Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

670-672

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ebach, Jürgen

Titel/Untertitel:

Genesis 37–50. Übers. u. ausgelegt v. J. Ebach.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2007. 729 S. gr.8° = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Lw. EUR 100,00. ISBN 978-3-451-26803-8.

Rezensent:

Horst Seebass

Jürgen Ebach legt hier einen interessanten, aber höchst eigenwilligen Kommentar zum Abschnitt von Gen 37–50 vor, den er unter dem Titel »Josefsgeschichte« zusammenfasst (52 ff.). Auf S. 419 zitiert er treffend R. Lux (Erzählte Geschichte. Beiträge zur narrativen Kultur im alten Israel, in: Ders., Geschichte als Erfahrung. Erinnerung und Erzählung in der priesterschriftlichen Rezeption. BThSt 40 [2000], 147[–180]), dass derzeit zwischen den Auffassungen zur Josephsgeschichte »Kontinente« liegen. Das ist gewiss wahr, und so kann eine neue, weitere Sicht durchaus ihr Recht haben. Immerhin zeigt schon der Umfang des neuen Kommentars ein Nonplusultra an. Der 2008 erschienene Kommentar von L. Ruppert, Genesis IV (fzb 118) »schaffte« es bei umfangreicher Berück­sichtigung der späteren Rezeption von Gen 37–50 »nur« bis S. 576, brauchte also 150 Seiten weniger als E. Und der aus unten zu nennenden Gründen vergleichsweise erwähnenswerte Kommentar von B. Jacob, Das erste Buch der Tora, 1934, Nachdruck o. J., benötigte nur 350 Seiten.
Instruktiv ist bereits die umfangreiche Inhaltsangabe (7–10) wegen der vielfältigen, nicht zufälligen Parzellierungen zusam-menhängender Großerzählungen wie Gen 37.38.39.41.42.43 f., zu­meist je in drei, bei Gen 37 gar in fünf Abschnitte, die die von E. beabsichtigten, durchweg harmonisierenden Deutungen erleichtern. Das Literaturverzeichnis (15–27) überrascht neben den zu erwartenden Angaben über die umfangreiche wissenschaftliche Literatur mit einem Literaturverzeichnis zu Thomas Manns »Joseph und seine Brüder« (25–27). Nach einer für E. relativ knappen »Einleitung« in die Josephsgeschichte (30–49) folgt die Kommentierung (52–678). Am Schluss stehen knappe »Erwägungen zur literarischen Gestalt und Entstehung von Gen 37–50« (679–697) sowie eine zusammenhängende Übersetzung von Gen 37–50 (699–722; E. hatte sich an der Übersetzung in sog. gerechter Sprache beteiligt, die er a. a. O. befolgt) und ein Bibelstellenregister in Auswahl, das von Gen 37–50 mit Recht absieht (723–729).
Inhalts- und Literaturverzeichnis zeigen: E. ist stark beeinflusst durch die großartige Trilogie »Joseph und seine Brüder« von Thomas Mann. Das gilt freilich für viele Kommentatoren, aber bei E. verbirgt sich dahinter ein für Thomas Manns Roman zweifellos grundlegender Zugang zur Midrasch-Literatur. Aus solchem Zugang wird jedoch etwas anderes, wenn E. als Exeget des Alten Testaments (bzw. des Tanach) jene Midrasch-Literatur zur Grundlage der Erklärung eines viel älteren literarischen Werkes macht. E. dringt denn auch nur ausnahmsweise zur alten Urkunde von Gen 37–50 vor, nämlich zu dem für das Gesamt von Gen 37–50 nicht wirklich wichtigen Abschnitt (auch für E. nicht) Gen 46,8–27. Dort verfolgt er die üblichen exegetisch-analytischen Fragen (436–458). Im Übrigen bekommen die Leser Midraschisches in ausführlichen Erörterungen vorgeführt, mal mittels Thomas Manns Deutungen, mal ohne sie. Wie im oben bereits erwähnten Kommentar von L. Ruppert ist es gewiss von Reiz, über Midrasch-Deutungen unterrichtet zu werden. Aber bei L. Ruppert erscheinen sie mit Recht nicht im Rahmen der Auslegung, sondern im Rahmen von »Theologie und Wirkungsgeschichte«.
Man kann daher nicht umhin, daran zu erinnern, dass die Genesis insgesamt und also auch Gen 37–50 nach allgemein anerkannter Meinung vor 300 v. Chr. abgeschlossen vorlag (im Pentateuch-Kanon) und Gen 37–50 mit Teilen mal ins 10., mal ins 9. oder 8. Jh., mal erst in exilische Zeit datiert wird, also auf jeden Fall um Jahrhunderte älter ist. Der Midrasch war nach derzeit gut begründetem Wissen vor der griechisch-römischen Hermeneutik nicht denkbar (s. die wohl gründlichste Unterrichtung dazu durch G. Mayer, Midrasch/Midraschim: TRE 22, 1992, 734–744). Die Midraschim zur Gen gehören zudem nicht mehr zur frühen tannaitisch-halachischen Interpretationsphase, sondern zur späteren haggadischen (H-J. Becker, Midrash, RG G4 5, 2002, [1012–]1014), was den Abstand etwa bis wenigstens ins 3. Jh. n. Chr. auf mindestens sechs, möglicherweise auf 12 bis 13 Jahrhunderte vergrößert. Allgemein ist ferner bekannt, dass die Midraschim sich aktuellen Fragen ihrer damaligen Gemeinde, soweit sie rabbinisch gesonnen war (es gab auch sehr andere), gewidmet haben. Diese Bestandsaufnahme soll beleuchten, dass der Rezensent primär die Interpretation der kantigen alten alttestamentlichen Tradition erwartet hatte und weniger Deutungen in Anlehnung an einen haggadischen Midrasch, der gewiss zu seiner Zeit an einer über alle Kanten hinweg harmonischen Erklärung interessiert war. Dies markiert einen erheblichen Unterschied zu dem bedeutenden Kommentar von B. Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis (Nachdruck der Ausgabe von 1934, o. J.), der seinerzeit die Midraschim nur nutzte, wo ihm das nach seiner Position angemessen erschien.
Der Rezensent weiß die wissenschaftlichen Arbeiten E.s zu schätzen, steht aber der »Bibel in gerechter Sprache«, an der auch E. mitgearbeitet hat, kritisch gegenüber. Hatte E. sich dort bereits häufig vom Wort des Alten Testaments (des Tanach) dispensiert, liegt es auf derselben Linie, dass er sich im Blick auf Gen 37–50 eben nicht der alten Urkunde des Pentateuch verpflichtet weiß, sondern sie der Sehweise haggadischer Midraschim unterzieht. Das heißt nicht, dass das Werk E.s nicht sehr lesenswert wäre. Man liest seine jeweiligen Erklärungen gern, da er über eine hervorragende Darstellungs-Prosa verfügt – man muss jedoch nur, wie bereits angedeutet, dafür Zeit mitbringen. Der Band ist von klassischer Bildung geprägt, es wird viel wissenschaftliche Literatur verarbeitet und E.s Gespräch u. a. mit verschiedenen Philosophen ist sehr interessant. Und diejenigen Leser, die eine vom Midrasch angeleitete, bis ins Letzte harmonisierende Deutung suchen (sie ist nicht einfach identisch mit der evangelistisch gesonnenen, sehr gelehrten Erklärung von G. J. Wenham, Gen 16–50: WBC 2, 1994), werden von E. haggadisch mit vielen guten Gedanken und Erklärungen versehen. Diejenigen aber, die nach einer klassisch-wissenschaftlichen Auslegung suchen, werden weniger angesprochen. Der Re­zensent verweist hier beispielhaft auf die Erklärungen von Gen 41, Gen 42 und Gen 48, wo alle offenkundigen Brüche unter Anleitung des Mid­rasch uminterpretiert werden und, abgeschwächt, auf die über 100-seitige Erklärung von Gen 49, wo die Textherstellung zu 49,3–27 in sehr vielen Verästelungen ergeht, die Redaktionsnotiz 49,18 in die Stämmesprüche eingeordnet und letzten Endes eine große Harmonie im Sinne des Midrasch herbeigeführt wird. Eine Ausnahme zugunsten klassisch-wissenschaftlicher Bearbeitung könnte vielleicht die Erklärung von Gen 38 (132–148) sein, be­son­ders zu dem gewichtigen Komparativ von 38,26, wo Juda erklärt haben soll, inwiefern Tamar im Konflikt um den Erwerb eines Nachkommen für ihren verstorbenen Mann »gerechter«, treffender wohl (nach Klaus Koch, קדצ: THAT 2, 507–530) »gemeinschaftstreuer« gewesen sei als er, Juda (Ebach, 145–149, zu ינממ הקדצ).
Folgende Kleinigkeiten sind noch zu bemerken: Sachlich wichtig scheint dem Rezensenten, dass E., vielleicht um Thomas Manns Deutung willen, die außerordentliche Bedeutung des Vaters Jakob/Israel für das Drama um Joseph und seine Brüder klar unterschätzt und das, obwohl er selbst vermerkt, dass von den zwölf nur fünf Brüder namentlich vorkommen, ja die nach Gen 48 vermutlich in den Stammesstatus erhobenen Manasse und Ephraim eher den Vater als die Gruppe der Brüder beleuchten.
In der Erklärung zu Gen 49 bedauert der Rezensent, dass E. (614f.) eine der Sache nach deplatzierte Stellungnahme zu einem von Martin Luthers Ausfällen gegen das Judentum zum Gad-Spruch abgibt. Luthers derartige Ausfälle in ihrer Gänze sind zu einem äußerst wichtigen Thema des Faches Kirchengeschichte mit bekannten theologischen Konsequenzen geworden, die dort in der gebotenen Gründlichkeit behandelt wurden, und an der Sache gibt es nichts zu beschönigen. Was aber E. hier zitiert, hat nach Ansicht des Rezensenten keinen Bezug zum Gad-Spruch von Gen 49 und trägt zur Erklärung nicht das Geringste bei.
Auf S. 174 (Anm. 13, zu 39,13a. fin.) löst E. die hebraistisch korrekte Lesart des CodLeningr. »in ihrer Hand« falsch auf, s. dazu etwa Ges 18 ad vocem. Auf S. 175 (Anm. 20, Satz 2) hat er zu 39,20 Ketib/Qere vertauscht. S. 253 übergeht (nicht nur) er den Einwand gegen die üblich gewordene Deutung von Zaphenat Paneach als Dd-p3-nṯr-iwf-cnch- durch die philologisch bestens aus­-gewiesene Ägyptologin Ursula Rößler (Bonn), dass bei Dschd-Namen als An­schluss dazu stets ein voller Götter/-innen-Name zu erwarten sei (s. H. See­- bass, Genesis III. Josephsgeschichte [Gen 37,1–50,26], 72). Auf einem Missverständnis beruht, dass E. eine ganze Seite dazu verwendet, um ein vom Rezensenten (a. a. O., 121) nur literargeschichtlich gemeintes »einst« historistisch als Grundsatzurteil aufzuspießen (428).