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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

695-698

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Fischer, Norbert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Augustinus – Spuren und Spiegelungen seines Denkens. 2 Bde.

Verlag:

Hamburg: Meiner 2009. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reformation. X, 283 S. m. Abb. Bd. 2: Von Descartes bis in die Gegenwart. XI, 358 S. gr.8°. Kart. EUR 96,00. ISBN 978-3-7873-1929-9.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

»Glaube und Vernunft ... bestimmen das Grundverständnis der christlichen Theologie, insbesondere in ihrem Verhältnis zur Phi­losophie«, Augustins Werk ist die »erste große Synthese philosophischen und theologischen Denkens« (37 f.). Wer wollte das bestreiten? Ebenso unbestreitbar ist, dass kein abendländischer Theologe einen solchen Einfluss auf künftige Denker, seien es Theologen, seien es Philosophen, gehabt hat wie Augustin. Darum ist es sehr zu begrüßen, dass Norbert Fischer die »Spuren und Spiegelungen seines Denkens« durch die Jahrhunderte hindurch in zwei Sammelbänden verfolgen und dabei sachkundige Autoren zu Wort kommen lässt. Sicher trifft es zu, was unter einem Fresko in der Lateran-Bibliothek zu lesen ist: »Einige Väter sagen dies, andere jenes, dieser aber hat alles gesagt, in römischer Beredsamkeit tief gründende Erfahrungen verkündend« (IX). Sein Werk ist ein bis heute zu bewahrender Schatz, denkerisch eine Herausforderung, für manche eine lästige Bürde. Dass er später als »Lehrer der Gnade« betrachtet wurde, verengt sicher den Blick auf sein Gesamtwerk. Es kommen in 29 Beiträgen (zusätzlich zwei Einleitungen) etwa 50 Denker zu Wort, nicht nur ausgesprochene Augustinisten, sondern auch solche, die sich gegen sein Denken sperren.
Im 1. Band untersucht Karla Pollmann Aspekte der Augustinus-Rezeption bis auf Remigius von Auxerre und stellt fest, dass die Breite der rezipierten Passagen auffällt, man sich also nicht auf besonders beliebte Stellen beschränkte. Christian Göbel sieht bei Anselm von Canterbury im Verhältnis von fides und ratio eine enge Geistesverwandtschaft zum Kirchenvater, wenn es auch zutrifft, dass überhaupt die gesamte mittelalterliche Theologie in seiner Tradition steht. Auf Anselms Gnadenverständnis im Vergleich zu Augustin geht der Verfasser nicht ein. Lenka Karfikova hebt hervor, dass Abaelard zwar sein Denken nach den von Augustin entworfenen Grundlinien entwickelt, aber auf dessen Fragen immer eigene Antworten gibt. Andreas Grote untersucht die Rezeption der Arche-Exegese bei frühmittelalterlichen Denkern: Augustins Exegese bildet stets den Ausgangspunkt. Dieter Hattrup stellt zu Bonaventura fest: »Das Denken des hl. Augustinus wird aus dem begrifflichen in den ekstatischen Modus umgewendet – mit den Mitteln des Philosophen Aristoteles.« Augustinische Akzente in der Gotteslehre des Thomas von Aquin lautet das Thema bei Thomas Fliethmann: Auch wenn der Kirchenvater keine Sonderstellung im thomanischen Lehrgebäude einnimmt, so kommen doch in seiner Gotteslehre wesentliche Grundaussagen Augustins zum Tragen, nämlich die freie gnadenhafte Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung. Als differenziert sieht Hannes Möhle das Verhältnis von Duns Scotus zu Augustin. Scotus deutet ihn »in einer Weise, in der er mit den Voraussetzungen der Aristotelischen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie kompatibel wird«. Johannes Brachtendorf stellt fest, dass Meister Eckhart keinen Autor häufiger zitiert als Augustin, er aber gewisse Aspekte seines Denkens radikalisiert. So versteht er die Gott­ebenbildlichkeit des menschlichen Geistes nicht mehr »als Strukturentsprechung zur göttlichen Dreifaltigkeit«, sondern macht »den menschlichen Geist zu einem integralen Moment des göttlichen Sich-selbst-Denkens«, dies unter dem Einfluss des Dietrich von Freiberg. Rudolf Kilian Weigand stellt die Rezeption Augustins in der deutschen Literatur des Spätmittelalters dar, vor allem bei Hugo von Trimberg. In Predigten, Traktaten und in der Erbauungsliteratur wurde der Kirchenvater eifrig zitiert. Hermann Schnarr untersucht Augustins Denkfigur »docta ignorantia« bei Nikolaus von Kues. Als Platoniker fühlt er sich Augustin eng verbunden und benutzt ihn als Zeugen für sein philosophisches Bemühen um die rechte Gotteserkenntnis. Mit Recht hebt Schnarr hervor, dass der Begriff, der ja erstmals beim Kirchenvater zu finden ist und von Bonaventura benutzt wurde, von Nikolaus »auf das gesamte menschliche Erkennen ausgeweitet wird«.
Markus Wriedt fragt, ob die Rezeption Augustins bei Luther ein »produktives Missverständnis« sei. Er meint, dass Augustin für Lu­ther »eine unerwartete orthodoxe Bestätigung seiner reformatorischen Einsichten bot«, zu denen er selbständig gelangt war. Dies gilt vor allem für die Gnadenlehre. Es fällt auf, dass der Augustin-Rezeption bei Calvin kein Kapitel gewidmet ist, obwohl dieser für ihn »totus noster« war. Richard Augustin Sokolovski stellt fest, dass Jansenius »den Krieg seines Lebens, den gerechten Krieg für die Wiederherstellung der genuinen katholischen Gnadenlehre des ›Doctor Gratiae‹« geführt habe. Erich Naab stellt Beobachtungen zum Augustinismus nach Bajus und Jansenius an. Nur in diesem Beitrag wird das intensive Studium Augustins bei den mittelalterlichen Augustiner-Eremiten (Gregor von Rimini!) erwähnt.
In der Einleitung zum 2. Band merkt der Herausgeber an, dass »seit der Neuzeit ... sich die Qualität der Bezugnahmen auf Augus­tin« ändert, »aber nicht ihre Relevanz«. Es sind vor allem Philosophen, die in diesem Band in ihrem Verhältnis zum Kirchenvater dargestellt werden. Rainer Schäfer findet bei Descartes eine analoge Argumentation zu dessen »Cogito ergo sum«. Bei beiden sei die Skepsis »ein ständiger Begleiter in der philosophischen Selbstverständigung«. Mit Recht sieht Albert Raffelt in Blaise Pascal einen Schüler Augustins, obwohl er ein eigenständiger Denker sei. Hartmut Rudolph hebt die Nähe und Distanz von Leibniz zu Augustin hervor. Generell habe er seinen Schriften große Aufmerksamkeit ge­widmet und ihn bei sehr spezifischen Problemen konsultiert. Das gilt auch für seine Bemühungen um eine Kirchenunion wie für seine Lehre von der Theodizee. Er meint aber ebenso, bei ihm Widersprüche zu finden. Selbst bei Kant findet Norbert Fischer Augustinische Motive, doch könne man ihn nicht als Kenner Augustins bezeichnen. Vor allem im Vorsehungsverständnis sympathisierte Kant mit ihm. Wie bei den meisten neuzeitlichen Philosophen ist es aber die Zeit-Problematik, die Interesse findet. Das stellen Matthias Koßler zu Schopenhauer, Matthias Vollet zu Henri Bergson (Augustin als »Urheber der christlichen und modernen Zeitauffassung«), Peter Reifenberg zu Maurice Blondel (er denkt »in der Spur Augustins«), Friedrich-Wilhelm von Herrmann zu Husserl, Scheler und Heidegger (der zugleich Augustins Selbstauslegung als ein ständiges Versuchtwerden ansieht), C. Agustin Corti zu Jaspers (der aber seine Unterwerfung unter die kirchliche Autorität scharf kritisiert, jedoch die Kraft seines Denkens rühmt) und Jakub Sirovatka zu Paul Ricœur dar.
Für Schopenhauer ist aber auch Augustins Gnadenlehre wichtig; überhaupt hat er den Kirchenvater mehr und mehr schätzen gelernt. Die römisch-katholischen Theologen der sog. Tübinger Schule standen Augustin unterschiedlich gegenüber, stellt Johannes Schaber OSB fest. Einige wollten durch Rückbesinnung auf die Schrift und die Kirchenväter die Scholastik – für sie eine Barbarei – überwinden, so etwa Engelbert Klüpfel und Johann Baptist Hirscher. Differenzierter sehen Augustin Möhler und Staudenmaier; Letzterer sieht Vernunft und Offenbarung bei ihm nicht als entgegengesetzt, sondern als zusammengehörig. Ausführlich geht Martin Ohst den »Augustinus-Deutungen des protestantischen Historismus« nach. Während Ritschl und Kattenbusch Augustin als »Gewährsmann evangelisch-theologischer Lehrbildung den Abschied« geben und »ihn in dieser Funktion dem Römischen Katholizismus« zuschieben, widerspricht dem Hermann Reuter. Als »Glücksfall« der »protestantischen« Augustinforschung sieht Ohst Adolf von Harnack, der bei Augustin vor allem die »literarische Selbstdeutung« hervorhebt und darin ein Vorbild für Luther sieht, der »wirklich bis zum Kern seiner Frömmigkeit und seiner Theologie durchgedrungen ist«. Karl Holl diagnostizierte »eine unauflösliche Verschlingung von Sacheinsicht und Lebenserfahrung«. August Stahl nennt Rilke einen Bewunderer Augustins, Florian Bruckmann be­leuchtet die Rezeption des Kirchenvaters bei Derrida, vor allem der Confessiones in seiner Circonfession. Abschließend untersucht Cornelius Petrus Mayer OSA Augustin im Denken Joseph Ratzingers. Besonders wichtig sind dem Papst das Kirchenverständnis des Kirchenvaters und seine Spiritualität. Beiden geht es besonders um »die im Raum versammelte Gemeinde«. In zahlreichen Schriften und Vorträgen hat Ratzinger augustinische Themen behandelt.
Sicher ist die Zahl derer, die sich mit dem Denken des Kirchenvaters beschäftigt haben, viel größer. Die Auswahl bleibt, wie stets bei solchen Vorhaben, etwas zufällig. Sicher könnte man auch Philosophie- und Theologiehistoriker einbeziehen. Manche Themen bleiben (fast) völlig unberücksichtigt (Prädestination, Sakramentenlehre, die Lehre von den beiden civitates). Überhaupt geht es in den beiden Bänden mehr um Augustins Philosophie als um seine Theo­logie.
Nicht nur für Scheler ist Augustinus »der größte Denker des Chris­tentums«. Vielfältig sind die Anregungen, die sein Denken der Nachwelt vermittelt hat. Das gilt auch für unsere Gegenwart. Wenn der Herausgeber feststellt, dass seine Größe als Lehrer vor allem darin liegt, dass er ein Suchender war und seine Leser auf den Weg des Suchens geführt hat, so ist dem nur zuzustimmen. Augus­tinus wird auch weiterhin »ein wichtiger Lehrer des Abendlandes sein«.