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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

682-684

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Glaser, Timo

Titel/Untertitel:

Paulus als Briefroman erzählt. Studien zum antiken Briefroman und seiner christlichen Rezeption in den Pastoralbriefen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 376 S. m. 6 Tab. gr.8° = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 76. Geb. EUR 65,00. ISBN 978-3-525-53389-5.

Rezensent:

Martina Janßen

Die von Angela Standhartinger betreute und im Wintersemester 2007/2008 an der Philipps-Universität Marburg angenommene Dis­sertation von Timo Glaser leistet einen Beitrag zu drei gegenwärtig diskutierten Forschungsgebieten, nämlich zu der narratologisch-komparatistischen Texterschließung, der Briefromanforschung und der Pastoralbriefexegese, deren Konsens aktuell in Frage steht (vgl. ThLZ 129 [2004], 1267–1282). G. versucht die »Frage nach der Gattung der Pastoralbriefe neu zu stellen« (324). Wie der Titel »Paulus als Briefroman erzählt« bereits impliziert, liest G. die Past auf dem Hintergrund antiker (und neuzeitlicher!) Briefromane. Durch diese Deutung des Corpus Pastorale könnte der brüchig gewordene Konsens wieder gefestigt und zugleich eine neue Lesestrategie eröffnet werden.
Abgesehen von Einleitung (13–31) und Rückblick (323–329; Literaturverzeichnis und Register: 330–376) enthält die Studie zwei Hauptteile. Im ersten Teil »zur Gattung des antiken Briefromans« (32–167) legt G. seinen Gattungsbegriff dar, wobei er die Gattungstypologie von N. Holzberg (1994) unter Rückgriff auf Wittgensteins Sprachtheorie der Familienähnlichkeiten weiterentwickelt (»Das, und Ähnliches, nennt man ›Spiele‹« [32] bzw. in G.s Modifikation »Das und Ähnliches, nennt man ›Briefroman‹« [166.325]). Als Briefroman gilt jeder Text, »in dem Briefe das primäre Medium zum Aufbau einer Geschichte bilden« (37); Ausschlusskriterien gibt es praktisch keine (167). Die fluide Gattung kann »je nach Sinn und Geschmack des Verfassers wie nach thematischen und gesellschaftlichen ›Erfordernissen‹ für die Textgestaltung akzentuiert werden« (168). Im Anschluss an gattungstheoretische Erwägungen samt Quellenüberblick (32–63) und drei Vertiefungen am Briefroman des Aischines (63–83), des Euripides (83–113) und dem Briefroman um Sokrates und Sokratiker (113–156) folgt eine Bestimmung des literarischen Ortes der Gattung (156–167), die verschiedene Wurzeln und Intentionen hat. Trotz der Authentizitätsfiktion ist ein Brief­roman keine Fälschung, sondern durchschaubare Literatur. Als fragmentierte Erzählung setzt er eine hohe Lesekompetenz und Rekonstruktionsleistung voraus: Wie bei einem Detektivroman muss man auf Spurensuche gehen und mithilfe von Hintergrundwissen aus Erzählsplittern und Anspielungen einen plot konstruieren.
Im zweiten Teil (168–322) prüft G., »inwieweit die Pastoralbriefe als Aktualisierung der Gattung Briefroman verstanden werden können «(168). Zunächst rekonstruiert er die Reihenfolge (170–201), wobei er die in der Forschung zunehmend präferierte Abfolge Tit-1Tim-2Tim vertritt und neue Argumente durch den Briefromanvergleich bietet. Weiter zeigt G., wie in den Past anhand von Erzählsplittern und Traditionen eine Pauluserzählung aufgebaut wird (201–223), und analysiert die jeweils erzählte Gegenwart des briefschreibenden Apostels vor allem anhand der Briefrahmen (223–272). Diese narrative Technik der Past vergleicht G. mit anderen Briefromanen (272–283). Insgesamt entsteht eine »neue Lesestrategie für die Pastoralbriefe« (283–322): Das Corpus Pastorale entpuppt sich als fragmentierte Biographie, die in drei unterschiedlichen Momentaufnahmen die Entwicklung des Paulus vom Gemeindeorganisator (Tit/1Tim) zum Märtyrer (2Tim) nachzeichnet – und zwar im Modus des Bruches (z. B. 284.328). Hermeneutischer Schlüssel ist die Spannung zwischen den »Briefblöcken« (197 f. 201.279.327) Tit/1Tim und 2Tim. In Tit/1Tim wird Paulus – auf je unterschiedliche Weise (1Tim knüpft an scheinbar Vertrautes an, Tit besetzt Neuland) – als stetig reisender Gemeindeorganisator inszeniert, was durch die der Briefform inhärente Dialektik des An- und Abwesenden unterstützt wird. 2Tim stilisiert Paulus hingegen als Märtyrer. Damit signalisiert 2Tim den »Einbruch der Realität in die Utopie« (200): Das vom Gemeindeorganisator angestrebte »Inkulturationsprojekt« (187) scheitert, wobei der »Bruch zwischen dem Ideal von Tit/1Tim und der Wirklichkeit von 2Tim« (292) paradigmatisch für die christliche Existenz im römischen Reich in der ersten Hälfte des 2. Jh.s ist. Damit variieren die Past das zentrale Thema antiker Briefromane, nämlich das Verhalten des Weisen zu Machthabern, wobei die stärksten Entsprechungen zu den Exilbriefromanen bestehen (Briefbücher des Themistokles, Aischines, Ovid [265.283]; Montesquieus Lettres persanes [273–275]).
Im Hinblick auf die Deutung der Past als Briefroman fragt selbst G. – freilich rhetorisch – an, »ob die Handlung nicht etwas ›dünn‹ sei« (273). Der Versuch, diesem Einwand durch den Verweis auf die komplexe narrative Technik der Briefromane (fragmentierte bzw. achronologische Erzählweise, sukzessive Enthüllungsdramatik, Gegeneinandersetzen von Briefblöcken etc.) zu begegnen, stellt nicht zuletzt vor ein literarhistorisches Problem. Solcherlei Erzähltechniken finden sich, wenn überhaupt, in der antiken Romanliteratur erst spät – ein Einwand, der sich dadurch verschärft, dass G. die Past bereits als – so der Untertitel – »christliche Rezeption« des antiken Briefromans versteht. Hinzu kommt, dass die Gattung »antiker Briefroman« in seiner Existenz mitunter ganz bestritten oder im Zuge eines reduktionistischen Gattungsbegriffs auf die Chionbriefe reduziert wird (P. A. Rosemeyer 2001). Der unbestimmte Gattungsbegriff von G. geht letztlich vom neuzeitlichen Briefroman aus (167.325) – literaturwissenschaftlich mag das angemessen sein, literarhistorisch bleiben Fragen offen, auch was die konkreten einleitungswissenschaftlichen Fakten für die Past angeht. Die Frage, wie der zumindest für einen Teil der Leserschaft auf Durchschaubarkeit hin angelegte Briefroman in der alten Kirche weitgehend (trotz der Belege in 310–312) als Sammlung echter Paulusbriefe rezipiert werden konnte, streift G. nur kurz mit dem Hinweis, dass auch die echten Paulusbriefe dekontextualisiert worden seien (322). Das ist m. E. nur bedingt vergleichbar, da das Merkmal der Pseudepigraphie unberührt bleibt. Weiterführend wäre an dieser Stelle eine quellengestützte Diskussion um Fehlinszenierungen fiktionaler Diskurse in der Antike (so auch G. für die Neuzeit: 277.313). Nach G. will der Paulusbriefroman weiter keine hermeneutische Brille für die Pauluslektüre bieten, sondern eine »Lesestrategie des Paulusereignisses« (15) neben anderen eröffnen. Aber ist nicht jedes Paulusbild Paulushermeneutik und damit auch Paulusbriefhermeneutik? Einige Vermutungen bleiben spekulativ, wie die Past als Kodexausgabe (314 ff.) oder eine Frau als Autorin (304).
G. stellt den Hauptüberschriften jeweils ein literarisches Motto voran. Das ist erfrischend, aber mitunter irreführend. So benutzt G. für seine These von der Entwicklung des Paulus (168.200.283.327) als Schlüsselformulierung ein abgewandeltes Zitat von Marcel Proust (Recherche): »Paulus enthüllt sich als ein anderer« o. Ä. (vgl. 168 mit 283, 327 u. ö.). Enthüllung und Entwicklung sind aber etwas Verschiedenes.
»Enthüllt sich« nun nach all diesen Anfragen G.s Studie am Ende als phantasievoller Roman? Das sei ferne! Die Arbeit enthält viele wertvolle Anregungen (vgl. z. B. die Erwägungen zu Kreta und Nikopolis: 229–237; auch hinsichtlich der Unterschiede zwischen Tit/1Tim und 2Tim zeigt G. viele neue Aspekte). Manch Rätselhaftes in den Past erklärt sich auf dem Hintergrund antiker Briefli­teratur wie die Spannung zwischen Einsamkeit und sozialem Netzwerk in 2Tim, die als Sujet der Exilbriefliteratur durchaus verbreitet ist (265 ff.). Vor allem aber lenkt G. den Blick auf eine an­gemessene Lektüre der Past, die »ihre Einheit in ihrer Differenz« (282) wahrnehmen muss. Hinter diese Erkenntnis kann man nicht zurück, wenn man an einem Corpus Pastorale festhalten will.