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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

692-695

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rose, Christian

Titel/Untertitel:

Theologie als Erzählung im Markusevan­gelium. Eine narratologisch-rezeptionsästhetische Untersuchung­ zu Mk 1,1–15.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XII, 312 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe 236. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-149512-0.

Rezensent:

David du Toit

Bei dem anzuzeigenden Buch handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer von der Theologischen Fakultät der Christian-Al­brechts-Universität zu Kiel im Wintersemester 2006/07 angenommenen Dissertation. Die Arbeit soll der Frage nachgehen, »wie sich die Theologie des MkEv dar[stellt], wenn man die Christologie als ihren Schlüssel betrachtet« (21). Ziel der Untersuchung ist, »… zu untersuchen, wie der Autor, hier exemplarisch … Markus, durch sein Erzählen von Jesus Christus … seine Theologie entwickelt und wie diese sich darstellt« (60). Es »geht … um die Erhebung der mk › Theologie als Erzählung‹ [Kurs. D. d. T.] … Ziel der Arbeit ist die Untersuchung der ›Theologie der mk Christologie‹ …« (62).
Diese Fragestellung »entwickelt« der Vf. in zwei Schritten. Zunächst werden in Kapitel 1 (1–21) »forschungsgeschichtliche Schlaglichter« zum Themenkomplex des Verhältnisses von Theologie und Christologie des Neuen Testaments zusammengestellt. Dies erschöpft sich in einer recht unsystematischen Collage aus Zitaten aus der Forschung sowie Binsenweisheiten zum Thema. Vergeblich sucht man hier eine forschungsgeschichtliche Verortung der vorliegenden Untersuchung, die Markusstudien berück­sichtigt, die eine ähnliche oder verwandte Zielsetzung aufweisen (G. Guttenberger wird immerhin erwähnt [20]). In Kapitel 2 (»Me-thodische Überlegungen«, 22–44) werden in Aufnahme von vor allem Gerhard Lohfinks Aufsatz »Erzählung als Theologie« (1989) die Evangelien als narrative Christologien bestimmt, die dadurch aber zugleich narrative Theologien seien (40 f.). Unversehens und ohne nähere Begründung wird Lohfinks Erzählung als Theologie beim Vf. zur Theologie als Erzählung (Überschrift § 2.3, ferner dort 41, danach passim), obwohl das Argument dort nahelegt, die Be­zeichnung Lohfinks beizubehalten (dort heißt es nämlich, Erzählungen vermitteln, indem sie erzählen, Logos [sc. Theologie] als histoire).
Das ambitionierte Vorhaben versucht der Vf. in zwei Etappen einzulösen: zum einen durch »inhaltliche Textauslegungen« von Mk 1,1–15 und, trotz des Subtitels, auch 1,21–28; 2,1–12; 9,2–13; 15, 33–41 (Kapitel 5 und 6; 63–249), in denen gezeigt werden soll, »wie … Markus durch sein Erzählen von Jesus Christus … seine Theologie entwickelt« [60]), sowie zum anderen durch eine kurze, zusammenfassende Darstellung der narrativ-christologischen Theologie bzw. »Theologie als Erzählung« des Mk (Kapitel 7.1–3; 250–266).
Vorbereitet wird dieser Ansatz durch zwei methodische Vorentscheidungen: Um die Kategorie des Erzählens methodisch in den Griff zu bekommen, greift der Vf. zunächst G. Genettes Definition der Erzählung im Sinne ihrer fundamentalen Konstituenten récit, histoire und narration auf (§ 2.2.2; 31–34, s. 40–44.54 f.66 f.110.112 f.116 f.132 für weitere Aspekte der Theorie Genettes). Ferner entscheidet er sich (in Aufnahme der Entwürfe von M. Mayordomo-Marín und D. Dieckmann) für einen rezeptionsästhetischen Ansatz (Kapitel 3; 45–60). Dem Vf. zufolge bedeutet die Verbindung von narratologischen und rezeptionsästhetischen Fragestellungen, »den Kommunikationsprozess in seinen verschiedenen Instanzen oder Etappen zu analysieren« (62), d. h. nicht nur nach récit und histoire zu fragen, sondern danach, »wie seine (sc. des Autors) histoire den Rezipienten … erreicht und was der récit bei dem Rezipienten bewirken könnte« (ebd.). Dafür, dass das Buch die Begriffe Narratologie und Rezeptionsästhetik im Titel führt, ist die theoretische Grundlage der Studie bemerkenswert schmal: Re­zeptionsästhetische Theorien werden nur indirekt über die ge­nannten Gewährsmänner rezipiert. Für die Narratologie wird zwar direkt auf Genettes Erzähltheorie zurückgegriffen, Kritik an Genettes Ansatz wird aber nicht berück­sichtigt, und die Entwicklungen in der Narratologie seit 1980 werden gar nicht beachtet, obwohl durch den »cognitive turn« sich gerade im Bereich der rezeptionsorientierten Narratologie viel getan hat.
Mehrfach bekommt man den Eindruck, dass der Vf. die Theorie Genettes nicht im Griff hat. Dies ist besonders augenfällig, wo der Vf. von »Metalepse« redet (vgl. bes. 198 zu Mk 2,9 f. – es handelt sich um Erzählerkommentar, s. auch 103.110.266 – dass Gott in Mk 1,2 f. auch die Rezipienten direkt anredet, ist durch nichts angezeigt, in der christologischen Deutung des Vf.s von V. 2 f. durch das Pronomen σοῦ unmöglich). Die Verwendung des Terminus »er­zählte Zeit« (ähnlich auch histoire) wird mehrfach anders als von Genette verwendet: Genette hätte den Satz »Diese … Szene [= 1,1–3] liegt im Ganzen außerhalb der erzählten Zeit« (93, s. jedoch 101, wo das Gegenteil behauptet wird!) so nicht sagen können; gemeint ist wohl »außerhalb der Basissequenz der Erzählung«. Auch die Bemerkung, die Rede Jesu in Mk 2,1 ff. sei im Ge­-netteschen Sinne »mimetisch«, die der anderen Figuren »narrativiert« (198), ist schlicht falsch (vgl. auch 67). Unsinnige Sätze wie z. B. »Termini …, die für die histoire eine Wirkung entfalten, die über den récit hinausgeht« (121; nach Genette ist die histoire das logische Implikat des récit) oder »Die narration umfasst … 41 Wörter« (ebd. – nur Text, also récit, kann in Genettes Konzeption Wörter umfassen) oder »so lässt sich in der Terminologie G. Genettes sagen: Mk 1,14 f. ist die histoire des mk récit« (259, s. auch 261.263.266), sind nicht dazu angetan, das Vertrauen in die theoretische Kompetenz des Vf. zu stärken.

Die Textauswahl begründet der Vf. damit, dass der rezeptionsästhetische Ansatz bedingt, dass der Anfang des Mk, in dem »eine Reihe von wichtigen Grundeinstellungen des Textes im Blick auf die Rezipienten vorgenommen werden« (60), ins Zentrum der Untersuchung rücken muss: Der größte Teil des Buches ist Mk 1,1–15 gewidmet (63–163 = Kapitel 5: Grundlagen; 6.1.–6.5: Auslegung). »Exemplarisch« (58) werden noch die erste Wundererzählung in 1,21–28 (§ 6.6; 163–178), das erste Streitgespräch inkl. des ersten Menschensohnworts (§ 6.7; 178–204) sowie als »Säulen der Gesamterzählung« (58) die Gottessohn-Perikopen Mk 9,2–13, 15,33–41 (§§ 6.8–6.9; 204–49) dazugenommen.
Die »inhaltlichen Textauslegungen« bestehen stets aus einer »Analyse des Abschnitts« in der Form einer fortlaufenden, synchronen Textauslegung sowie »rezeptionsästhetischen Beobachtungen«, in denen jeweils nach der Gestaltung des récit sowie nach den Bedingungen der Rezeption des récit gefragt wird (62, s. auch 97f.). Diese Auslegungen können hier nicht detailliert besprochen werden. Generell kann aber festgehalten werden, dass (mit der Ausnahme der Erörterungen zu Mk 1,1–3) kaum innovative Ergebnisse erarbeitet werden. Vielfach lassen die Analysen die Akribie vermissen, die eine schlüssige Argumentation erfordern würde. Wenn man ferner erwartet, dass in den sog. »rezeptionsästhetischen Beobachtungen« etwa die impliziten Voraussetzungen und Bedingungen möglicher Lektüren (z. B. enzyklopädische Kompetenz, Lektürekompetenzen und -strategien, erforderliche Relektüren usw.) freigelegt würden, ist Enttäuschung vorprogrammiert.
Zum Teil liegen im exegetischen Handwerk eklatante Schwächen vor. So werden bei der Analyse von Mk 1,2 (83 f.) als Intertexte nur die LXX-Versionen von Ex 23,20 und Mal 3,1 berücksichtigt, und aufgrund dessen wird ein primärer, intertextueller Bezug auf Ex 23,20 behauptet! Die Fassungen des hebräischen Textes sowie eine griechische Fassung von Mal 3,1, die wohl in Q (Lk 7,27/Mt 11,10) rezipiert wurde, werden ausgeblendet, obwohl Mk 1,2 dem hebräischen Text bzw. einer griechischen Fassung von Mal 3,1, wie sie in Q vorliegt, eher entspricht. Ebenso werden bei der Analyse von Mk 1,11b (142 f.) nur die LXX-Versionen von Gen 22,2.12.16; Ps 2,7; Jes 42,1 als mögliche Intertexte berücksichtigt. Die hebräische Fassung von Jes 42,1 und die von Mt 12,18 bezeugte griechische Fassung, die dem Text von Mk 1,11b in mehreren Punkten nahestehen, werden gar nicht erst erwähnt. Obwohl παῖς und υἱός eng sinnverwandte Begriffe sind, die zum Teil synonym verwendet werden, wird ein möglicher intertextueller Bezug zu Jes 42,1 mit dem süffisanten Hinweis abgetan, es gehe in Mk 1,11 gar nicht um einen Knecht (143). Dies ist leider charakteristisch für die Vorgehensweise des Vf.s: Textprobleme werden übersehen, verschwiegen oder um­schifft, konträre Argumente häufig nicht ernst genommen.
Die Spitzenaussage des Vf.s ist, Gott sei bzw. zeige sich als »Hermeneut seines Evangeliums« (vgl. 7.3; bes. 261.266). Diese Aussage bereitet der Vf. mit seiner Auslegung von Mk 1,1–3 (77–122) vor. Folgende exegetische Entscheidungen trifft der Vf. dort: 1. Mk 1,1–3 bilde eine syntaktische Einheit bzw. einen Satz (83–89); 2. ἀρχή sei polyvalent und referiere einerseits auf »den Anfang des Vortrags über Jesus Christus«, andererseits auf »den Anfang des Ereignisses Evangelium, das von Gott initiiert wird«, bzw. »Jesus Christus selbst« (81.99–102); ferner bezeichnet der Vf. auch Mk 1,1–15 als »An­fang« (83); 3. »Evangelium Jesu Christi/Gottes« in 1,1.15 würden der Univozität wegen beide als genitivus subjectivus verstanden, wobei Ersteres aus späterer, nachösterlicher Perspektive von einem genitivus objectivus überlagert werden könne (79–83.99); 4. in Mk 1,2f. liege Gottesrede vor, Adressat sei sein Sohn (85, öfters als Ge­spräch[sszene] bezeichnet, vgl. 100.102.111). 5. Aus diesem »Vorgespräch« folgert der Vf., dass zwar nicht angemessen von einer Prä­-existenz Jesu gesprochen werden kann, wohl aber von einer in der Prognosis Gottes gründenden Proousie (89–96). Entscheidend für die hier entwickelte These von Gott als Hermeneuten des Evangeliums ist nun ein eigenartiger Kunstgriff, den der Vf. dem Evangelisten unterstellt, nämlich dass Gott als eingeführte Erzählfigur (109.116) durch Selbstzitat rede, indem er (Gott!) die Schrift zitiere (85.93 f.107 f.109 f.116–118). Dadurch werde Gott, der sein Evangelium richtig verstanden wissen will und sich darum direkt an die Rezipienten wendet, damit diese in das Evangelium Gottes eingeführt werden, zum Hermeneuten der Erzählung (118.122), so dass Mk 1,2 f. als »theologische Überschrift über das ganze Evangelium« zu betrachten sei (108). Analog zu Gott werde auch Christus zum Erzähler des Evangeliums (122).
Wie an anderen Stellen werden auch hier die Probleme des Textes »glattgebügelt«: Dass κύριος im Mk für Jesus nicht titular verwendet wird, wird gar nicht bedacht, ebenso auch nicht, dass πρὸ προσώπου σοῦ streng genommen keine chronologische Deutung im Sinne von vorher – nachher nahelegt. Die Referenz des Pronomens σοῦ auf den Sohn wird für selbstverständlich gehalten, obwohl dies die eigentliche Crux der Intertextualitätsproblematik an dieser Stelle bildet. Dass der Bezug von κύριος auf Jesus dadurch »zwingend« würde, dass in V. 3 τοῦ θεοῦ ἡμῶν LXX durch αὐτοῦ ersetzt wird, ist kurzschlüssig. Vor allem aber bleibt völlig unklar, inwiefern hier überhaupt die Rede davon sein kann, dass Gott sich selber zitiert. Bedingung einer solchen Auslegung wäre, dass die Zitationsformel Teil der Gottesanrede an den Sohn wäre. Dies ist aber durch nichts angezeigt, der Erzähler zitiert explizit die Schrift und so nur mittelbare Gottesrede. Es handelt sich also um ein komplexes Problem antiker Schrifthermeneutik, das sich nicht mit einem »Himmelsszenemodell« erklären bzw. aushebeln lässt. Da­rum ist es auch bedauerlich, dass der Vf. in einer explizit als rezeptionsorientiert bezeichneten Studie nicht darlegt, welche Lektürestrategien bei dem Rezipienten für eine solche Lektüre nötig wären. Was hätten antike Rezipienten in lesetheoretischer Sicht leisten müssen, damit eine solche Deutung gelingen könnte?
Das Buch endet mit den üblichen Verzeichnissen und Registern (268–312).