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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

678-680

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bonifacio, Gianattilio

Titel/Untertitel:

Personaggi minori e dicepoli in Marco 4–8. La funzione degli episodi dei personaggi minori nell’in­teraz­ione con la storia dei protagonisti.

Verlag:

Rom: Editrice Pontificio Istituto Biblico 2008. 293 S. gr.8° = Analecta Biblica, 173. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-88-7653-173-6.

Rezensent:

Silvia Pellegrini

In der aktuellen Neubetonung der »personaggi minori«, d. h. der kleinen Erzählfiguren, innerhalb der neutestamentlichen, vor allem markinischen Forschung hat dieses Werk seinen Ursprung. Der Vf., Dozent für Neues Testament an zwei Theologischen Hochschulen Veronas (Italien), stellt sich in seiner Doktorarbeit eine doppelte, kombinierbare Aufgabe: als Erstes – und als Hauptziel – eine Textexegese der gewählten Textpartien anzubieten und zweitens die Interaktion der darin enthaltenen kleinen Erzählfiguren mit den Jüngern zu untersuchen (7 f.22). Zunächst wird eine Liste der sog. kleine Erzählfiguren enthaltenden Textstellen, die sich über das ganze Markusevangelium erstrecken, undiskutiert aus der Sekundärliteratur wiedergegeben (7). Im Laufe der ersten, methodologisch orientierten zwei Kapitel wird aber diese Breite auf Mk 4–8 reduziert. Diese Auswahl steht von Anfang an als »der Teil des Evangeliums, der mich interessiert« (= »parte di vangelo di mio interesse«, 61) fest, wobei sie plausibel und ausführlich begründet wird (61–70).
Die Arbeit ist dementsprechend klar strukturiert: Nach einer kurzen Einführung (7–11), die die Fragestellung erläutert, entwi­ckelt sich die Arbeit in zwei Teilen: Ein erster Teil (13–71) behandelt die methodologischen Probleme der Fragestellung, schildert den notwendigen, narratologischen Hintergrund und erklärt den Aufbau der Untersuchung, während sich der zweite Teil (75–259) direkt der Textanalyse widmet. In diesem Teil sind die beiden grundlegenden Anliegen der Arbeit verknüpft. Ein abschließendes Kapitel (251–255) rundet mit den neu gewonnenen Forschungsergebnissen die Arbeit ab.
Im ersten Teil wird eine »persönliche« (21), teilweise neue Definition der »kleinen Erzählfiguren« gegeben: Klein sind sie nicht, als ob andere Erzählfiguren größer bzw. wichtiger wären, sondern sie sind »singolativi« (21), d. h. im Mk nur einmal vorkommend. Diese Definition möchte der Vf. in seiner Arbeit jedoch nicht konsequent anwenden, um nicht »pedantisch« zu erscheinen (21). Trotz der inkonsequenten Terminologie soll die inhaltliche Definition beibehalten werden. Den »singolativi«-Erzählfiguren stehen die Jünger gegenüber: Anhand eines knappen Forschungsberichts wird diesen die erzählerische Funktion zugeschrieben, Jesu Identität aufzudecken und seine Nachfolge auszulegen. Ein zweiter Forschungsbericht schildert die wenigen Beiträge zu den »kleinen Erzählfiguren« mit dem Ergebnis, dass diese (ebenso wie die Jünger) eine pragmatische Funktion innehaben und dass beide Erzählgruppen in der Wirkung auf die Leser zusammengehören. Insbesondere »unterstreichen, zeigen und beleuchten sie alles das, was die Erzählung über die ›größeren Erzählfiguren‹ entfaltet« (61). Diese Erkenntnis gilt als These, die die Arbeit verifizieren soll.
Der exegetische Teil, sehr akkurat und im Einklang mit dem Konsens der Forschung, arbeitet die Interaktion der Jünger mit den »singolativi«-Erzählfiguren heraus. Dafür werden aus der Sektion Mk 4–8 die Abschnitte Mk 4,35–41; 5,1–43; 7,24–37; 8,22–29 als beispielhafte Auswahl analysiert. Besonders gelungen ist in diesem Teil die Hervorhebung der Querverbindungen und der kreisenden Themen. Das durch die Jünger eingeführte Thema der göttlichen Macht Jesu (Mk 4,35–41) wird von dem Sieg über »Legion« (Mk 5,1–20), über die Krankheit (Mk 5,21–34) und über den Tod (Mk 5,35–43) dank den »kleinen Erzählfiguren« entfaltet. Ebenso verhalten sich die Rollen in der Sektion Mk 7,1–37: Die Jünger stellen das Thema vor (Jesu neue halaka, 254), während die Syrophönizierin und der Taubstumme als »singolativi«-Erzählfiguren die Implikationen davon entfalten. Der rote Faden der Erzählung wird von den Jüngern als Hauptfiguren gezeichnet: Ihre Frage zur Identität Jesu in 4,41 wird erst in 8,29 mit dem Petrusbekenntnis (163) beantwortet. Allerdings sollte man m. E. hier kritisch rückfragen, ob dieses Be­kenntnis, dass Jesus der Messias ist, auch eine ausreichende Er­kenntnis ist (vgl. Mk 8,30–33), denn diese ist in der mk Strategie erst nach Ostern möglich (vgl. Mk 8,30 f.)! Eine hervorgehobene Rolle erfährt als letzte figura minor der Blinde von Betsaida, wobei hier der Vf. die Schwere der Krankheit betont, ohne diese mit der Blindheit der Jünger in Verbindung zu setzen. Somit gilt die Erzählung nur als Unterstreichung der göttlichen, heilenden Kraft Jesu, des »großen Arztes« (255, vgl. auch 234 f.), während man hier eine offene, direkte erzählerische Verbindung zur Glaubenssituation der Jünger erwartet hätte.
Als Gesamtergebnis der Untersuchung (251–255) ist Folgendes festzuhalten: Eine nicht episodische Betrachtung des mk Werkes ist nicht textgerecht. Sie riskiert, die Erzählfunktion der Jünger und der »singolativi«-Erzählfiguren nicht zu erkennen, indem die Jünger als im Glauben und Verstehen negative Beispiele disqualifiziert werden, wobei die »singolativi«-Erzählfiguren pauschal als Gruppe aufgefasst und behandelt werden. Gegen diese (m. E. nicht so eindeutige) Linie der Forschung stellt der Vf. seine Interpretation auf: Mk wolle das Wesen der Nachfolge schildern. Als Orientierungsmerkmale zu diesem Ziel dienen dem Leser vier Erzählgruppen: das Volk als neutrale Basis, die Jünger als positives, sich entwickelndes Beispiel, die religiösen Autoritäten, die ein starres Gebilde bleiben, als negative Erscheinung und die »personaggi minori«, welche eine unterstützende, unterstreichende Funktion erfüllen. Sowohl die Jünger als auch die religiösen Autoritäten fokussieren die Frage der Nachfolge, während die »kleinen Erzählfiguren« diese unter verschiedenen Perspektiven beleuchten. Somit sind beide Anliegen des Buches erreicht, wobei der Forschungsgewinn eher in der neubetrachteten Funktion der »singolativi«-Erzählfiguren zu erkennen ist. Ob eine »Rehabilitation« der Jünger als Erzählfigur so notwendig war, lässt sich m. E. fragen.
Am Schluss des Bandes ist ein Glossar der erzählerischen Terminologie – auf die 13 in diesem Werk rekurrierenden Termini technici eingegrenzt – sehr nützlich. Ein Autorenverzeichnis und eine m. E. aufgrund des Inhaltsverzeichnisses sich erübrigende, 15-zeilige Auflistung der behandelten Textstellen aus dem Markusevangelium sollen die Querlektüre des Buches vereinfachen.
Der Sprachstil ist manchmal sehr redundant, von rhetorischen Figuren gefüllt, gekünstelt und gleichzeitig von umgangssprachlichen Sprachwendungen durchdrungen, mehr um den schönen Klang der italienischen Sprache bemüht als auf die Genauigkeit und Gradlinigkeit der Aussage orientiert.
Insgesamt lässt sich das Buch aber gut lesen. Es leistet eine solide exegetische Arbeit. Sie entdeckt und füllt noch eine Lücke in der an sich reichhaltigen Markusforschung. Sie verfolgt die Spur der Erzählforschung und rezipiert die Klassiker der Narratologie auf neutestamentlichem Gebiet. Sie würdigt die internationale Forschung und versucht, sofern möglich, auch die aktuellsten Beiträge zu berücksichtigen. Sie hat eine klare Fragestellung (welche Erzählfunktion haben die kleinen Erzählfiguren in Bezug auf die Jünger?) und verkündet als neues Forschungsergebnis eine ausgeglichene Interpretation der Jünger und eine unterstreichende, Themen entfaltende Funktion der »personaggi minori«. Für Mk-Forscher und vor allem Mk-Leser ist das Buch eine gewinnbringende Lektüre.