Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

680-682

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bovon, François

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Lukas. 4. Teilbd.: Lk 19,28–24,53.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag; Düsseldorf: Patmos 2009. VIII, 670 S. gr.8° = Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, III/4. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-7887-2345-3 (Neukirchener); 978-3-491-52000-4 (Patmos).

Rezensent:

Christfried Böttrich

Mit diesem vierten und letzten Band liegt nun das große Kommentarwerk F. Bovons zum Lukasevangelium vollständig vor. Nach Band 1/1989 (ThLZ 115 [1990], 591–593), 2/1996 (ThLZ 125 [2000], 153–154) und 3/2001 (ThLZ 128 [2003], 391–393) ist der letzte zugleich der umfangreichste geworden. Das mag am Gewicht jenes Stoffes liegen, der hier behandelt wird: Beginnend mit dem Einzug Jesu in Jerusalem geht es nun um die lk Passions- und Ostergeschichte, die bekanntlich durch eine ganze Reihe von Eigenheiten ausgezeichnet ist.
In formaler Hinsicht bleibt auch dieser Band bei dem bewährten Schema (Einleitung, Analyse synchron/diachron, Erklärung, Wirkungsgeschichte, Zusammenfassung). Eine erneute Auflistung wichtiger Literatur am Anfang lässt den Fortgang der Lukasforschung seit dem Erscheinen des letzten Bandes erahnen. Exkurse fehlen erneut, was B. im Vorwort jedoch selbst bedauert. Umso stärker sind hier noch einmal die Passagen zur Wirkungsgeschichte ausgebaut, die eine reiche Fundgrube an Auslegungen namentlich der Frühzeit präsentieren.
Für die Perikopen dieses letzten Teiles gelingen B. mitunter originelle Kennzeichnungen, so z. B. mit »Fragen ohne Antworten« (20,1–8), »Die Witwe – beispielhaft oder ausgenutzt?« (21,1–4), »Das Gespräch über die Zukunft der Geschichte und die letzten Enden« (21,5–38), »Die teuflische Verschwörung« (22,1–6), »Das Abendmahl zwischen Pascha und Reich Gottes« (22,15–20), »Das leere Grab und die Fülle der Botschaft« (23,56b–24,12) oder »Die Harmonie des Abschieds« (24,50–53). Einzelne Übersetzungen treffen modernes Sprachgefühl auf prägnante Weise: Das Volk in Jerusalem ist gegenüber Jesus »ganz Ohr« (19,48); die Mitteilung der Frauen am Ostermorgen wird von den Männern als »heller Wahn« (23,11) abgetan. Zur Erscheinung des Auferstandenen im Jüngerkreis heißt es, der Evangelist bringe »die Normalität des Unvorhersehbaren und das Unvorhersehbare der Normalität zum Erscheinen« (603). Insgesamt bleibt der sprachliche Stil auch in diesem Band um Bildhaftigkeit bemüht; so vergleicht B. etwa die Tischgespräche beim Mahl mit einem »Museumssaal, an dessen Wänden die fein gerahmten Worte des Meisters aufgehängt sind« (261), bemerkt im Blick auf das Volk, dass der lk Bericht die Zeichen der Reue »wie weiße Kieselsteine auf den weiteren Weg streut« (414), oder beschreibt die Passionsgeschichte im Ganzen als »die Schöpfung einer Kette mit vielfältigen Perlen« (448). Dadurch gewinnt der Text an Lesbarkeit, gelegentlich aber auch an Breite.
Naheliegenderweise spielt die Frage nach den Quellen der lk Erzählung gerade für diesen Teil der Kommentierung eine wichtige Rolle. In sorgfältiger Abwägung gegenüber dem joh Bericht räumt B. dem Sondergut des Lukas eine bestimmende Rolle ein. Wie ein roter Faden durchzieht die These, dass der Evangelist seinem Sondergut einen Vorrang vor dem Markustext zugestehe und stets blockweise seine Quellen wechsle (vgl. besonders 399), alle Perikopen. Ganz anders hat M. Wolter in seinem jüngst erschienenen Kommentar (HNT 2008) die Existenz einer solchen Quelle nachdrücklich infrage gestellt und die entsprechenden Passagen lediglich als eine »Restkategorie« beschrieben. B. bleibt indessen seiner 1993 entwi­ckelten Sicht (Le récit lucanien de la Passion de Jésus) treu und führt sie im Kommentar nun an den einzelnen Perikopen durch, ohne das »Sondergut« selbst dabei weiter zu profilieren.
Einige markante Positionen möchte ich im Folgenden exemplarisch vorstellen. Ob man bei der Tempelaktion Jesu (19,41–48) von einer »Spiritualisierung« des Tempels durch den hellenistischen Flügel des Urchristentums sprechen sollte (48), wäre angesichts der jüngeren Diskussion um die kultische Terminologie im Neuen Testament noch einmal zu hinterfragen. Einleuchtend wird der Beginn der Passionsgeschichte als ein Geschehen auf zwei Ebenen eingeführt (219), was der Erzähler durch die Auslassung der Salbungsgeschichte erreicht; diese Doppelbödigkeit setzt sich in den folgenden Episoden fort. Hinsichtlich des lk Symposiums in 22,15–20 signalisieren fünf Seiten Literatur bereits die Dimension der Debatte um diesen charakteristischen Passus; die Korrespondenz zwischen Abendmahl und Passamahl hätte m. E. jedoch in der synchronen Analyse noch eine genauere Beschreibung der streng symmetrischen Doppelstruktur (15–18/19–20) verdient. Wichtig er­scheint der Nachweis, dass damit von Lukas nicht einfach eine Ablösung der Passatradition intendiert sei; vielmehr sieht B. das Verbindende in dem Gedanken von Aufbruch und Übergang (252). Für eine Einordnung der Mahlgespräche bietet sich das antike Symposium als das grundlegende Modell an; »letzter Dialog« be­schreibt die Textsorte zutreffender als »Abschiedsrede« (259). Die Worte an Petrus bieten m. E. vor allem dann einen Anlass für kritische Reflexionen über den Primat, wenn man den Gesamthorizont einer »Stärkung der Brüder« als Ausdruck pastoraler Verantwortung auch in anderen Zusammenhängen wahrnimmt (274 f.). In der kurzen Schwerterepisode müsste der Aspekt der Zeichenhandlung noch stärker hervortreten – denn hier wird ja gerade eine früher aufgetragene Zeichenhandlung unter veränderten Umständen wieder zurückgenommen (278 f.). Deutlich zeichnet sich in der Getsemani-Perikope die Entlastung des Petrus sowie der Jünger überhaupt durch den Evangelisten ab. Im Blick auf die Kreuzigung mahnt B. gegenüber der seit Dibelius üblichen Sicht eines vorbildlichen Martyriums zur Vorsicht und bringt stattdessen einige weitere Züge des Berichtes wie die einer Grunderzählung überhaupt, des göttlichen Planes, der Schrifterfüllung oder des allgemeinen historischen Interesses zur Geltung (248.512).
Die Debatte um eine soteriologische Deutung des Todes Jesu und die Eigenart der theologischen Position des Lk in dieser Frage klingt in der konkreten Kommentierung der entsprechenden Texte nur am Rande an. Der lk Charakter des Gebetes Jesu in 23,34 lässt sich nicht allein auf textkritischer Ebene, sondern vor allem als Teil jener großen Motivlinie erweisen, mit der Jesus als ein Vorbild im Beten vorgestellt wird. Interessant ist der Gedanke, die Erzählung vom leeren Grab erfülle im Neuen Testament die Funktion des Durchzugs durch das Rote Meer im Alten Testament (542). Die Erscheinung des Auferstandenen im Jüngerkreis betrachtet B. dann in Analogie zu Mt 28,16–20 als die »great commission« des Lukas (580). In der doppelten Himmelfahrtserzählung sieht er erneut die Kunst des Lukas am Werk, Übergänge zu gestalten anstatt Zäsuren zu markieren (608). Dabei liegen »Verherrlichung« und »Himmelfahrt« sachlich eng beieinander, so dass sich die Rede von einer Historisierung der österlichen Verherrlichung des Auferstandenen letztlich relativiert.
Am Schluss dieses letzten Bandes bietet B. ein ausführliches Register: Die Bibelstellen bleiben auf die lk Schriften konzentriert (14 S.); umfangreich erfasst ist der griechische Wortschatz (15 S.); detailliert verfährt das Sachregister (9 S.).
B. hat einen Kommentar von eindrucksvoller Geschlossenheit vorgelegt, der über einen langen Zeitraum gewachsen ist, gut 30 Jahre Lukasexegese widerspiegelt, vor allem den Bereich der französischsprachigen Literatur erschließt, ein ganz eigenständiges Profil entwickelt und trotz zeitlicher Ausdehnung seinen ur­sprünglichen Ansätzen treu bleibt. Künftig wird man die hier ausgebreitete Materialfülle nicht mehr entbehren wollen. Informationsdichte und Originalität sichern dem Gesamtwerk auch durch seinen vierten Band einen festen Platz unter den jüngeren Lukas­kommentaren. Dabei wird klar, dass auch auf insgesamt 2054 Seiten (Matthäus im EKK: 2001 Seiten) die Diskussion nicht geschlossen, sondern nur weitergeführt wird.