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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

664-666

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kraus, Thomas J., Kruger, Michael J., and Tobias Nicklas [Eds.]

Titel/Untertitel:

Gospel Fragments. The ›Unknown Gospel‹ on Papyrus Egerton 2. Papyrus Oxyrhynchus 840. Other Gospel Fragments. With an Introduction by Th. J. Kraus.

Verlag:

Oxford-New York: Oxford University Press 2009. XX, 304 S. m. Abb. 8° = Oxford Early Christian Gospel Texts. Geb. £ 79,00. ISBN 978-0-19-920815-9.

Rezensent:

Bernhard Mutschler

Nach den zurückliegenden Editionen von A. E. Bernhard (englisch 2006), M. Pesce (italienisch 2004, inzwischen 82007) und D. Lührmann (deutsch 2000) folgt hier eine erneute, im Unterschied zu den genannten ausführlich kommentierte Edition einiger apokrypher Evangelienfragmente. Drei namhafte jüngere Experten, Thomas J. Kraus (Neumarkt/Oberpfalz), Michael J. Kruger (Charlotte/North Carolina) und Tobias Nicklas (Regensburg), beschränken sich auf eine Auswahl von Texten, zu denen sie selbst geforscht haben. Der Titel »Gospel Fragments« weist darauf hin, dass die hier gebotenen apokryph gewordenen (1.4 f.) Evangelien weder möglicherweise voll­ständig oder zumindest weitgehend erhalten sind – wie das Thomasevangelium, das Petrusevangelium oder das Evangelium der Maria – noch allein über die Kirchenväter, zwar mit Titel, aber praktisch ohne Text, so das Hebräerevangelium, das Nazoräerevangelium oder das Ebionäerevangelium. Demgegenüber handelt es sich im vorliegenden Sammelband um Texte, die 1. unvollständig, 2. ohne Titel und 3. vielfach nur durch ein einziges Textfragment bekannt sind.
Mit Papyrus Egerton 2 (= P. Lond. Christ. 1), der seit 1987 durch den aus demselben Codex stammenden Kölner Papyrus 225 ergänzt ist, stellt T. Nicklas vier doppelseitig beschriebene Textfragmente aus der Wende vom 2. zum 3. Jh. vor (9–120). Seit der Erstveröffentlichung durch H. I. Bell und T. C. Skeat im Jahr 1935 werden sie als »Unknown Gospel« bezeichnet. Bruchstückhaft erhalten ist ein Streitgespräch zwischen Jesus und Gesetzeslehrern über eine mögliche Bezeugung Jesu in der Tora, eine Heilung eines Aussätzigen und die Frage nach der Legitimität von Steuerzahlungen (»Vom Zinsgroschen«). Jesus wird darin als Lehrer der Tora vorgestellt und mehrfach als Kyrios bezeichnet. Im Ganzen wird eine hohe Chris­tologie vertreten, obwohl z. B. eine Präexistenzvorstellung fehlt. Dies sagt aber kaum etwas angesichts des geringen erhaltenen Textbestands. Das ansonsten unbekannte Evangelium ist literarisch abhängig vom Johannesevangelium (Joh 3,2; 5,39.45 f.; 7,30.44; 9,29) und zeigt eine Vertrautheit mit synoptischen Evangelien (Mk 1,40.44 par.; 7,6 par.; 12,13–17 par.; Lk 4,30; 17,4), die aber nicht auf eine schriftliche Vermittlung schließen lässt. Der Text könnte in Ägypten oder im Bereich des östlichen Mittelmeers entstanden sein, wahrscheinlich »in den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts« (113).
Besser erhalten und nur unwesentlich kürzer ist dagegen Papyrus Oxyrhynchus 840, der seit seiner Entdeckung im Jahr 1905 und der Erstpublikation durch B. P. Grenfell und A. S. Hunt 1908 als Fragment eines »Uncanonical Gospel« bezeichnet wird. Nahezu 100 Jahre später erfolgte erstmals eine monographische Behandlung durch die von L. W. Hurtado betreute Ph.D.-Thesis (Edinburgh 2004) des jetzigen Bearbeiters M. J. Kruger (The Gospel of the Savior. An Analysis of P. Oxy. 840 and its Place in the Gospel Tradition of Early Christianity, Texts and Editions for New Testament Studies 1, Leiden-Boston: Brill 2005). Ergebnisse dieser Untersuchung werden in der vorliegenden Edition konzis und gut lesbar vorgestellt (121–215); dabei entspricht die verwendete Gliederung weitgehend derjenigen in der Ph.D.-Thesis, so dass eine vertiefende Lektüre gut möglich ist.
Entgegen seiner Bezeichnung handelt es sich bei P. Oxy. 840 um ein beidseitig beschriebenes Pergamentblatt, d. h. aus Tierhaut und nicht aus Schilfrohr hergestellt. Es entstammt einem Miniaturkodex mit einer Seitengröße von ca. 7,2 x 8,6 cm, sozusagen einem richtigen Taschenbuch (»pocket codex«, 127) zur persönlichen Erbauung (abgelehnte Deutung: als Amulett), sehr wahrscheinlich aus der ersten Hälfte des 4. Jh.s. Auf der raueren und dunkleren Haarseite (recto) wird erzählt, dass Jesus mit seinen Jüngern den Tempel betritt. Dort wird er von einem Pharisäer und Hohepriester Levi beschuldigt, er habe unrein »diesen heiligen Ort, der rein ist« (Z. 17 f.) betreten. Als Jesus (verso) ihm die Gegenfrage stellt, antwortet dieser, dass er sich zuvor »im Teich Davids gewaschen« und »weiße und reine Kleider angezogen« habe (Z. 24–27). Mit deutlichen Worten – »Hunde«, »Schweine«, »Dirnen« und »Flötenspielerinnen« werden genannt – weist Jesus auf die Äußerlichkeit dieser Waschung hin und nimmt für die Jünger und sich ein Baden »in lebendigen Wassern« (Z. 43 f.) in Anspruch. Leider endet der Text an dieser Stelle. Gegenüber den kanonischen Evangelien ist P. Oxy. 840 weder literarisch abhängig noch unabhängig, sondern steht in einer Art »indirekter Abhängigkeit« von Lk 11,37–52; Mt 23,13–32; Joh 7,1–52; 13,10; Mk 7,1–23 (157–159.163). Mit Hinweis auf die umfangreiche Analyse der historischen Verhältnisse in seiner Dissertation tritt Kruger zwar selbst entschieden für einen judenchristlichen Hintergrund ein; andererseits betrachtet er die Frage der historischen Genauigkeit des Fragments als weiterhin diskutabel, »an open-ended question« (156). Demgegenüber wird das Fragment etwa von D. Tripp (ExpT 103, 1992, 237–239) und F. Bovon (JBL 119, 2000, 705–728) auf eine innerchristliche Auseinan­dersetzung hin zwischen (einem gnostisch verstandenen) Jesus und einer Mehrheitskirche (vertreten durch den Pharisäer) gedeutet, so jüngst auch A. Stewart-Sykes (ZNW 100 [2009], 278–286). Aufgrund verschiedener Indizien wie johanneisch-synoptische Kombination, Sotēr als mehrfache, zugleich einzige Bezeichnung für Jesus und eine genaue Kenntnis der Verhältnisse am Jerusalemer Tempel wird eine Entstehung des Textes in der Mitte des 2. Jh.s (oder auch später) erwogen; ähnlich zurückhaltend wird Syrien als Entstehungsregion ins Spiel gebracht.
Deutlich knapper vorgestellt (219–280) werden als Drittes die weitaus kürzeren Fragmente P. Vindob. G 2325 (Jesu Ankündigung der Verleugnung des Petrus, vgl. Mk 14,26 f.29 f.), P. Berol. 11710 (Jesus und Natanael, Jesus als Lamm, vgl. Joh 1,49 f.29), P. Cair. 10735 (ein Engel beauftragt Josef zur Flucht nach Ägypten, vgl. Mt 2,13), P. Mert. 51 (Pharisäer lehnen die Johannestaufe ab, vgl. Lk 7,29 f.36) und P. Oxy. 1224 (neue Lehre und neue Taufe, vgl. Mk 1,27).
Mit den »Fragments of an Unknown Gospel« (P. Egerton 2 mit P. Köln 225), dem »Fragment of an Uncanonical Gospel« (P. Oxy. 840) und fünf »Other Gospel Fragments« wurden überaus interessante Evangelienfragmente in einem handlichen, ansprechend gestalteten Auswahlband vereint. Je nach Fragment findet man eine Einleitung zur Fund- und bisherigen Forschungsgeschichte, eine Fragmentbeschreibung, den kritisch edierten Text, eine Übersetzung mit Anmerkungen, einen ausführlichen Kommentar nach dem aktuellen Stand der Erforschung sowie Fotos in Form von 15 Plates mit Schwarzweißbildern (nach S. 140 und 236). Die Bilder sind nicht maßstabsgerecht und teilweise vergrößert; ein Vergleichsmaßstab ist leider nur in wenigen Fällen beigegeben (Plates 9–11). Am Beginn des Buches finden sich Vorworte durch die Reihenherausgeber (V–XI) und die Herausgeber des Bandes (XIII f.), ferner Inhalts-, Abkürzungs- und Abbildungsverzeichnis (XV–XX) so­wie eine Einführung (1–8); am Ende stehen Indizes zu antiken Quellen und modernen Verfassern. Der Verzicht auf eine gemeinsame Bibliographie (außer in Kurzform: 6–8) bietet den Vorteil eines schnellen und präzisen Einstiegs in das Studium der einzelnen Texte. Damit liegt ein handliches Büchlein für Seminare, Vorlesungen, weitere Forschungen oder auch für die Hand von Studierenden vor. Es ist dicht geschrieben und wird einen festen Platz einnehmen in Studierzimmern und Bibliotheken.