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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

627-628

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Avis, Paul

Titel/Untertitel:

Beyond the Reformation? Authority, Primacy and Unity in the Conciliar Tradition.

Verlag:

London-New York: T & T Clark (Continuum) 2006. IX, 234 S. gr.8°. Lw. £ 80,00. ISBN 978-0-567-08399-9.

Rezensent:

Gottfried Wilhelm Locher

»The book is a study of authority in the Christian church« (XI): Paul Avis, Generalsekretär des Rates für Christliche Einheit der Church of England und prominenter anglikanischer Ökumeniker, legt eine Studie des Konziliarismus des 14./15. Jh.s vor. Er untersucht Entstehung, Entwicklung und Wirkungsgeschichte jener großen Re­formbewegung der Kirche, in deren Verlauf es zur Neuverteilung oberster kirchlicher Autorität zwischen dem Stellvertreter Petri und ökumenischen Konzilen kam.
A. referiert zunächst die Entstehung monarchischer Autorität, von der Identifizierung des Bischofs von Rom mit Petrus durch LeoI. (440–461) bis zur Bulle Unam Sanctam (1302) des Bonifatius VIII. (1294–1303). Gewissermaßen als Gegenbewegung stellt er dann Vorläufer des Konziliarismus vor (Johannes von Paris, Dante Alighieri, Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham). Deren konziliares Grundanliegen sieht A. schon im Römischen Recht verankert: ut quod omnes similiter tangit, ab omnibus comprobetur. Überraschend findet Thomas von Aquins (ca. 1225–74) Naturrechtslehre Erwähnung; als Prüfstein allen positiven Rechts trage das Naturrecht ein Potential zur Widerlegung persönlicher Machtansprüche in sich. Ausführlicher fällt die Beschreibung des Großen Abendländischen Schismas (vom Tod Gregors XI. 1378 bis zum Dekret Haec Sancta des Konzils von Konstanz 1415) aus, jener Epoche der Kirchengeschichte, in deren Verlauf zwei (zeitweise drei) Päpste gleichzeitig oberste Autorität für sich reklamierten. Im Anschluss an die Wiedervereinigung der Kirche durch das Konzil von Konstanz stellt A. eine »Verdunkelung« (eclipse, 91) des Konziliarismus fest, insbesondere nach dem Konzil von Basel (1431–49). Eine bedeutende Rolle spiele dabei Nikolaus von Kues (1401–64), der sich im Verlauf des Konzils vom Verfechter konziliaren Gedankenguts zum Anwalt päpstlicher plenitudo potestatis gewandelt habe.
Ein zweiter Teil der Studie widmet sich den Auswirkungen des Konziliarismus auf die reformatorische, anglikanische und rö­misch-katholische Tradition. A. stellt Bezüge zwischen Konziliarismus, Naturrecht und theologischen Positionen einzelner Reformatoren dar, wobei er im kontinentaleuropäischen Kontext Martin Luther (1483–1546), im englischen Richard Hooker (1554–1600) etwas ausführlicher behandelt. Fazit: »The Reformers, continental or English, were not pure conciliarists.« (141) Die Darstellung des 1. Vatikanischen Konzils (1869–70) und der Differenzierung des päpstlichen Primatsanspruches im 2. Vatikanischen Konzil (1962–65) zeigt auf, wie komplex sich das Verhältnis zwischen den Autoritäten des Oberhirten, des Bischofs von Rom und des ganzen Bischofskollegiums gestaltet. A. stellt die Alternativen des anglikanischen und orthodoxen Verständnisses konziliar gestalteter Katholizität vor. Diese stimmen darin überein, dass universale Jurisdiktionsgewalt nicht dem Petrusamt, sondern allein ökumenischen Konzilen zusteht. Überhaupt sieht A. das Anliegen der Konziliaren Bewegung am ehesten im Anglikanismus und in der östlichen Orthodoxie verwirklicht. Der Schlussteil erhebt dann den Grundgedanken des Konziliarismus (»the belief that responsibility for the well-being [the doctrine, worship and mission] of the church rests with the whole Church« [184]) zum unverzichtbaren Desiderat kirchlicher Einheit.
Die doppelte, sowohl historische als auch ökumenisch-ekklesiologische Perspektive macht einerseits den Reiz dieser breit angelegten Studie aus. Über Jahrhunderte und Konfessionen hinweg werden Primatsansprüche, Konzilsmodelle und Einheitskonzeptionen miteinander in Beziehung gesetzt. Die Typologie kirchlicher Autoritätsstrukturen wird dadurch zu einer – in dieser Perspektive neuen – Gesamtschau des Konziliarismus. Diese ist weniger historisch bzw. kirchenrechtlich angelegt (wie noch die wichtige frühere Studie von Brian Tierney, Foundations of the Conciliar Theory, Cambridge: Cambridge University Press 1955). Vielmehr ist sie ekklesiologischer Natur, indem sie nach theologisch verantwortbaren Strukturen von Katholizität fragt.
Die inhaltliche Weite der Studie wirft andererseits aber auch die Frage auf, inwiefern ihr ökumenischer Anspruch durch den theologischen Befund tatsächlich gedeckt ist. (Z. B. würde eine breitere Berücksichtigung thomistischer Theologie die Zuordnung von positivem Recht und päpstlichem Primatsanspruch möglicherweise etwas korrigieren [42], wodurch sich der Aquinate weniger klar als Anwalt konziliarer Autorität darstellen ließe.) Vor allem drängt sich auf, eingehender nach der Bedeutung des Amts- und Ordinationbegriffes für das Verständnis von Konziliarität zu fragen. Denn von einem Grundkonsens über das Wesen und die Zuordnung personaler und synodaler Episkopé hängt der Konsens über das Verhältnis vom Primat und Konzil ab. Ob also der Konziliarismus tatsächlich als gesamtkirchliches, auch den Protestantismus betreffendes Paradigma gelten kann, zeigt sich möglicherweise erst anhand der Amtsfrage. Die erhellende Studie von A. regt zu solcher Weiterarbeit an.