Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

36–39

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Liebers, Reinhold

Titel/Untertitel:

"Wie geschrieben steht". Studien zu einer besonderen Art frühchristlichen Schriftbezuges.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1993. VIII, 445 S. gr.8°. Lw. DM 178,­. ISBN 3-11-013859-X.

Rezensent:

Traugott Holtz

Das Buch hat eine schwierige Vorgeschichte. Und es ist in der Tat ein schwieriges Buch, das zu beurteilen nicht leicht fällt. Es ist einem wichtigen Thema gewidmet, nämlich der Untersuchung des im Neuen Testament mehrfach begegnenden pauschalen Schriftbezugs, der keine einzelne Aussage des Alten Testaments nennt oder auf sie erkennbar anspielt und offenbar auch nicht im Auge hat. Das herausragende Beispiel dafür ist das zweimalige kata tas graphas in 1Kor 15,3b-5. Da es sich bei dem Text um eine Formulierung handelt, die aus der frühen Tradition geprägt übernommen worden ist und in der das Wesen der Christus-Geschichte sich ausdrücken will, kommt der in ihr behaupteten Entsprechung zu den Schriften (= der Schrift) ganz offenbar in einer frühen Zeit für das "Evangelium" eine konstitutive Bedeutung zu ­ und zwar in theologischer Hinsicht. Daß es sich bei der Ansage der Schriftgemäßheit der Christus-Geschichte als Evangelium gerade auch in thetischer Form um ein wesentliches Theologumenon der frühen Gemeinde handelt, zeigt die Breite seiner Bezeugung im Neuen Testament, von der frühen Tradition (1Kor 15,3b-5) über Paulus (Rm 1,2; 3,21), die Synoptiker (Mk 9,12 f.; 14,21.49; Mt 26,54.56; Lk 18,31; 24,25-27.44-46) und Joh (1,45; 5,39.46; 20,9) bis hin zu Act (3,18.24; 7,52; 10,43; 13,27; 17,2 f.) und 1Pt (1,10 f.)

Freilich ist es richtig, daß diese Anschauung in sehr unterschiedlicher Weise zur Sprache gebracht wird und daß insbesondere die Frage, ob und inwieweit ihre Artikulation in Wendungen erfolgt, die der jeweilige Autor, der sie bezeugt, der ihm zugekommenen Tradition verdankt, schwierig zu beantworten ist. Der Vf. des vorliegenden Buches beschäftigt sich allein damit, solche der Tradition angehörenden Formulierungen zu eruieren und danach zu fragen, ob sich bei ihnen "ein gemeinsamer Nenner und damit ein einheitlicher Verstehenshorizont" erkennen läßt (5). Wie alle Bemühung um die möglichst genaue Sicherung der Textbasis einer bestimmten, offensichtlich weiter verbreiteten und wichtigen Anschauung und ihrer Zuordnung kann auch ein solches Unternehmen durchaus sinnvoll sein, vorausgesetzt seine Grenzen werden erkannt und theologisch zutreffend gewertet.

Liebers betreibt die Aufgabe, die er sich gestellt hat, mit einem enormen Aufwand und einer bewunderungswürdigen Hingabe insbesondere an literarkritische Erwägungen. In einem ersten Durchgang (Teil II, 7-71) werden alle die Stellen im Neuen Testament geprüft, an denen ein globaler Bezug auf die Schrift (= Altes Testament) vorliegen könnte (oder in der Diskussion gefunden worden ist). Die Frage dabei lautet, ob tatsächlich überhaupt ein derartiger Bezug vorliegt, ob gegebenenfalls nicht doch eine bestimmte einzelne Schriftstelle (oder auch ein Aussagenkomplex) im Blick ist und ob es sich wirklich um eine Formulierung handelt, die der Autor, der sie bietet, aus der Tradition übernommen hat, also nicht von ihm selbst artikuliert worden ist ("redaktionell ’und damit sekundär’" ist, wie L. sagt, 69). Dabei fallen für L. bereits viele Stellen für den weiteren Gang der Untersuchung aus, vor allem alle diejenigen, nach denen die Christus-Geschichte, insbesondere die Passion unter einem "Muß" steht, da bei ihnen "ein Schriftbezug zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht nachgewiesen werden kann. Wegen der Unbestimmbarkeit ihrer Aussageintention erscheint es daher aus methodischen Gründen angeraten, diese Textstellen in der Untersuchung zurückzustellen zugunsten jener, die sich in ihrer Formulierung unzweifelhaft auf die ’Schrift’, das ’Geschriebene’, ’Mose’ oder die ’Propheten’ usw. zurückbeziehen" (69). Damit offenbart L., daß der Gegenstand seiner Untersuchung keineswegs "eine bestimmte (vorsynoptische und vorpaulinische) Verwendung der Schrift und... das darin zum Ausdruck kommende Verständnis der Relation von Altem und Neuem aus der Sicht der frühchristlichen Gemeinde" ist (5), sondern die auf ein möglichst sicheres Korpus reduzierte Isolierung bestimmter festformulierter Sätze der vorliterarischen Tradition über den generellen Schriftbezug des Evangeliums.

In dem Hauptteil des Buches (T. III, 73-290) werden in minutiösen Erörterungen alle aus der vorangegangenen Prüfung verbliebenen (24) Textstellen durchgegangen unter der Frage nach ihrem Charakter und ihrer Herkunft. Dabei erweisen sich für L. diese Belege in ihrer Mehrheit als "redaktionelle Partien bzw. Bearbeitungen", die "damit als zeitlich spätere Bildungen einzustufen" sind (289).

Auf diese Erörterungen braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Sie sind übrigens zum guten Teil durchaus einleuchtend oder zumindest diskussionswürdig. Freilich muß ich gestehen, daß mir die Gewißheit, mit der das literarkritische Instrumentarium gehandhabt wird, fremd ist. Über die verbleibenden Unsicherheiten hinaus muß man nun aber auch damit rechnen, daß Traditionen von denjenigen, die sie aufnahmen, bei der Einarbeitung in den eigenen Text umgestaltet wurden; bei Lukas etwa ist das gewiß der Fall (was L. bei der Behandlung der synoptischen Parallelen im Lukasevangelium auch ­ zu recht ­ durchaus berücksichtigt). Doch ist das Interesse des Vf.s aufgrund der oben angezeigten merkwürdigen Verschiebung der Fragestellung nicht darauf gerichtet, in möglichster Breite, natürlich gleichwohl kritisch gesichert, die Bezeugung des Satzes, daß sich in der Christus-Geschichte die Erfüllung der Schrift ereignet, herauszuarbeiten, sondern ­ geradezu im Gegenteil ­ darauf, nur auch im Wortlaut als Tradition gesicherte diesbezügliche Sätze aufzufinden.

Das Ergebnis, zu dem L. bei dem Durchgang durch die fraglichen Texte gelangt, ist zumindest quantitativ dürftig. Es bestehen nur vier die Prüfung: 1Kor 15,3b-5; Mk 9,11-13 (aber ohne 12b!); Mk 14,21; Mk 14, 48 f. Nur drei beziehen sich davon auf die Christus-Geschichte, Mk 9,11.12a.13 handelt allein vom Täufer.

Ehe L. die vier Texte inhaltlich analysiert, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, ob sie eine gemeinsame Grundlage verbindet, wendet er sich in einem eigenen Abschnitt dem "zitatlose(n) Schriftbezug im AT und im frühjüdischen Schrifttum" zu (T. IV, 291-348). Das Ergebnis dieses vergleichsweise z. T. etwas summarischen Durchgangs ist hinsichtlich des entscheidenden Punktes negativ: ein nicht auf konkrete Textaussagen bezogener Schriftverweis, durch den ein Geschick oder ein Geschehen legitimiert wird, begegnet im Alten Testament und im Frühjudentum nicht. Wohl aber findet sich seit dem deuteronomistischen Geschichtswerk der ausdrücklich formulierte Bezug auf die Schrift, wobei indessen jeweils konkrete Aussagen der Texte, die man als "Schrift" verstand, im Blick sind. In der Form sind die eruierten neutestamentlichen Texte also von der alttestamentlich-jüdischen Tradition abhängig (und nicht von griechischer Rechtsterminologie). Nicht aber im Inhalt.

Diesem Inhalt wendet sich der letzte (V.) Teil der Untersuchung zu (349-397). L. faßt zunächst 1Kor 15,3b-5 ins Auge und gelangt dabei zu der Einsicht, daß die Aussage dieses Textes auf dem Hintergrund der frühjüdischen und vom Frühjudentum auch im Alten Testament gefundenen Vorstellung vom leidenden Gerechten zu verstehen sei. "Sowohl die Aussage des sühnenden Sterbens... als auch der Gedanke der Auferstehung... sowie das Motiv des dritten Tages... findet sich in Kontexten, die die Vorstellung des leidenden Gerechten beinhalten bzw. nach diesem Interpretationsraster gedeutet sein dürften" (367). Und auch das Motiv des Schriftbezuges soll in diesem Zusammenhang bereits anklingen (ebd.). Es ist nun tatsächlich auch nicht generell zu bezweifeln, daß Motive, die bei der Ausbildung und Rezeption eines Bekenntnissatzes wie 1Kor 15,3-5 präsent und wirksam gewesen sind, auch in dem Vorstellungsbereich vom leidenden Gerechten beheimatet waren. Daß aber gerade L., der im gesamten Korpus seines Buches mit minutiöser Akribie über genaue Entsprechungen auch der sprachlichen Formulierung bei dem Urteil über Zugehörigkeit oder gegenseitige Abhängigkeit von Vorstellungen wacht, hier zu einer so generösen Zuweisung gelangt, überrascht denn doch außerordentlich. Überzeugen kann sie freilich auch unabhängig davon nicht.

Dem steht, neben den anderen möglichen terminologischen, historischen und theologischen Einwänden, schon die prägnante, durch Erscheinungszeugen bestätigte Auferstehungsaussage im Perfekt entgegen, die den eschatologischen und damit einmaligen Charakter des Geschehens, von dem das Bekenntnis spricht, sichert. In Wahrheit tut das freilich auch der zweimalige Schriftbezug (1); er ist es nach der Interpretation von L. indessen gerade, der die Christus-Geschichte einebnet in das (gleichsam normale) Geschick des leidenden Gerechten, wie es die Schriften manigfaltig gerade nicht verheißen, sondern beschreiben (367).

Für L. ist denn auch Johannes der Täufer auf der gleichen Ebene dem Geschick des leidenden Gerechten unterworfen, wie die inhaltliche Analyse von Mk 9,11.12a.13 ergibt. Akzeptiert man die literarkritische Operation, der L. den Text zuvor unterworfen hat, so ist diese Analyse durchaus diskutabel. Und auch in Mk 14,21 und 14,48 f. ist ein bestimmender Einfluß der passio iustiTradition nicht auszuschließen. Indessen verwehrt bereits die unterschiedliche Gattungszugehörigkeit der vier Texte und ihre verschiedenen Themen die Vermutung, zwischen ihnen bestünde eine überlieferungsgeschichtliche Verbindung (wie auch L. sieht, 391 f.). Dennoch sollen sie nach L. mit ihrer besonderen Art des Schriftbezugs eng zusammengehören, und zwar in einer sonst im übrigen frühchristlichen Schrifttum nicht nachweisbarer Weise. Sie ragen somit als einsame, unsichtbar miteinander verbundene Rudimente aus der übrigen neutestamentlichen Überlieferung heraus!

Wie bereits herausgestellt, erreicht L. dieses merkwürdige, theologisch wie historisch gleich schwer realisierbare Ergebnis dadurch, daß er die Bearbeitung eines theologischen Komplexes einem rigiden literarkritischen Programm unterwirft, das offenbar zur Voraussetzung hat, nur das könne frühe Glaubensüberzeugungen wiedergeben, was sich zweifelsfrei als geprägt übernommenes Traditionsmaterial bei irgendeinem neutestamentlichen Autor nachweisen lasse und daß es das dann auch wirklich tue, gleichgültig, wo auch immer es sich findet. Immerhin könnte es ja auch sein, daß traditionelle Aussagen bei Markus in der überkommenen Form jünger sind als eigene ("redaktionelle") Formulierungen bei Paulus (wobei es ganz gleichgültig ist, ob das wirklich der Fall ist, da es um ein methodisches Problem geht).

Es ist bedauerlich, daß das so wichtige und bisher tatsächlich unzureichend behandelte Thema des pauschalen Schriftbezugs auf die Christus-Geschichte in der frühen christlichen Gemeinde methodisch so unergiebig in diesem gelehrten und gründlichen Buch angegangen wird. Die Behandlung der einzelnen Textstellen, deren sich der Vf. annimmt, ist nicht immer gerade leicht zu lesen (z. T. auch ausufernd) und nicht allemal überzeugend (2), im ganzen aber doch methodisch und inhaltlich angemessen. Bei der Beschäftigung mit ihnen kann das Buch zweifellos mit Gewinn herangezogen werden.

Fussnoten:

(1) Zwar erwähnt L. S. 343 die Stelle 1QpHab 7,1 ff., aber nur unter der Kategorie ’Verheißung und Erfüllung’, ohne indessen den entscheidenden eschatologischen Aspekt, unter dem sie steht, auch nur zu erwähnen.
(2) Gelegentlich finden sich (redaktionelle) Fehler; so wird S. 13 Mt 2,23b falsch wiedergegeben (14 richtig) oder S. 183 Lk 24,44-47 der Emmauserzählung zugeschrieben; Charlot, Construction (248 ff.) oder Skweres, Rückverweise (321) habe ich im Lit.-verz. nicht gefunden (s. auch Bihler, Paulus, 251); der Kommentar von M. Dibelius zu 1.2Thess, Phil ist S. 417 unter W. Dietrich als Verfasser verrutscht; Druckfehler sind mir freilich nur wenige begegnet.