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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

686-687

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Koester, Helmut

Titel/Untertitel:

Paul & His World. Interpreting the New Testament in Its Context.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 2007. XVI, 301 S. gr.8°. Geb. US$ 39,00. ISBN 978-0-8006-3890-0.

Rezensent:

François Vouga

Helmut Koester veröffentlicht in zwei Bänden eine Auswahl von Aufsätzen, die im Laufe des letzten halben Jh.s erschienen sind. Den beiden ist der programmatische Untertitel gemeinsam: »Interpret­ing the New Testament in Its Context«. Der erste ist der Jesus-Tradition gewidmet (»From Jesus to the Gospels«), der zweite zeichnet einen breiten Kreis um die Paulusbriefe und ihr Umfeld.
Dieser zweite Teilband enthält die englische Übersetzung eines unveröffentlichten Essays über Thomas Jefferson, Ralph Waldo Emerson, das Thomasevangelium und den Apostel Paulus, das 2006 als Vortrag an der Humboldt-Universität gehalten wurde (195–206), eine wissenschaftliche Autobiographie (279–290) und die zum Teil revidierte englischsprachige Wiederveröffentlichung von 23 Aufsätzen, die zwischen 1955 und 2004 in deutsch-, englisch- und französischsprachigen Zeitschriften und Festschriften veröffentlicht worden waren. Die autobiographische Skizze erklärt die Kohärenz des Bandes.
K. stellt seine Laufbahn als die nicht geplante Abfolge von glück­lichen Begegnungen dar, die ihn von einer interpretativen Herausforderung zu der nächsten geführt haben: Marburg und Bultmann, Heidelberg, der Kreis der Bornkamm-Schüler und die fachliche Erweiterung des Interesses auf die frühe Kirchengeschichte (von Campenhausen) und Qumran (Kuhn), der Ruf nach Harvard und die neuen Freundschaften mit Wilder, Nock, Stendahl, die Zusammenarbeit mit Robinson, die Veröffentlichung der Texte von Nag Hammadi und noch, parallel zu den hermeneutischen Diskussionen, die Entdeckung der Archäologie. Der Berliner Vortrag kann als theologisches Programm gelesen werden: Der dritte Präsident der USA rekonstruierte aus den drei ersten Evangelien eine Auswahl von Sprüchen, die die moralische Lehre Jesu ohne Wundererzählung und ohne Passionsgeschichte zusammenfass­te und die nicht nur auffällige Parallelen im Thomasevangelium, sondern auch religiöse und politische Entsprechungen bei R. W. Emerson, einer der Gründungsfiguren der unitarischen Theologie, hat. Diese pietistisch-individualistische Vorstellung der Religion hat zu einem Missverständnis des Paulusevangeliums ge­führt, das die Problematik der Rechtfertigung des Einzelnen statt der neuen, eigentlich paulinischen Betonung einer universalen und solida­rischen Gemeinschaft, die allein politisch relevant sein kann, zum Zentrum macht.
Die gesammelten Aufsätze werden in drei Kapiteln sortiert. Unter dem Titel »Reading Paul: His Letters and their Interpretation« (3–90) enthält der erste Teil einen Aufsatz über die Gerechtigkeit Gottes, der sich an die Thesen von Stendahl anschließt (2004), fünf epistolographische, textkritische und archäologische Untersuchungen, die die Vorbereitung eines Kommentars der Thessalonicherbriefe begleiteten (1979–1985), eine Besprechung von Ulrich Wilckens Weisheit und Torheit (1961) und zwei provokative Essays über den Tod und das Grab des Paulus in Philippi (1998–2001). Ein besonderes Interesse verdient die Beobachtung, dass Paulus die Briefform aufgenommen hat, um eine in der Antike unbekannte Gattung der religiösen Kommunikation zu bilden, die eine gegenseitige und gleichberechtigte Anerkennung des Apostels und der Adressaten herstellt. In dieser Hinsicht darf die Bedeutung des 1. Thessalonicherbriefes als Prototyp der späteren Briefe nicht übersehen werden (15–32).
Die Einheit des etwas längeren zweiten Teils ist weniger evident. Zu der Welt des Paulus (»Reading Paul’s World: The Cultural and Religious Environment«, 91–191) gehören zunächst drei thematische Entwürfe zur Verdrängung des königlichen Messianismus durch den jesajanischen Gottesknecht in der Christologie des Paulus, des Markus und des Matthäus (93–117), zur problematischen Rezeption der Figur des Theos Aner in der christlichen Geschichte (118–125) und zum erst von Philo entwickelten Begriff des Naturgesetzes (126–142), dann archäologische Belege für die Verbreitung ägyptischer Kulte in Asien (143–159.160–167) und in Pergamon (168–176) und abschließend zwei einzelne Untersuchungen zu einer Inschrift in Makedonien (Lefkpetra, 177–179) und zum Melikertes-Palaimon, dem römischen Heiligtum eines Mys­terienkultes in Isthmia (180–191).
Der dritte Teil (»Reading Early Christianity«, 195–290) befasst sich einerseits mit einzelnen Fragen der Forschungs- und der Rezeptionsgeschichte (nicht nur Jefferson und das Thomasevangelium, sondern auch Bultmanns Beitrag zur Religionsgeschichte, 267–278), andererseits mit der Geschichte des Christentums der ersten Jahrhunderte: die Vielfalt der theologischen Produktion in Ephesus (von Paulus bis Ignatius, 251–265), die Kluft zwischen Schrift und Geist in der Bildung des Kanons (207–223), das Argument der apostolischen Tradition als Erfindung und als Selbstdefinition der frühchristlichen Gnosis (ein klassischer Text, der 1987 in der RThPh auf Französisch erschienen war, 224–237) und die Neudefinition der Unterscheidung zwischen Rechtgläubigkeit und Ketzerei von der Aufgabe her, das Kreuz Christi zu verstehen (238–250): Seit der deutschen Erstveröffentlichung in Zeit und Geschichte (FS Bultmann, 1964) und hinsichtlich der theologischen Diskussion in den USA (Crossan, Mack) hat diese These an Brisanz stark gewonnen.
Der kürzeste Beitrag (266) bietet eine englische Übersetzung der ersten akademische Veröffentlichung von K.: eine zusammen mit Klaus Baltzer verfasste und 1955 in ZNW erschienene Notiz über die Vorstellung des Jakobus als Oblias (Hegesippus, zitiert bei Euseb, HE 2,23,7).