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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

690-692

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Neumann, Nils

Titel/Untertitel:

Lukas und Menippos. Hoheit und Niedrigkeit in Lk 1,1–2,40 und in der menippeischen Literatur.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 384 S. m. zahlr. Abb. u. Tab. gr.8° = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 68. Geb. EUR 69,90. ISBN 978-3-525-53965-1.

Rezensent:

Manfred Lang

Die Arbeit ist eine von Paul-Gerhard Klumbies betreute Dissertation, die der idealen Rezeption der lukanischen Geburtsgeschichte nachgeht. Nach einer Einleitung, die Perspektive, Methodik und These benennt, wird in Kapitel 1 der Wechsel von Vers und Prosa anhand von Lk 1,1–2,40 analysiert. Diesem Kapitel folgt der struk­-tur­analytische Abschnitt, der die Gesalbtenerwartung und Herrscherverehrung und den Verlauf der Erzählung selbst darstellt. Das folgende Kapitel greift auf die menippeische Literatur zurück, um das Profil des Textes in seiner diachronen Struktur zu erheben. Fazit und Ausblick bilden den Abschluss der Analyse. Zwei Anhänge zum charakteristischen Vokabular der LXX wie der entsprechend nach Vers und Prosa gedruckte Text von Lk 1,1–2,40 bilden die Brücke zum Literaturverzeichnis und dem Stellenregister.
Ausgesprochen knapp erfolgen die Darlegungen zur Methodik, die sich der Rezeptionsästhetik verpflichtet weiß und dezidiert danach fragen will, wie »der Text selbst die Rezeption seiner intendierten Leserinnen und Leser« (10) steuert. Dabei ist für den Vf. die formale Differenzierung zwischen Vers und Prosa in rezeptionsästhetischer Sicht genauso relevant wie der Aufweis inhaltlicher Schwerpunkte, die sich aus der Lektüre des Textes ergeben. Methodische Anleihen nimmt der Vf. weiterhin aus dem New Literary Criticism und dem Konstruktivismus. Ist somit der texttheoretische Rahmen gesteckt, greift dann der Vf. auf kultursemiotische Fragestellungen im Gefolge von Umberto Eco und Stefan Alkier zu­rück. Im Detail geht es dem Vf. darum, die ideale Leserschaft mit ihrer kulturellen Enzyklopädie vor dem diachron ermittelten antiken Ky­nismus (menippische Literatur) darzustellen und Plausibilitätsstrukturen aufzuzeigen. Die in Lk 1 f. selbst zugrunde liegende Verwendung versförmiger wie prosaischer Passagen nötigt hinsichtlich der rezeptionsästhetischen Perspektive zur Differenzierung. Kriterien werden anhand des Musterfalls aus Ps 34 (33 LXX) er­mittelt und auf Lk 1 f. angewandt (20–62.62–112). Diese mittels eigener wortstatistischer Berechnungen erhobenen Kriterien kommen zu dem Schluss, dass eine Übereinstimmung bei mehr als 50 % anzunehmen ist (vgl. 82). Hinsichtlich einer möglichen Wahrnehmung einer solchen Versform verweist der Vf. auf bekannte Argumente (Parallelismus, charakteristisches Vokabular, intertextuelle Referenz, stilistisches Merkmal und Kontext; 63), die dann im weiteren Verlauf behandelt werden. Das Ergebnis dieser Analysen ist ein »hochfrequentes Hin und Her zwischen prosaischen und versförmigen Passagen« (112).
Im zweiten Kapitel wird die Textanalyse unter dem Gesichtspunkt des Spannungsbogens durchgeführt (113–202), wobei u. a. betont wird, dass eine Trennung zwischen hellenistischer und jüdischer Herrscherverehrung im Rahmen der Rezeption mit Verweis auf die Vespasian-Darstellung des Josephus nicht sinnvoll sei (126 f. mit Anm. 106). Ankündigung und Erfüllung wechseln in dieser Perikope ab und prägen diese. Dabei kommt der Beschreibung der »Rolle Jesu« (197), die im weiteren Verlauf vorgestellt wird, eine entscheidende Bedeutung zu: Die individuelle Prägung des Rezipienten ist entweder für die jüdische oder für die hellenistische Denotation der Herrscherverehrung verantwortlich zu machen. Diese politische Farbe tritt im weiteren Verlauf der Analyse immer wieder hervor.
Die zuletzt genannte mögliche Denotation tritt nun in den Vor­dergrund, wenn der Vf. in Kapitel 3 auf die menippeische Literatur zu sprechen kommt (203–308). Die auf den kynischen Philosophen Menippos von Gadara (3. Jh. v. Chr. in Syrien) zurückgehende Literatur eignet sich für diesen Rückgriff in besonderer Weise: Auch sie zeigt ein Wechselspiel von Vers- und Prosaform; zugleich hat diese Literatur in der sachlichen Entfaltung dort einen wichtigen Konvergenzpunkt, wo es Anliegen kynischer Philosophie ist, die geltenden Wertvorstellungen zu konterkarieren, und der Zusam­menhang von Leben und Lehre durchzieht die kynische Philosophie konstitutiv. Vorzugsweise werden elf Texte von Lukian und Senecas Apocolocyntosis als Materialbasis unter den Fragen herangezogen, welche charakteristischen Motive verwendet werden, welche Darstellungsmittel angewendet werden und wie der Text den idealen Leser anspricht. Ein zwölf Punkte umfassendes Inventar, das die Vielfalt der menippeischen Literatur vor Augen stellt, benennt zusammenfassend die Konvergenzen mit Lk 1 f. (288–308): »Jesus erscheint als wahrer Herrscher und σωτήρ, der in einen nied­rigen sozialen Status hinein geboren wird. Seine Armut begüns­tigt aber seine an der Weisheit ausgerichtete Lebensführung, und diese wiederum macht ihn zum wahren Befreier.« (308)
Fazit und Ausblick (309–320) mit zwei Anhängen zur Wortsta­tis­tik und zur typographischen Präsentation von Lk 1,1–2,40 be­schließen den darstellenden Teil der Arbeit, ehe Quellen, Literatur und Software sowie Stellenregister (348–384) die notwendigen formalen Hilfsmittel bereitstellen.
Die These, wonach die menippeische Literatur für Lk 1 f. eine wichtige Folie für eine mögliche Rezeption des Textes bereitstellt, gewinnt durch die profunden und tiefgehenden Argumentationen Dringlichkeit. Nicht zuletzt die Konvergenzen auf den Feldern »Form und Inhalt« sind in ihrer Interdependenz sinnvoll herausgearbeitet. Die intendierte Leserschaft wird vorzugsweise im helle­nis­tischen Judentum ausgemacht, weil sowohl jüdische wie hellenistische Kompetenz erwartet wird.
Als Errata sind nur die Seiten 119.291 notierenswert, wo die hebräischen Lexeme von links nach rechts notiert worden sind.
Folgende sachliche Rückfragen zur Arbeit lassen sich formulieren. Zu­nächst zur Methodik: Der Vf. meint, das »Faktum, dass Jesus Widerspruch erfährt, sollen die Lesenden als einen Beleg für seine Würde als königlicher Gesalbter bzw. verehrungswürdiger Herrscher werten. Auf diese Weise erfüllt Simeons Prophezeiung vom σημεῖον ἀντιλεγόμενον sich automatisch selbst. Widerspruch dient ihr als Beweis für ihre Richtigkeit« (201). Gibt es einen solchen »Beweis«, der sich als »richtig« zeigen lässt, im Rahmen rezeptionsästhetischer Fragestellungen sinnvollerweise? Hier fällt der Vf. m. E. hinter sein eingangs genanntes Fragen zurück, was dort noch von »Möglichkeiten« geprägt war. Hier hätte insgesamt in methodischer Hinsicht mehr als nur die dreieinhalbseitige Einleitung geboten werden müssen.
Hinsichtlich der vom Vf. stark gemachten hebräischen Unterscheidung von Vers und Prosa bin ich mir nicht sicher, welche rezeptionsästhetische (!) Relevanz diese ganz formale Differenzierung hat, zumal der Vf. selbst im weiteren Verlauf auf die LXX verweist. In diesem Zusammenhang wird die computergestützte Wortstatistik ihre Argumentationskraft ein gutes Stück einbüßen, weil diese formale Differenzierung in syntaktischer Perspektive noch nichts über den Gebrauch eines semantischen Feldes sagt. Wer hier im Übrigen zu tragfähigen Argumentationen gelangen will, sollte die Qumran-Literatur (z. B. 11QPs) nicht vernachlässigen, weil hier z. B. die hebräische Handschrift keineswegs mit jeder Zeile auch einen neuen Vers bringt und somit die genannte Unterscheidung von Vers und Prosa in neutestamentlicher Zeit nicht durchgehalten worden ist. Das führt ganz grundsätzlich zur impliziten These, wonach der Vf. davon auszugehen scheint, es gebe sowohl einen prosaischen wie poetischen Sonderwortschatz. Einen solchen stellt er argumentativ jedoch nicht triftig genug vor. Ist darüber hinaus die sachliche Entfaltung lukanischer Christologie derart auf die ethische Dimension zu verkürzen, wie sie oben im Zitat auf S. 308 wiedergegeben worden war? Lukas entwickelt seine Christologie mit 4,16–30 (bes. 4,18): Jesus ist der Geistträger, der eine »neue Zeit« einläutet. Damit verbunden ist die weiterführende kri­-tische Bemerkung zu diesen Analysen: Das übrige LkEv kommt zu wenig in den Blick, so dass die genannte Verkürzung nicht ausbleiben kann, jedoch durch kompositionsgeschichtliche Schlussbemerkungen hätte vermieden werden können.

Die Arbeit überzeugt in ihrer inhaltlichen Entfaltung. Es bleibt zu wünschen, dass die hier eingeführte kulturhistorische Perspektive der menippeischen Literatur auf andere Passagen des LkEv angewendet wird. Die hier vorgelegte Studie liefert dazu jedenfalls das geeignete Rüstzeug.