung zwischen Gott und Mensch, sondern als moralische Reparation der Sünder durch den Inkarnierten definiert.
Im zweiten Hauptteil wird generell zu Recht die wichtige Rolle des Thomas von Aquin als häufiger Filter bei späterer Augustinrezeption berücksichtigt. Zuerst wird ausgeführt, dass Augustins These von der privilegierten Kenntnis der Seele vom eigenen Ich und seine Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Erkenntnis anderer Dinge in unterschiedlicher Weise von L. Wittgenstein u. a. übernommen wurden. Dann wird hypothetisch die römisch-katholische Theologie nach dem Zweiten Vatikanum als eine spannungsreiche Interaktion zwischen augustinischen und thomistischen Theo­logen beschrieben; hierbei ist die genaue Definition dieser oft sehr schwammig gebrauchten Begriffe (123) besonders lobenswert hervorzuheben. Der letzte Beitrag in diesem Teil widerlegt die postmoderne These, dass die gesamte Epoche der Moderne ab der Frühen Neuzeit durch nihilistische Säkularisierung gekennzeichnet sei, mit dem Hinweis auf ekstatisch-religiöse Zeugnisse des Barock. Im dritten Teil wird das Verhältnis der postmodernen Philosophie zu Augustin in den Blick genommen. Dabei wird zu Recht Heideggers wichtige Rolle für andere postmoderne Lesarten Augustins hervorgehoben. Im abschließenden Teil wird angestrebt, aus Augustins Werk, besonders seiner berühmten Schrift Vom Gottesstaat, aktuelle politische Einsichten aus christlicher Sicht zu gewinnen. Dabei ist auffallend, für wie viele verschiedene Anliegen der Gottesstaat bemüht werden kann: als pro Demokratie, als kulturkritisch, als politikfeindlich, als Modell für eine säkulare Gesellschaft, als die Kirche für die Gesamtheit der Gesellschaft öffnend. Die Erklärung für diese widersprüchlichen Interpretationen liegt, wie so oft in der Augustinrezeption, in einem konzeptionell anachronistischen und interessengeleiteten Gebrauch seiner im­mer noch vielenorts unhinterfragten oder erneut proklamierten Autorität. Generell auffallend ist die teilweise starke Polarisierung in der aktuellen Diskussion: neue Offenheit für die einen ist engstirnig für andere; Milbanks »postmodern critical Augustinianism« kann von seinen Gegnern als new traditionalism bezeichnet werden.
Besonders bemerkenswert an dieser Sammlung insgesamt ist ihr anfangs (XI) angekündigtes Doppelanliegen sowohl einer de­-skriptiven Analyse von vielen »Augustins« in der Rezeption als auch einer präskriptiven Fruchtbarmachung der Gedanken des (dann doch einen?) Augustin für eine Theologie »in search of recontextualisation« (XII). Abgesehen davon, dass man überlegen könnte, ob sich zwei solche Anliegen überhaupt homogen verbinden lassen, ist jedenfalls festzustellen, dass das erste Anliegen überzeugender durchgeführt wurde als das zweite. Aber dieser Band versteht sich als »work in progress«, und man kann auf weitere Ergebnisse der Leuvener Arbeitsgruppe sehr gespannt sein.
Was die beiden kurz vorgestellten Bände gemeinsam haben, ist das eigentlich in der Regel in der Augustinusforschung insgesamt zu beobachtende Engagement in der Auseinandersetzung mit ihrem Forschungsobjekt.