Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

698-700

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Gryson, Roger

Titel/Untertitel:

Scientiam Salutis. Quarante années de recherches sur l’Antiquité Chrétienne.

Verlag:

Leuven-Paris-Dudley: Peeters 2008. XLVI, 879 S. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 211. Kart. EUR 88,00. ISBN 978-90-429-1904-4.

Rezensent:

Thomas Graumann

Der Band versammelt 41 Studien des verdienten belgischen Forschers und Hochschullehrers Roger Gryson, die beinahe seine gesamte akademische Laufbahn von annähernd 40 Jahren an der Universität Louvain-la-Neuve repräsentieren und Zeugnis von einer reichen Schaffenskraft und regen Publikationstätigkeit ge­ben. Wie von G. gewünscht, und anstelle einer Festschrift zum 70. Geburtstag, macht die Sammlung zahlreiche Einzelstudien wieder zugänglich, die ursprünglich in 19 verschiedenen Zeitschriften bzw. Sammelbänden zwischen 1965 und 2001 abgedruckt sind. Die beigegebene umfassende Bibliographie mit insgesamt 116 Titeln ordnet die vorliegende Auswahl in den weiteren Zusammenhang seines Œuvres ein und erlaubt es dem Interessierten, den hier abgesteckten Wegmarkierungen weiter nachzugehen.
Eine von G. verfasste Einleitung verankert und illustriert auch biographisch und wissenschaftsgeschichtlich, wie es zur Ausformung seiner zentralen Forschungsinteressen kam, und beleuchtet die Entstehung einzelner Beiträge. Stil und Layout der hier versammelten Beiträge sind in ihrer originalen Form erhalten geblieben, doch tritt an die Stelle der ursprünglichen Paginierung eine durchgehende Seitenzählung, was es nicht immer einfach macht, von einer Zitation der Originalbeiträge zu der entsprechende Stelle des Sammelbandes zu gelangen. Man versteht, dass die Editoren sich angesichts von insgesamt 879 Seiten Text nicht zur Erarbeitung eines Index entschließen wollten – umso dankbarer wäre der Benutzer gewesen.
Die hier anzuzeigenden Aufsätze sind thematisch gruppiert, beginnend mit zwei Beiträgen zu den Apostolischen Vätern. Im Umfang wie in der Sache gewichtiger ist die folgende Gruppe mit acht Arbeiten zu Ambrosius von Mailand. Hier steht das Interesse am Verständnis des Priestertums im Vordergrund, beginnend mit einer terminologischen Studie zu den Bezeichnungen der verschiedenen Klerikergrade und Funktionen in dessen Werk. Die übrigen Beiträge in diesem Kontext analysieren die ambrosianische Exegese der mit dem Priestertum assoziierten alttestamentlichen Personen, Texte und Bilder: Melchisedek, Aaron und Levi sowie deren Kleidung und Attribute. Die Studien sind dem Umkreis der theologischen Dissertation von 1966 zuzuordnen, erschienen 1968 unter dem Titel »Le prêtre selon saint Ambroise« und führen deren Fragestellungen bis in die 1980er Jahre weiter.
In den Arbeiten zu Ambrosius kündigt sich bereits das zweite zentrale Thema von G.s Forschung an, die Fragestellung nach dem kirchlichen Amt in der Antike, hier vertreten mit neun Aufsätzen. G. fragt nach dem Ursprung des Zölibats und den Modalitäten der bischöflichen Wahl in Ost und West. Nicht aufgenommen sind hier die im engen zeitlichen Zusammenhang entstandenen Arbeiten zum kirchlichen Amt der Frau. Es ist interessant zu sehen, dass diese Arbeiten zum Teil geradezu als Auftragsarbeiten, angeregt vom Leuvener Kardinal Suenens, entstanden sind. Bei aller kirchenpolitischen Aktualität der Themen ist bemerkenswert, wie hier gleichwohl ein streng historischer Befund in einer Weise ausgebreitet wird, der jeder allzu raschen modernen Vereinnahmung sperrig entgegensteht.
Gleichfalls aus dem Umfeld des Interesses an Ambrosius er­wachsen ist die nächste Themengruppe zum sog. »lateinischen Arianismus« (acht Beiträge), ist es doch Ambrosius, dem in der entscheidenden Phase der Bekämpfung dieser Gruppierung, und zumal beim dafür ausschlaggebenden Konzil von Aquileia (381), eine überragende Führungsrolle zukommt. Ein seltener Glücksfall der Überlieferung hat hier in den Marginalien einer Handschrift die polemisch-kritische Würdigung des Konzils durch den unterlegenen homöischen Bischof Palladius erhalten. G.s Edition, mit französischer Übersetzung, dieser Marginalien als Scolies ariennes sur le Concile d’Aquilée für die Reihe Sources Chrétiennes (1980) bzw. zusammen mit weiteren arianischen Fragmenten aus einer Veroneser Sammlung und einem Bobbio Palimpsest als Scripta Arriana Latina in der Reihe Corpus Christianorum (1982) repräsentieren den Ertrag der hier getätigten Forschung. Sie bringen lange verschollene arianische Texte ans Licht. Die hier versammelten Aufsätze widmen sich im Kern kodikologischen, philologischen und paleographischen Problemen. (Dabei tritt auch eine teils scharf geführte Kontroverse mit der Editorin der im Briefkorpus des Ambrosius überlieferten Konzilsakten vor unsere Augen.) Hinzu kommen in dieser Gruppe eine Bestandsaufnahme der Quellen und eine historische Analyse des Konzilsgeschehens von Aquileia, die zudem in einem Musterbeispiel alternativer Ge­schichtsschreibung das »Plädoyer« und die Argumente des Palladius in einem fiktiven Generalkonzil (wie von Palladius gefordert, aber von Ambrosius durch einen kirchlichen Gerichtshof ersetzt) darlegen.
Einen Schwerpunkt von G.s Forschung vor allem der späteren Jahre repräsentieren vier Aufsätze zur Textkritik der lateinischen Bibel und acht weitere Beiträge speziell über den lateinischen Jesajatext und seine Kommentierung durch Hieronymus; zwei schließlich widmen sich der Rezeption der Apokalypse bei antiken lateinischen Kirchenschriftstellern. G. hatte die editorische Verantwortung für den Jesajatext im Rahmen der Edition der Vetus Latina übernommen (abgeschlossen 1997) und arbeitete parallel an der Edition des Hieronymuskommentars (erschienen 1993–99); die vorliegenden Aufsätze, zum Teil in Kollaboration mit Mitarbeitern und Koautoren vom Centre de recherches sur la Bible latine verfasst, erlauben einen detailreichen Einblick in die bibelphilologische und editorische Arbeit und in die daraus erwachsenen Einsichten. Hier wären etwa beispielhaft G.s Analysen zum tatsächlichen Umfang der Hebräischkenntnisse des Hieronymus und seiner Ab­hängigkeit von der Septuaginta zu nennen, die gelegentlich selbst dort hervortritt, wo er den Hebräischen Text zu benutzen beansprucht, oder seine Beobachtungen über die Diskrepanzen zwischen dem in der Kommentierung des Hieronymus vorausgesetzten Text und der in die Vulgata eingegangenen Version (etwa der »sechs« – nach dem Hebräischen Text – bzw. »sieben« – nach der Septuaginta und Vulgata – Gaben des Geistes in Jesaja 11).
Mit der Bibelphilologie in der zweiten Hälfte des Aufsatzbandes tritt zugleich einer der verbindenden Leitfäden aller Beiträge nochmals besonders deutlich hervor: Methodisch beruhen G.s Arbeiten sämtlich auf einer präzisen, detailgetreuen philologischen Analyse und Argumentation, ausgehend von der Inspektion und Kollation der Handschriften. Auch wo die Beiträge ein deutliches theologisches Interesse verraten, wird dieser streng philologisch-historische Zugang an keiner Stelle aufgegeben. So sind es denn auch wohl vor allem die Texteditionen G.s, die für nachfolgende Generationen von Forschern von herausragendem Wert bleiben werden. Die hier versammelten Einzelstudien erlauben manchen Einblick einerseits in die intensive Beschäftigung mit Spezialproblemen, die dieser Arbeit zugrunde liegt, andererseits in die aus der Editionsarbeit erwachsenen historisch-theologischen Einsichten. Für den Rezensenten bleiben dabei vor allem die Studien zu Ambrosius, speziell in den Auseinandersetzungen auf und im Umfeld des Konzils von Aquileia, von Interesse. Für den Historiker des Bibeltextes und der Schriftauslegung sind die Arbeiten zum lateinischen Jesajatext und zur Kommentierung des Hieronymus unverzichtbar.