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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

653-655

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bormann, Franz-Josef, u. Bernd Irlenborn [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft. Zur Rolle des Christentums in der pluralistischen Gesellschaft.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 388 S. 8° = Quaestiones disputatae, 228. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-451-02228-9.

Rezensent:

Christoph Seibert

Spätestens seit dem Entstehen von John Rawls’ politischer Philosophie bildet die Frage nach dem Verständnis des Verhältnisses zwischen Religion und der politischen Öffentlichkeit demokratisch or­ganisierter Gesellschaften das Thema eines international geführten Diskurses, der mittlerweile auch über rein akademische Fachinteressen hinausreicht. Blick man auf die im engeren Sinn aka­-demische Diskussion, ist es sehr erhellend zu sehen, dass etwa be­stimmte sozialethische Positionen religionsphilosophische oder theologische Implikationen besitzen sowie umgekehrt religionsphilosophische Erörterungen des Verhältnisses von Glauben und Vernunft auf bestimmte sozialethische Konsequenzen zulaufen. Es ist ein Verdienst des vorliegenden Sammelbandes, diese Perspektivenpluralität und -verschränkung in gedanklich weitgehend sehr anregenden und durchweg gut lesbaren Beiträgen dokumentiert zu haben. Die insgesamt 15 Artikel gehen auf ein Symposium zum Thema zurück, das an der Katholisch-Theologischen Fakultät Pa­derborn im Juni 2007 stattgefunden hat. Dabei soll es nicht unerwähnt bleiben, dass mehr als die Hälfte der Autoren selbst an einer Katholisch-Theologischen Fakultät ansässig ist. Dieser Befund kann, muss allerdings nicht zwingend als Indiz dafür gelesen werden, welche Bedeutung dieser Thematik innerhalb der katholischen Theologie zukommt.
Die bereits angezeigte Pluralität der Perspektiven kommt in der Gliederung des Sammelbandes deutlich zum Ausdruck: In einem ersten Teil werden geschichtlich-empirische Zugänge zum Thema erschlossen. Wie im Untertitel des Buches angekündigt, ist dabei die Beschäftigung mit dem Christentum leitend (Angen­endt, Gabriel, Pollack), es findet sich aber auch ein Artikel, der die Thematik aus dem Blickwinkel des Islams bedenkt (Wild). Der zweite Teil widmet sich religionsphilosophischen Fragen. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach dem rationalen Status religiöser Überzeugungen (Ricken, Schärtl, Irlenborn, Schmidt). Da­ran anschließend bearbeitet der umfangreichste dritte Teil des Buches die im engeren Sinn sozialethische Fragestellung, indem das Konzept öffentlicher Vernunft untersucht wird (Schockenhoff, Bormann, Striet, Grotefeld, Wolbert, Böckenförde, Honnefelder).
Was den ersten Teil angeht, so beschränke ich meine Darlegungen auf zwei kurze Notizen: Eine fürs Thema wichtige Pointe besteht zunächst darin, dass Gabriel – im Anschluss an Casanova – den Ort institutionalisierter Religion in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit sieht. Damit seien Chancen verbunden, Religion nicht in die Privatsphäre abdriften zu lassen, sondern für diskursive Praktiken offen zu halten, die auf eine öffentliche Auseinandersetzung um die Bedeutung religiöser Traditionen zielen (57 f.). Es stellt sich dann aber sogleich die weiterführende Frage, wie es unter empirischen Gesichtspunkten betrachtet um die öffentliche Be­deutung des Christentums angesichts einer fortwährenden Modernisierung der Gesellschaft bestellt ist. Während Gabriels Analysen in diesem Zusammenhang zu einer tendenziell positiven Einschätzung kommen, betont Pollack hingegen die Spannung, die zwischen Christentum und Moderne bestehe und die dazu führe, dass Modernisierungsprozesse auf die öffentliche Bedeutung von Religion »insgesamt einen eher negativen Einfluss« (90) hätten.
Der zweite Teil wird eröffnet mit einer Klärung des Begriffs der Religion in Anknüpfung an Wittgensteins Konzept der »Familienähnlichkeiten«. Daran schließt sich eine Analyse der von Hick, Tugendhat und Habermas verwendeten Religionsbegriffe an, wobei der zuletzt genannten Position ein deutlicher Vorzug gegenüber den beiden anderen eingeräumt wird (130). Den drei folgenden Beiträgen ist gemeinsam, dass sie in jeweils unterschiedlicher Form nach den Rationalitäts- und Rechtfertigungspotentialen religiöser Überzeugungen fragen. Zwei Schwerpunkte der Diskussion möchte ich hervorheben: (a) Ein Hauptakzent besteht darin, dass religiöse Überzeugungen in erster Linie kognitiv vertreten würden und damit einer epistemischen, öffentlichen Rechtfertigung zugänglich seien. Unter dieser Prämisse zielen Irlenborn und Schmidt dann darauf ab, in Anknüpfung an sprachphilosophische und diskursethische Überlegungen diese Eigenart religiöser Überzeugungen mit Blick auf die Situation intersubjektiver Rechtfer­tigung zu bestimmen. (b) Dabei kann freilich die Frage gestellt werden, ob religiöse Überzeugungen tatsächlich in erster Linie in kognitiver Absicht vertreten würden. Dieser Frage widmet sich Schärtl, indem er im Anschluss an den späten Wittgenstein auf die »Basalität« religiöser Überzeugungen »im Modus der Handlungsgewissheit« (139) hinweist. Der Vergleich mit den beiden anderen Beiträgen zeigt dabei, dass die Situation intersubjektiver Rechtfertigung gegenüber diesem elementaren Modus des Habens einer religiösen Überzeugung eine durchaus sehr spezielle Kommunikationssituation ist. Seine These kann daher so gelesen werden, dass ein hinreichendes Verständnis von der »rationalen Verantwortung für religiöse Überzeugungen« nur unter Berücksichtigung dieser basalen praktischen Vollzugsebene gewonnen werden kann.
Vor diesem Hintergrund leitet Schockenhoffs Bemühung um eine kritische Wiedergewinnung naturrechtlicher Denkfiguren den dritten Teil ein. Gelingt dieser Versuch – was nur unter der Voraussetzung einer Widerlegung des Vorwurfs der naturalistic fallacy möglich ist – zeige gerade Thomas’ lex-Traktat Optionen für eine gegenwärtige moraltheologisch begründete Idee diskursiver Öf­fentlichkeit, die sich von rein verfahrensethischen Ansätzen unter­-scheide. An diesen Beitrag schließen sich vier Artikel an, die aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlich kritischen Ak­zentsetzungen das Verhältnis von öffentlicher Vernunft und Re­ligion thematisieren. Es wundert dabei nicht, dass die Beschäftigung mit John Rawls’ und Jürgen Habermas’ Konzeptionen öffentlicher Vernunft im Zentrum steht. Allerdings fallen sowohl Kritik als auch affirmative Anknüpfung an diese Positionen jeweils unterschiedlich aus, tendenziell überwiegt jedoch die Unzufriedenheit mit den theoretischen Optionen, die solche liberale Konzeptionen bereitstellen (304 ff.). Darüber hinausgehende Möglichkeiten werden umrissen (298 ff.) oder mit Verweis auf andere Positionen angedeutet (266). Zu dieser Thematik gehört auch der m. E. schlecht platzierte letzte Beitrag des Sammelbandes hinzu. Denn hier wird in Zustimmung gegenüber Habermas’ Position konkret erprobt, welches »Potenzial« der Religion »im Blick auf die Fortschreibung des modernen Projektes der Ethik« (349) zukomme. Böckenfördes Erörterungen über den säkularen Staat ergänzen das Bisherige in zwei Hinsichten: Zum einen umreißen sie den historischen Horizont der Entwicklung des säkularen Staatsverständnisses. Zum anderen weist Böckenförde auf grundsätzliche Probleme hin, mit denen dieser Staat im 21. Jh. konfrontiert ist. Eine der in diesem Zusammenhang wohl zentralsten, aber auch provokantesten Thesen besteht darin, dass der säkulare Staat das ihn tragende Ethos selbst schaffen müsse: Es bestehe in einem »Ethos der Gesetzlichkeit« (342).
Im Ganzen gesehen hält der Sammelband das, was er verspricht. Er erörtert die im Titel angezeigte Thematik in verschiedenen Perspektiven und macht dabei auf deren innere Verschränktheit aufmerksam. Auffällig ist jedoch der eng gewählte Bezugsrahmen mancher Beiträge des zweiten und dritten Teils. Das zeigt sich vor allem an der behandelten Literatur. Neben mehr oder weniger zentralen Verweisen auf »klassische« Autoren stehen nämlich überwiegend Autoren aus der aktuellen nordamerikanischen Debatte im Vordergrund. Angesichts der Tatsache, dass die Thematik gerade in diesem Kontext sehr engagiert erörtert wird, ist diese Konzentration sachlich zwar durchaus angemessen. Dabei besteht allerdings die Gefahr, Engführungen mitzuschleifen, unter denen jene Debatte selbst leidet. Ich nenne nur zwei: einmal die tendenzielle Nachlässigkeit gegenüber einer geschichtlich orientierten Be­trachtungsweise; ein andermal die maßgebliche Behandlung der religiösen Thematik unter dem Gesichtspunkt, dass religiöse Überzeugungen in erster Linie kognitiv zu »vertreten« (176) seien. Das dürfte allerdings nur unter bestimmten Bedingungen der Fall sein. Es fragt sich somit, ob bei Änderung dieses Gesichtspunktes nicht die Behandlung der gesamten Thematik einen anderen Fokus bekäme. Unbeschadet dieser Bemerkungen steht allerdings fest: Wer sich mit dem Thema auseinandersetzen möchte, dem sei die Lektüre dieses Buches ernsthaft empfohlen.